Heute vor 260 Jahren ist in einer englischen Zeitung die erste Kolumne erschienen. Der Verfasser zeichnete mit The Inspector. Aber die Leser des London Advertiser and Literary Gazette wussten schon, dass sich der Botaniker Sir John Hill hinter diesem Pseudonym verbarg. England ist das Mutterland der freien Presse, manche der im 18. Jahrhundert begründeten Zeitungen erscheinen heute immer noch. Wie zum Beispiel die Times oder der Observer (der Guardian ist einige Jahrzehnte jünger als diese beiden). Natürlich gibt es auch in anderen Ländern Druckerzeugnisse, aber dort gibt es auch eine Zensur. In England gibt es keine Zensur mehr seit das Parlament sich 1695 geweigert hat, den Licensing of the Press Act von 1662 neu zu ratifizieren. Na ja, es gibt so gut wie keine Zensur. Wenn man in London ein Theaterstück aufführen will, muss man es dem Lord Chamberlain vorlegen. Der ist seit 1737 dafür verantwortlich. Bis zum Jahre 1968. In den Jahren davor hatte der Lord Chamberlain von seinem Zensurrecht noch Gebrauch gemacht, Edward Bond und die Produzenten des Musicals Hair haben das noch zu spüren bekommen.
Es ist nicht nur die Pressefreiheit, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts für ein beinahe explosionsmäßiges Anwachsen der Printmedien sorgt. Das große Schlagwort für das England des 18. Jahrhunderts heißt literacy, Lesefähigkeit. Die ist, wenn man den Zahlen trauen darf, in den Jahren von 1715 bis 1750 von 15 auf 45 Prozent angewachsen. Bei uns, dem Volk der Dichter und der Denker, ist sie wieder im Sinken, wie die PISA Erhebungen zeigen.
In dieser Größenordnung liegt auch die London Gazette, die offizielle Nachrichten und Verlautbarungen druckt. Über die Zahl der verkauften Zeitschriften sind wir verhältnismäßig gut informiert, da es seit 1712 eine Stempelsteuer für jede gedruckte Zeitung gibt. Da hätten sich die Amerikaner nicht so anstellen sollen. Machen gleich eine Revolution, nur weil der Stamp Act jetzt auch bei ihnen gelten soll. Zeitungen sind - wegen der Steuer, die erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts wegfällt - verhältnismäßig teuer. Aber sie werden natürlich immer von mehreren gelesen. Besonders in den neuen Kaffeehäusern, den neuen Zentren des intellektuellen Lebens. Im Jahre 1783 werden in England 14 Millionen Zeitungen verkauft. Damit hat sich die Zahl der verkauften Zeitungen seit dem Jahr, in dem John Hill mit seiner täglichen Kolumne beginnt, verdoppelt.
Die Zeitschriften verändern die Gesellschaft, sie werden häufig mit einem Programm gegründet. So Addisons und Steeles berühmter Spectator, der das Ziel verfolgt to enliven morality with wit, and to temper wit with morality... to bring philosophy out of the closets and libraries, schools and colleges, to dwell in clubs and assemblies, at tea-tables and coffeehouses. Die news werden mit Bildung kombiniert. Und in dieser Zeit verwischen sich auch die Grenzen zwischen Journalist und Schriftsteller. Defoe, Addison, Steele, Fielding, Boswell und Swift, um nur einige zu nennen, sind auch Journalisten gewesen. Und selbst die Vorzeigefigur des literarischen Klassizismus, Alexander Pope, ist sich nicht zu schade, in seiner Dunciad die journalistische Szene zu attackieren. War vielleicht ein Fehler von ihm: it bore bitter fruit. It brought the poet in his own time the hostility of its victims and their sympathizers, who pursued him implacably from then on with a few damaging truths and a host of slanders and lies. Man muss in den literarischen Kämpfen der Zeit schon ein gewisses Stehvermögen haben. Und man muss natürlich gebildet sein und eine eigene Meinung haben, um eine tägliche Kolumne zu schreiben. Seien wir ehrlich: Jemand wie Franz Josef Wagner hätte da als Kolumnist keine Woche überlebt.
Hill, über den Dr Johnson einmal an ingenious man, but had no veracity gesagt hat, schreibt seine skurrile und häufig provokative Kolumne gerade mal ein Jahr, da gibt es in London auch schon einen richtigen Pressekrieg, den Paper War of 1752-1753. Hill hat genügend Feinde im literarischen London. Dr Johnson hält ihn für einen Quacksalber. Der Schauspieler David Garrick attackiert ihn mit dem Epigramm For Physic and Farces his equal there scarce is; His Farces are physic, his Physic a Farce is, und Christopher Smart schreibt ein ganzes Spottgedicht, The Hilliad. Pressekriege, Journalisten und Schriftsteller, die sich befehden - da fehlt uns heute etwas. Es ist in der englischen Presselandschaft nicht alles auf einem hohen Niveau. Die Spaltung des Marktes in quality papers und tabloids, die wir heute haben, ist im 18. Jahrhundert schon angelegt. Die gutter press mit ihren hack writers aus der Grub Street floriert damals auch schon. Da hätte Franz Josef Wagner doch noch Chancen gehabt.
Alexander Pope sah in seiner Dunciad, diesem mock heroic poem, am Ende buchstäblich schwarz für die Kultur:
Art after Art goes out, and all is Night.
See skulking Truth to her old cavern fled,
Mountains of Casuistry heap'd o'er her head!
Philosophy, that lean'd on Heav'n before,
Shrinks to her second cause, and is no more.
Physic of Metaphysic begs defence,
And Metaphysic calls for aid on Sense !
See Mystery to Mathematics fly!
In vain! they gaze, turn giddy, rave, and die.
Religion blushing veils her sacred fires,
And unawares Morality expires.
Nor public Flame, nor private , dares to shine;
Nor human Spark is left, nor Glimpse divine !
Lo! thy dread Empire, Chaos! is restor'd;
Light dies before thy uncreating word:
Thy hand, great Anarch! lets the curtain fall;
And universal Darkness buries All.
Nur gut, dass er die Bild Zeitung nicht mehr erlebt hat.
Die Illustrationen im Text sind von Thomas Rowlandson. Die Zahlen habe ich Richard D. Altick The English Common Reader: A Social History of the Mass Reading Public und John Brewer The Pleasures of the Imagination: English Culture in the Eighteenth Century entnommen.
Die Illustrationen im Text sind von Thomas Rowlandson. Die Zahlen habe ich Richard D. Altick The English Common Reader: A Social History of the Mass Reading Public und John Brewer The Pleasures of the Imagination: English Culture in the Eighteenth Century entnommen.
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