Dienstag, 9. April 2019

Verirrte Sterne


Es war einmal ein Land. Plötzlich verschwand es. Aber es verschwand nur auf der Karte. In den Köpfen, in den Gewohnheiten, die man sich so zugelegt hatte, lebte es weiter, hat Lutz Rathenow (auf dem Photo rechts) nach der Wende geschrieben. Er ist in der DDR aufgewachsen, er weiß, wovon er redet. Nach dem Abitur war er bei der NVA und bewachte die deutsch-deutsche Grenze. Er war nicht gerne Soldat: ich hasste einen Offizier, meinen Zugführer, einen Leutnant, der dann zum Oberleutnant befördert wurde, der mich immer schikanierte mit Toilettereinigen, mit der sechsmonatigen Ausgangssperre und der sich nachts gerne anschlich, um die Wachen zu kontrollieren.

Nach dem Dienst an der Fahne studierte er Germanistik, was ihm aber 1977 nur die Exmatrikulation und einen Gefängnisaufenthalt bescherte (In der Zelle dachte ich oft an das Draußen... schreibt er in Der Rest des Lebens). Verhaftet und verhört wird er häufiger, es soll 15.000 Seiten Stasi-Akten über ihn geben. Man bietet ihm die Ausreise in den Westen an, er lehnt ab, er ist ein Stachel im Fleisch des Staates. Heute ist der Dichter Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, das ist eine schöne Ironie. Seine germanistische Examensarbeit hat ihm die Universität Jena nachträglich anerkannt.

Sein Gedichtband Verirrte Sterne: oder Wenn alles wieder mal ganz anders kommt mit Illustrationen von Ulrich Tarlatt erschien 1994 beim Merlin Verlag. Es ist ein wirklich schön gemachtes Buch, das den Weg des Lyrikers Rathenow illustriert. Leider scheint niemand es zu lesen, man kann es bei Amazon Marketplace für 98 Cent bekommen. Lohnt sich unbedingt, auch für teurer. In dem Buch findet sich ein Gedicht mit dem Titel Zwischenbilanz. Das Gedicht hat einen Untertitel: oder Gesamtausgabe, Minimalvariante, dem hastigen Leser gewidmet. Das ist ganz wörtlich zu nehmen. Das Gedicht irritiert sicherlich:

Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet. 
Zangengeburt. Boden 411. Der Wolf und die 
widerspenstigen Geißlein. Ein seltsamer Zoo. 
Tiger im Hochhaus. Floh Dickbauch. 
Eine Ameise spazierte. Ostberlin - 
die andere Seite einer Stadt. Tag der Wunder. 
Jeder verschwindet so gut er kann. Sterne 
jonglieren. Im Lande des Kohls. Zärtlich 
kreist die Faust. Und sie liebten sich 
heftiger denn je. Oder was schwimmt da 
im Auge. Die lautere Bosheit. Alles Theater. 
Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet.

Es gibt eine Interpretationshilfe: alles, was hier steht, sind Buchtitel von Lutz Rathenow.

In seinem Gedicht, dass Das zweite im Westen geschriebene Gedicht heißt, kommt der Dichter uns englisch daher:

It is time to dreaming, 
my first poem in English - 
worauf es vor allem ankommt: 
originelle Fehler machen, Punkt. 
This airport atmet den Duft Europas. 
(Im Halbschlaf zweier Sprachen 
gelangen mir zwei, drei Gedichte 
in einem Englisch, das ich nicht kenne). 
Dann wurde ich aufgerufen 
und flog in mein Nochland zurück. 
(Immer wurden wir aufgerufen . . .) 
Ich gebe mir Mühe, verdächtig zu sein. 
Die Unauffälligen werden als Täter entlarvt.

Er hatte keinen so guten Englischlehrer, wie Uwe Johnson ihn hatte. Es ist die Musik aus dem Westen, die ihn zum Dissidenten gemacht hat, der Europawelle Saar und Manfred Sexauers Beat Club ist er immer noch dankbar. Ich habe mir für den heutigen Tag ein frühes Gedicht ausgesucht, das Am Strand heißt, nichts Politisches, ein Liebesgedicht. Auch so etwas konnte man in der DDR schreiben:

Heiß liegt der Tag auf meinen Lippen, 
am Abend noch, wenn sich unsere Hände 
begegnen. Die Tintenfische mühen sich ab, 
damit das Meer blau bleibt, so blau. 

Das Öl sehe ich nicht, rieche es kaum, 
da du meine Nase besetzt. Jeder des anderen 
Kleid. Den Tanz begleiten zerfließende Schatten. Schwarz ist die Nacht 

nur für Schläfer. Zwei Vögel, die ihren 
Körper von der Erde heben, schweben reglos, 
reglos da oben. Flügel teilen den Wind. 

Meine Finger nisten in deinem Haar. 
Das streichelt und wärmet den Sand.

Wenn Ihnen jetzt nach noch mehr Strand ist, dann klicken Sie die Posts Strände und ythlaf an.

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