Samstag, 20. September 2025

Krieg und Frieden: Verfilmungen

Als ich den Post Borodino schrieb, habe ich Teile von Tolstois Krieg und Frieden noch einmal gelesen. Danach habe ich den Schuber der zweibändigen dtv-Ausgabe mit Tesa verklebt, er hatte in den letzten drei Jahren doch etwas gelitten. Es war ein Fehler, die Paperback Ausgabe zu kaufen, aber ich musste ja unbedingt die preisgünstigste Übersetzung von Barbara Conrad haben. Der zweite Band war bei der Lektüre mehr beansprucht worden als der erste, das liegt daran, dass da noch hundert Seiten Nachwort, Verzeichnis der historischen Akteure, Personen des Romans und Anmerkungen drin sind. So etwas lese ich immer zuerst, das ist eine déformation professionnelle. Mit der Übersetzung von Barbara Conrad liegt seit 2011 wohl die beste deutsche Übersetzung des Romans vor. Die schlechteste möchte ich an dieser Stelle nicht unterschlagen. Die hat den Untertitel Aus dem Russischen übertragen und zeitgemäß bearbeitet und hat eine Länge von 752 Seiten. In der Übersetzung von Barbara Conrad hat der Roman 2.228 Seiten. Die Frau, die dieses zeitgemäß bearbeitete Machwerk auf dem Gewissen hat, heißt Hertha Lorenz. In dem Post Anna Karenina: Übersetzungen (der schon mehr als 5.000 Leser hat) wird einiges über ihre Übersetzungen gesagt.

Ein oben und unten der Qualität findet sich auch bei den Verfilmungen von Tolstois Roman, die es seit über hundert Jahren gegeben hat. Hier können wir Napoleon Bonaparte sehen, der gerade mit einer Generalstabskarte plant, Russland zu überfallen. Das Bild stammt aus Wladimir Gardins Film Война и мир aus dem Jahre 1915. 

Von diesem Pionier des russischen Kinos gibt es eine Vielzahl von Filmen und Filmchen im Internet zu sehen, leider sind seine Filme Anna Karenina und Krieg und Frieden nicht dabei. Wir wissen aber, dass Pierre Besuchow im Jahre 1915 so ausgesehen hat wie der bebrillte Herr links. Wenn Sie einmal sehen wollen, was dieser Regisseur künstlerisch alles konnte, empfehle ich Ihnen den Film Ein Gespenst geht um in Europa. Hat nichts mit Karl Marx zu tun.

Die nächste Verfilmung von Krieg und Frieden kam 1956 aus Hollywood. Es war die Geschichte von einem Mädchen, das einen Typ liebt und einen dritten heiratet, wie  Daniel Pennac das so schön in seinem Buch Comme Un Roman gesagt hat. Ein glamouröses Starvehikel für drei Schauspieler. Ein Muss für Fans von Audrey Hepburn (und Anita Ekberg), viel mehr auch nicht. Wenn Sie noch einmal in den Film hineinschauen möchten, ich habe Krieg und Frieden hier in ganzer Länge. Hollis Alpert schrieb im Saturday Review in seiner Rezension Tolstoy in VistaVision: it is only intermittently interesting and that aside from making a sort of pictorial sour-mash of the original work it is not particularly good movie-making.

Die dritte Verfilmung kam zehn Jahre später, ein →Monumentalfilm in vier Teilen, der insgesamt 432 Minuten lang war. Und vielleicht der teuerste Film aller Zeiten war. Geld spielte bei den Dreharbeiten keine Rolle, der russische Staat wollte Hollywood nicht dieses Thema überlassen. Ein überwältigend einzigartiger Film. Das größte Epos aller Zeiten. Etwas Vergleichbares werdet ihr nie wieder sehen, schrieb der Filmkritiker Roger Ebert. In der Welt konnte man 1968 lesen: Akribische Detailfreudigkeit, die malerische Behandlung und farbige Delikatesse eines sorgfältigen abgestuften Kolorits, die ruhige Schönheit großflächiger Landschaftsaufnahmen, die exzellente Kameraführung, die zuweilen mit einer optischen Kühnheit operiert, wie man sie bisher noch nie in Filmen dieses Genres gesehen hatte. Aber der Film brauchte lange, um wirklich bekannt zu werden. Die Mosfilm besaß nicht Hollywoods Vertriebssystem, um außerhalb des Ostblocks einen Film erfolgreich in die Kinos zu bringen. Selbst wenn der Film einen Oscar als bester ausländischer Film bekommen hatte. Aber in der DDR fand Krieg und Frieden 2.225.649 Zuschauer.

Der Film, der in jahrelanger ✺Arbeit entstanden war (der dritte und der vierte Teil des Films hatten erst 1967 Premiere), blieb im Westen erst einmal ein Geheimtip für Cinéasten. Das änderte sich aber, als er im westdeutschen Fernsehen gesendet wurde und zwei verschiedene Versionen des Films als DVDs auf den Markt kamen. 2006 erschien bei einer Firma namens Icestorm Entertainment der Film in der DEFA Synchronisation, aber ohne russische Originaltonspur. Die gab es erst 2021 bei der überarbeiteten Version der Firma Bildstörung.

Der Regisseur Sergei Bondartschuk, der selbst die Rolle des Pierre Besuchow übernahm, hatte keine Audrey Hepburn. Seine Natascha hieß Lyudmila Savelyeva, sie kam vom Sankt Petersburger Ballett und hatte noch nie vor der Kamera gestanden. Und doch war sie im Film überzeugend. Und sie konnte natürlich gut tanzen, dafür widmete ihr Bondartschuk eine große Szene. Sie können das alles überprüfen, ich habe den ganzen Film hier in vier Teilen in HD-Qualität. Eine Division russischer Soldaten wirkte als Komparsen mit und spielte französische und russische Soldaten. 

Beinahe zweitausend Textilfabriken nähten Kostüme und Uniformen. Da sich die Uniformen der russischen Armee zwischen der Schlacht von Austerlitz und der Schlacht von Borodino geändert hatten, mussten manche Komparsen (das betraf vor allem die Offiziere) zweimal eingekleidet werden. Bei den Dreharbeiten zur Schlacht von Borodino hatte Bondartschuk seinen ersten Herzanfall und musste wiederbelebt werden. Auch den zweiten Herzanfall während der Dreharbeiten überlebte er und drehte vier Jahre später Waterloo. Mit einem Staraufgebot, aber ohne die künstlerische Brillanz und der optischen Kühnheit von Krieg und Frieden. Wenn es in diesem Film wirklich gute Kameraeinstellungen gab, dann waren das Wiederholungen aus Война и мир.

Bondartschuk hat das Drehbuch zu Krieg und Frieden selbst geschrieben. Und obwohl er beinahe sieben Stunden zur Verfügung hat, streicht er viel von Tolstois Text. Manches fordert im Roman geradezu heraus, gestrichen zu werden: die langen Passagen, die von Pierre Besuchows Karriere bei den Freimaurern erzählen, fielen als erstes dem Rotstift zum Opfer. Ich habe sie zwar knurrend gelesen, hätte sie aber schon beim Lesen gerne gestrichen. Auf irgendetwas muss man immer verzichten, es gibt bei Literaturverfilmungen keine 1:1 Kopien.

1972 kam Tolstois Roman →Krieg und Frieden als 20-teiliger Fernsehfilm von der BBC. Das Drehbuch schrieb →Jack Pulman, der für die BBC schon die Drehbücher für I, Claudius, The Portrait of a Lady, Jane Eyre, Crime and Punishment und David Copperfield geschrieben hatte. Man muss ihm lassen, dass er wirklich etwas von seinem Handwerk verstand, das war nicht bei allen Drehbuchautoren von Krieg und Frieden Verfilmungen der Fall. Anthony Hopkins spielte den Pierre Besuchow und Morag Hood war Natascha. Ich kann mich noch gut an den Film erinnern, denn ich habe beinahe alle Episoden im Fernsehen gesehen, da ARD und die Dritten Programme die Folgen sendeten. Es war für mich allerdings ein Schwarzweißfilm, da ich keinen Farbfernseher besaß. 

Und obgleich ich den Roman immer noch nicht gelesen hatte, ahnte ich damals, dass dies eine der textgetreuesten Literaturverfilmungen war. Der Filmwissenschaftler James Monaco bezeichnete die BBC Serie in seinem Buch How to Read a Film summarisch als easily the best adaption of that classic in any medium. Und er sagt das am Anfang seines Buches noch etwas genauer: Of all the screen versions of 'War and Peace', for example, the most successful seems to me to have been the BBC's twenty-part serialization of the early 1970s; not necessarily because the acting or direction was better than the two- or six-hour film versions (although that is arguable), but only the serial could reproduce the essential quality of the saga - duration. 

Nach beinahe einem halben Jahrhundert sind jetzt alle Teile der BBC Serie im Netz zu sehen (seit 2005 gibt es die Serie als DVD). Wenn Sie den ersten Teil hier anklicken, bekommen Sie die ersten vier Episoden. Und auf der Seite können Sie auch noch die Links zu den Episoden fünf bis zwanzig anklicken. Die Fernsehserie hält sich ziemlich genau an den Roman. Wenn man Ende, vor dem Epilog (ab 2:00:00), der Zar den knienden Kutusow aufhebt, ihn auf die Wangen küsst und ihm den Georgsorden verleiht, dann steht das etwas anders im Buch: Am anderen Tage fand beim Feldmarschall ein Diner und Ball statt, an welchem der Kaiser teilnahm. Kutusow erhielt den Georgenorden erster Klasse, und der Kaiser erwies ihm hohe Ehren, aber alle wußten, daß der Kaiser mit dem Feldmarschall unzufrieden war. Als Kutusow auf dem Ball nach alter Gewohnheit aus der Zeit Katharinas beim Eintritt des Kaisers in den großen Saal ihm die eroberten Fahnen zu Füßen legen ließ, verfinsterte sich die Miene des Kaisers, und einige hörten seine Bemerkung: 'Alter Komödiant!' 

Das sagt er im Film nicht, aber in der nächsten Szene wird das überdeutlich ins Bild gebracht, was im Roman steht: Die Unzufriedenheit des Kaisers mit Kutusow stieg in Wilna besonders deshalb, weil Kutusow die Bedeutung des bevorstehenden Feldzugs nicht begreifen konnte oder wollte. Als der Kaiser am folgenden Morgen den um ihn versammelten Offizieren sagte: »Sie haben nicht nur Rußland, sondern auch Europa gerettet«, begriffen alle, daß der Krieg noch nicht zu Ende sei. Nur Kutusow wollte das nicht begreifen und sprach offen seine Meinung aus, der neue Krieg könne Rußland keinen Vorteil bringen und seinen Ruhm nicht erhöhen. Er versuchte, dem Kaiser die Unmöglichkeit zu beweisen, neue Truppen auszuheben, und sprach von dem schweren Druck, der auf dem Volk laste, von der Möglichkeit eines Mißerfolgs und so weiter. Um den Alten zu schonen, übernahm der Kaiser selbst den Oberbefehl. Einige Veränderungen fanden im Generalstab statt.

Die 400-minütige Fernsehfassung des ZDF, die ich schon in dem Post Krieg und Frieden erwähnte, lasse ich lieber weg. Der Spiegel wusste damals zu sagen: Sie [die Schauspieler] alle aber können nicht überspielen, dass Tolstois Gefühlswirren vor historischem Hintergrund im wohltemperierten Euro-TV-Format doch ab und an nach Rosamunde Pilcher aussehen ... Wer die ganze dramatische Wucht des ausladenden Epos ermessen und in die viel beschworene Seele 'des heiligen Mütterchens Russland' blicken will, der muss wohl weiter auf die monumentale Kinoversion von Sergej Bondartschuk zurückgreifen – oder eben den Roman zur Hand nehmen. Der Film kostet bei Amazon als DVD 4,76€, der Preis sagt schon viel über die Qualität.

Aus irgendeinem unerfindlichen Grund muss Krieg und Frieden immer wieder neu verfilmt werden. Die neueste Fernsehversion kam 2016 von der BBC in Zusammenarbeit mit The Weinstein Company. Dazu könnte man strange bedfellows sagen, denn diese Gesellschaft gehörte niemand anderem als Harvey Weinstein. Der Drehbuchautor Andrew Davies hatte vorher die Drehbücher für zwei Bridget Jones Filme und die schlechteste Version von The Three Musketeers geschrieben. Es wird immer Leute geben, die sagen, dass man an der Vorlage kein einziges Wort verändern dürfe. Ich glaube aber: Wenn Tolstoi meine Fassung lesen könnte, dann würde er sagen, dass man das sogar noch kürzer hätte machen können, hat Davies gesagt. Ich glaube, dass Tolstoi etwas ganz anderes gesagt hätte. 

Mehr Frieden als Krieg betitelte die Süddeutsche ihre Besprechung der sechsteiligen Serie, die in ihrer Länge an Bondartschuks Film herankam. Aber künstlerisch und filmisch nicht das zu bieten hatte, was Bondartschuk mit optischer Kühnheit bot. Oder etwas, was Karen Schachnasarow mit seiner Version von ✺Anna Karenina 2017 mit Elizaveta Boyarskaya als Anna Karenina zeigte. Sie können hier die erste Folge der ersten Staffel von War and Peace sehen (alle anderen Folgen sind auch bei Dailymotion), immer wieder unterbrochen durch Werbespots. Das fällt nicht weiter auf, weil der Film auch die Ästhetik des Werbespots und der Soap Opera hat. Bei Amazon bekommt man das Ganze für 13 Euro ohne Werbespots. I’m hoping viewers will fall in love with War & Peace in the same way that I did, hat der Drehbuchautor in einem Interview gesagt. Dort kann man auch lesen: Occasionally I have written one or two things that Tolstoy forgot to write

Das Ganze wirkt manchmal wie eine Jane Austen Verfilmung, was wohl kein Zufall ist, denn mit Pride and Prejudice hatte Davies 1995 den größten Erfolg seiner Karriere. Ich habe mir einige Folgen angesehen und weiß jetzt, dass Pierre Besuchow aussieht wie Harry Potter, und Natascha vorher Disneys Cinderella war. Und dass Chief Superintendent Jean Innocent aus der Lewis Saga jetzt die intrigante Fürstin Anna Mikhaylovna Drubetskaya ist. Aber vierhundert Minuten von dem Film, der sicherlich auch zeitgemäß bearbeitet ist, könnte ich mir nicht antun. Dann lieber den Westernhelden Henry Fonda als Pierre Besuchow und die Rehaugen von Audrey Hepburn.

Mittwoch, 17. September 2025

Joachim Körnig ✝


Als ich ihn kennenlernte, fuhr er ein BMW Cabrio und hatte eine Omega Speedmaster am Arm. Der BMW ist über die Jahrzehnte einem soliden Mittelklassewagen gewichen. Die Speedmaster ist ihm mal im Badezimmer auf die Fliesen gefallen, das überlebt auch die Moonwatch nicht. Aber er nahm den Verlust philosophisch. Als ich ihm Que reste t´íl de nos amours vorbeischickte, schrieb er mir: Gerade habe ich Que reste t´íl de nos amours, gespielt von Jacky Terrasson, gehört. Amours gibt es ja noch, und doch anders als früher. Solchen Gedanken darf man sich aber nicht überlassen. Wie sprach schon Epiktet: 'Wünsche nicht, dass geschieht, was Du wünschst, sondern wünsche, das geschieht, was geschieht!' Die Buddhisten sagen mit ihrem Gebot des Loslassens im Kern ja nicht zufällig Gleiches. Ich habe ihn letztens gefragt, ob er noch an einer alten Speedmaster oder einer Omega Seamaster 300 interessiert sei. Denn ich kannte jemanden, der sich von diesen Klassikern trennen wollte. Aber er sagte mir, er brauche überhaupt keine Uhren mehr, er sei schwer krank und hätte nicht mehr viel länger zu leben. Ich dachte erst, er würde ein wenig übertreiben, aber es war todernst gemeint. Er ist am 30. August im Alter von achtundsiebzig Jahren gestorben.

Der Rechtsanwalt Dietrich von Boetticher hat für seinen Weggefährten und Freund eine Traueranzeige in die Süddeutsche gestellt. Der Zeitung war Achim Körnig sehr verbunden, weil er mal eine Zeitlang einer der Autoren der Glosse Streiflicht war. Wenn man die Posts in seinem Blog Nachtgazette liest, dann ist vieles davon nicht so weit entfernt vom Streiflicht. Denn die 'Nachtgazette' ist eine Internet-Zeitschrift, die jenseits der Hektik des Alltagsgeschehens Strukturen des menschlichen Tuns und Seins aufzeigen will. Da ersteres zu Lasten des letzteren traditionell eher wirr erscheint, werden Humor, Satire und Karikatur dabei nicht zu kurz kommen. Am 29. Juni 2025 konnte man in seinem Blog lesen: Die seit 2007 bestehende NACHTGAZETTE wird aufgrund bevorstehenden Ungemachs für ihren Herausgeber, Chefredakteur usw. leider vermutlich bald eingestellt werden. Das mit dem bevorstehenden Ungemach verriet Unheil, aber der Blogger und Karikaturist arbeitete immer noch an einem Buch, in dem die besten Posts des Blogs erscheinen sollten. Vielleicht führt seine Familie ja diese Arbeit fort.

Das einzige Photo von Dr Joachim Körnig im Internet ist dieses hier, das ihn mit einem 1,30 großen Hecht im Dieksee stehend zeigt. Den Dieksee hatte er direkt vor der Tür seines schönen kleinen weißen Hauses, in das der Architekt viele Stilelemente von Palladio eingebracht hatte. Achim Körnig war ein leidenschaftlicher Angler. Und Schwimmer, da hätte er die Seamaster 300 gut tragen können. Aber er schrieb mir: Heute trage ich schnöderweise die weiter abgebildete chinesische Addiesdive, die ein durchaus taugliches NH35-Automatikwerk von Seiko aufweist und zum Schwimmen geeignet ist. Und er fügte hinzu: Die Anleihe der Addiesdive bei IWC stört mich nicht. Bin eben ein hoffnungsloser Fall. Als ich ihm den Post Sportuhren schickte, in dem die kleine Wittnauer Allproof erwähnt wird, die er mir mal geschenkt hatte, schrieb er: dieses Geschenk ist mir - wie so vieles - komplett entfallen

Aber wir haben die letzten dreißig Jahre nicht nur über Uhren geredet, wir haben viel häufiger über Jazz geredet. Weil er mir immer wieder CDs zuschickte, den besten Jazz aller Zeiten. Diese CDs tauchten hier schon in dem Post CD Player auf: All die vielen selbst gebrannten CDs (von hervorragender Qualität), die 'Round Midnight' heißen, sind natürlich keine Raubkopien. Die stammen aus einer Radiosendung, die Achim Körnig mal mitternachts bei einem bayrischen Privatsender hatte. Und die er mir netterweise kopiert hat. Erstklassiger Jazz! Der dottore in giurisprudenza hat früher auch mal gelegentlich das 'Streiflicht' für die 'Süddeutsche' geschrieben. Jetzt ist er Blogger. So enden wir alle. Ich habe über die Jahre mehr als dreißig CDs von ihm geschenkt bekommen. Wenn bei mir nicht Bach oder Mozart aufliegt, dann ist eine von den Round Midnight CDs im CD Player. Gary Thomas (der schon in Lush Life erwähnt wird) hätte ich wahrscheinlich ohne Achim Körnigs CDs nie kennengelernt. Vieles andere auch nicht. 

Du bist nicht mehr da, wo du warst, aber du bist überall, wo wir sind, steht am Ende des kleinen Gedenkvideos, das die Familie bei der Süddeutschen ins Netz gestellt hat. Achim Körnig ist immer noch bei mir, wenn ich seine CDs höre, ich lege mal eben für ihn Miles Davis Round Midnight auf. Und ich habe noch ein kleines Gedicht von Vachel Lindsay, das Written for a Musician heißt:

Hungry for music with a desperate hunger
I prowled abroad, I threaded through the town;
The evening crowd was clamoring and drinking,
Vulgar and pitiful--my heart bowed down--
Till I remembered duller hours made noble
By strangers clad in some surprising grace.
Wait, wait my soul, your music comes ere midnight
Appearing in some unexpected place
With quivering lips, and gleaming, moonlit face.

Samstag, 13. September 2025

Chipocalypse Now

.........   Ich möchte es nicht vergessen, und das hat jetzt nichts mehr mit der Kunst der Pittura metafisica zu tun, dem Pianisten Alfred Brendel zum neunzigsten Geburtstag zu gratulieren. Und natürlich auch dem amerikanischen Schauspieler Robert Duvall, der heute ebenfalls neunzig wird. Wir kennen ihn aus dem Film Apocalypse Now als Colonel Kilgore (= kill + gore). Der die berühmten Sätze sagt: You smell that? Do you smell that? Napalm, son. Nothing else in the world smells like that. I love the smell of napalm in the morning. You know, one time we had a hill bombed, for twelve hours. When it was all over I walked up. We didn't find one of 'em, not one stinkin' dink body. But the smell! You know – that gasoline smell... the whole hill! Smelled like... victory. (Pause) Some day this war is going to end...

Und an dieser Stelle muss ich doch noch einmal Donald Trump zitieren, ich hoffe, es ist das letzte Mal, dass er in diesem Blog auftaucht. Bei einem Treffen mit Vertretern der Kriegsveteranen im Jahre 2017 behauptete Trump, begleitet von seiner Assistentin Omarosa Manigault-Newman, dass der Colonel Kilgore in dem Film von Agent Orange und nicht von Napalm redet. Obgleich er von allen Seiten korrigiert wird, beharrt er auf seiner irrigen Meinung. Wie immer. Weil es für ihn eine andere Realität als für den Rest der Welt gibt. In der Colonel Kilgore nun eben I love the smell of Agent Orange in the morning sagt (lesen Sie mehr zu dieser bizarren Szene in The Daily Beast). Seine Assistentin für Öffentlichkeitsarbeit, die erste Farbige im Weißen Haus wurde Ende des Jahres gefeuert. Was ein Fehler war, denn Omarosa schrieb über ihr Jahr im Weißen Haus ein Buch. Trump nannte sie daraufhin auf Twitter that dog. Irgendwie wird uns der Prolet mit dem großen Maul, der Amerika zur Bananenrepublik gemacht hat, fehlen.

Das stand hier am 5. Januar 2021 in dem Post das elfte Jahr. Ich möchte darauf noch einmal zurückkommen. Nicht wegen des Proleten mit dem großen Maul, der Amerika zur Bananenrepublik gemacht hat. Sondern wegen des Bildes im ersten Absatz, das den Schauspieler Robert Duvall als Colonel Kilgore in dem Film Apocalypse Now zeigt. Er trägt da ein gelbes Halstuch, das ist die Farbe der Kavallerie, das wissen wir aus dem Film She Wore a Yellow Ribbon. Auch wenn sie keine Pferde mehr haben und zur Musik von Wagner Ritt der Walküren mit Hubschraubern unterwegs sind, hat die Air Cavalry heute immer noch ein Pferd im Wapperl. Die Szene mit den Hubschraubern und die Szene, in der Colonel Kilgore I love the smell of napalm in the morning sagt, bleiben immer im Gedächtnis. 

Auch im Gedächtnis von Donald Trump. Denn der Colonel Kilgore, für den Robert Duvall einen Oscar bekommen hatte, ist zurückgekommen. Er ist nur ein bisschen fett geworden und wird jetzt von Donald Trump gespielt. Der sich auf seiner hauseigenen Plattform Truth Social dank der Articial Intelligence als Lieutenant Colonel Donald Kilgore Trump inszeniert und gerade der Stadt Chicago den Krieg angesagt hat. Weil er das Verteidigungsministerium in Kriegsministerium umbenannt hat: Chicago about to find out why it’s called the Department of WAR. Und statt des Satzes I love the smell of napalm in the morning steht in diesem Bild: I love the smell of Deportations in the morning.

Kaum ist das US-Kriegsministerium neu so benannt, da droht Donald Trump der Stadt Chicago in 'Apocalypse Now'-Manier mit Waffengewalt. Was soll man dazu noch schreiben? fragte Johannes Schneider in der Zeit. Gibt es wirklich Antworten auf diese Frage? The President’s threats are beneath the honor of our nation, sagte der Bürgermeister von Chicago Brandon Johnson. Mehr als beneath the honor of our nation kann man eigentlich nicht sagen. Ehre und Würde sind keine Begriffe, die zu dem Präsidenten Trump passen. In seiner Phantasiewelt bekommt alles, wie in George Orwells 1984 einen neuen Namen. Nicht nur der Golf von Mexico. Der Verteidigungsminister heißt jetzt Kriegsminister.

Manchmal wird die Nation durch ill will and resentment zu einem Krieg gezwungen, contrary to the best calculations of policy. Manchmal handelt die Regierung through passion what reason would reject und unterwirft sich pride, ambition and other sinister and pernicious motives. Das sagt der erste Präsident Amerikas in seiner Abschiedsrede. Dieser Absatz endet mit dem Satz: The peace often, sometimes perhaps the liberty, of nations has been the victim. Wir wollen mal hoffen, dass Trumps Kriegsminister keinen Krieg im eigenen Land anfängt. The peace often, sometimes perhaps the liberty, of nations has been the victim.


Sonntag, 7. September 2025

Borodino

Kund ward dem fränkischen Geschlechte
Wie Russen stehen im Gefechte,
Was unser Faustkampf heißt!
Wie unsre Brust die Erde dröhnte,
Ein tausendfältig Donnern tönte,
Der Reiter mit dem Rosse stöhnte,
Tod und Verderben kreist.

Es dämmerte. Wir standen fertig
Und waren neuen Kampfs gewärtig
Beim nächsten Morgenroth —
Doch nach und nach verstummt das Knallen,
Zum Rückzug alle Trommeln schallen
Wir aber zählten die gefallen,
Verwundet oder tot

Ja! Männer gab's zu unsern Zeiten,
Stark im Gehorchen und im Streiten,
Männer von Stahl und Erz!
Nur Wen'ge ließ die Schlacht am Leben,
Und, wär' es nicht um höh'res Streben,
Sie hätten nimmer preisgegeben
Moskau, des Landes Herz!

Die Schlacht bei dem Dörfchen Borodino am 7. September 1812 war die blutigste Schlacht von Napoleons Russlandfeldzug. Napoleon wird ein Viertel seiner Truppen verlieren, die Russen ein Drittel. Von den 600.000 Mann, mit denen Napoleon am 24. Juni die Memel überschritt, sind ihm noch 130.000 geblieben. Ein Jahr nach der Schlacht wird Napoleon im Gespräch mit Metternich in Dresden sagen: Ich bin im Felde aufgewachsen, und ein Mann wie ich schert sich wenig um das Leben einer Million Menschen ... Die Franzosen können sich nicht über mich beklagen; um sie zu schonen, habe ich die Deutschen und die Polen geopfert. Ich habe in dem Feldzug von Moskau 300.000 Mann verloren; es waren nicht mehr als 30.000 Franzosen darunter. Metternich vermerkt in seinen Erinnerungen, dass Napoleon statt des sich scheren etwas Derberes gesagt hätte. Wahrscheinlich hat er je me fous gesagt, was manche mit Ich scheiße auf das Leben von Millionen wiedergeben.

Es sind die deutschen Verbündeten, die den Blutzoll zahlen müssen. Von den 30.000 Bayern, die Napoleons Stiefsohn Eugène de Beauharnais kommandiert, kommen nur 5.000 zurück. Der bayrische Maler Albrecht Adam, dessen Bilder schon in den Posts Moskau brennt und Beresina 1812 zu sehen sind, schrieb über die Schlacht von Borodino: Der Mittag kam und des furchtbaren Mordens war noch kein Ende. Ein General nach dem andern wurde verwundet zurückgebracht, von vielen war die Todespost eingetroffen, bluttriefend schleppten sich die Soldaten aus dem Kampfe, an vielen Stellen war das Feld mit Leichen bedeckt; was ich an Verwundungen und Verstümmelungen an Menschen und Pferden an diesem Tage gesehen, ist das Gräßlichste, was mir je begegnete und läßt sich nicht beschreiben. Dies Bild hat er in den 1830er Jahren gemalt, es beruht aber auf einer Bleistiftzeichnung, die er am 7. September 1812 anfertigte. Man kann das Bild als Borodino 1 bezeichnen, denn er hat für den bayrischen Kronprinzen noch ein zweites sechs Quadratmeter großes Bild der Schlacht gemalt.

Es ist ein langer Weg von der Memel nach Moskau, auf dem Napoleon immer mehr Truppen verliert. Und zehntausend Pferde. Er hat noch nicht begriffen, dass dies ein Todesmarsch ist. Die ersten Gefechte bei Mogiljow und Ostrowno brachten keine taktischen Vorteile. Bei Witebsk glaubt Napoleon, eine Entscheidungsschlacht schlagen zu können, doch der General Peter von der Pahlen hält ihn einen halben Tag lang auf. Napoleon verschiebt den Angriff auf den nächsten Tag, aber da sind die Russen schon verschwunden. Die Brücke über die Düna hat Pahlen auch angezündet. Napoleon bleibt erst einmal zwei Wochen in Witebsk, seine ausgehungerte Garde plündert sie Stadt. Napoleon überlegt sich, ob es nicht besser wäre umzukehren.

Wenn die Franzosen dann unter großen Verlusten Smolensk einnehmen, haben die Russen wie in Witebsk die Stadt geräumt und alles vernichtet, was den Franzosen von Nutzen sein könnte. Dass man das Vordringen des Feindes bis Smolensk zulässt, übersteigt seine Vorstellungskraft, sagt Tolstoi in Krieg und Frieden über den russischen Zaren. Aber was soll der General Barclay de Tolly denn machen? Er hat zu wenig Truppen, um sich Napoleon in offener Schlacht zu stellen. Viele der adligen russischen Offiziere halten den Deutschbalten für einen Verräter. Sie Deutscher, Sie Wurstmacher, Sie Verräter, Sie Lump; Sie verkaufen Russland! Ich weigere mich, weiterhin unter Ihrem Befehl zu stehen, wird der Bruder des Zaren ihn anbrüllen. In der Schlacht bei Borodino kommandiert Barclay noch den größten Teil der russischen Truppen; er verliert im Kampf fünf Pferde unter sich und neun der Adjutanten an seiner Seite werden getötet oder verwundet. Ein Feigling ist er nicht.

In Krieg und Frieden wird Andre Bolkonskij im Gespräch mit Pierre Besuchow auf dem Schlachtfeld von Borodino über Barclay sagen: »Ja, und in Smolensk hat er durchaus korrekt erwogen, daß die Franzosen uns umgehen könnten und größere Streitkräfte besäßen. Aber das konnte er nicht begreifen«, rief Fürst Andrei in plötzlich hervorbrechendem Ingrimm mit hoher Stimme, »das konnte er nicht begreifen, daß wir dort zum erstenmal für die russische Erde kämpften, daß in den Truppen ein solcher Geist steckte, wie ich ihn noch nie kennengelernt hatte, daß wir zwei Tage hintereinander die Franzosen zurückgeschlagen hatten, und daß dieser Erfolg unsere Kräfte verzehnfachte. Er befahl den Rückzug, und alle Anstrengungen und Verluste waren vergeblich gewesen. Verrat lag ihm ganz fern. Er bemühte sich, alles so gut wie nur irgend möglich zu machen; er überdachte alles: aber eben deshalb taugt er nichts. Gerade deshalb taugt er in diesem Zeitpunkt nichts, weil er alles so gründlich und genau überlegt, wie es eben in der Natur eines jeden Deutschen liegt. Wie kann ich es dir nur deutlich machen, was ich meine ... Nun, denke dir, dein Vater hat einen deutschen Diener, und das ist ein vortrefflicher Diener, der alles, was dein Vater braucht, ihm besser leistet, als du es könntest, und den du beruhigt seinen Dienst verrichten läßt; aber wenn dein Vater todkrank ist, dann schickst du trotzdem den Diener weg und wirst mit deinen ungeübten, ungeschickten Händen deinen Vater besser pflegen und sein Wohlbefinden besser befördern als der geschickte Diener, der ihm ein Fremder ist. So stand es auch mit Barclay. Solange Rußland heil und gesund war, konnte ihm der Fremde dienen und war ein vortrefflicher Minister; aber jetzt, wo es in Gefahr ist, bedarf es der Dienste eines Angehörigen, eines Blutsverwandten. In eurem Klub ist man auf den Gedanken gekommen, Barclay wäre ein Verräter! Dadurch, daß man ihn jetzt ungerechterweise als einen Verräter bezeichnet, bewirkt man nur, daß er später, wenn man sich dieses unzutreffenden Vorwurfes schämen wird, aus einem Verräter plötzlich zu einem Helden oder zu einem Genie werden wird; und dies wird noch weniger gerecht sein. Er ist ein ehrlicher Deutscher von peinlicher Genauigkeit.«

Es gibt bei den russischen Generälen keinen esprit de corps. Sie sind alle untereinander zerstritten, Balten, Deutsche (wie Bennigsen oder Wintzingerode) und Russen. Und da ist da noch Bagration, der einzige, vor dem Napoleon Angst hat. Aber der kommt aus Georgien, den mögen die Russen auch nicht wirklich. Dann lieber den alten Lebemann Kutusow, der inzwischen so beleibt ist, dass er kaum noch aufs Pferd kommt. Napoleon benutzt übrigens auch die meiste Zeit die Kutsche, aber das wird nie gegen ihn verwendet. Kutusow, der seit fünfzig Jahren in der Armee ist, mag zwar ein Säufer sein, ist aber wenigstens Russe. Der Zar ernennt ihn widerwillig zum Nachfolger von Barclay de Tolly.

Für den Maler Albrecht Adam, der 1836 Napoleon vor dem brennenden Smolensk malte, war Smolensk eine Wende im Krieg: Bald verließ der Feind auch diese Stellung und entschlüpfte aufs neue. Abermals war für Napoleon die Hoffnung auf einen entscheidenden Schlag, auf einen glänzenden Sieg dahin. Das Zitat findet sich in seiner Autobiographie Aus dem Leben eines Schlachtenmalers, die heute noch erhältlich ist. Caulaincourt, dessen Bruder bei Borodino fallen wird, weiß über das brennende Smolensk in seinen Memoiren zu sagen: The night was cold. I drew near to a fire burning before the Emperor’s tent, on the side facing the town, and was growing drowsy as I sat before it, when His Majesty came up with the Prince of Neuchatel and the Duke of Istria. They gazed at the flaming town. It lit up the whole horizon, already studded with the sparkle of our own bivouac fires. “An eruption of Vesuvius!” shouted the Emperor, clapping me on the shoulder and waking me from my stupor. “Isn’t that a fine sight. Monsieur le Grand Ecuyer?” “Horrible, Sire!” “Bah!” he said. “Gentlemen, remember the words of a Roman Emperor: ‘A dead enemy always smells sweet!’ ” Über das brennende Moskau wird Napoleon sagen: Es war der erhabenste, sublimste und fürchterlichste Anblick, den die Welt je gesehen hatte! Aber da ist er schon geographisch und zeitlich weit weg, da sitzt er schon auf St Helena.

Die Artillerieschlacht bei Borodino, das hundertzwanzig Kilometer vor Moskau liegt, hatte keinen Sieger. Wenn Napoleon von einem Sieg spricht, weil er das Feld behauptete, dann war es ein Pyrrhus Sieg. Wenn er die 20.000 Mann seiner Garde eingesetzt hätte, hätte er vielleicht gewinnen können, aber das wagte er nicht. Er hat schon so viele Soldaten und so viele Generäle verloren, die Garde impériale ist seine letzte Reserve. Zu welchem Zweck wurde die Schlacht bei Borodino geliefert? Weder für die Franzosen noch für die Russen hatte sie den geringsten Sinn. Ihr nächstes Resultat war und mußte sein: für uns Russen, daß wir den Untergang Moskaus beschleunigten (den wir doch über alles in der Welt fürchteten), und für die Franzosen, daß sie den Untergang ihrer Armee beschleunigten (den sie gleichfalls über alles in der Welt fürchteten). Daß dies das Resultat sein mußte, war schon damals vollkommen klar, und dennoch bot Napoleon diese Schlacht an, und Kutusow nahm sie an

Die Sätze stehen in Tolstois Roman Krieg und Frieden. Der ehemalige Artillerieleutnant Graf Leo Tolstoi hatte sich das Schlachtfeld gründlich angeschaut, er ritt viele Tage mit der Generalstabskarte in der Hand über die Gräber der russischen Armee. Die Schlacht von Borodino wird mehr als hundert Seiten seines Romans einnehmen, viele Romanpersonen begegnen sich auf dem Schlachtfeld. →Pierre Besuchow mit seinem weißen Zylinder irrt wie ein Tourist durch das Geschehen, →Andre Bolkonskij wird schwer verwundet. Er wird an der Verwundung sterben, aber er wird Natascha noch wiedersehen. 

In der Mitte des Geschehens ist immer wieder der in sich ruhende General Kutusow: Aus einer langjährigen Kriegserfahrung wußte er und war darüber mit seinem alten Kopf ins klare gekommen, daß es für einen einzelnen Menschen unmöglich ist, Hunderttausende, die auf Leben und Tod kämpfen, zu leiten, und daß der Ausgang der Schlachten nicht durch die Anordnungen des Oberkommandierenden, nicht durch das Terrain, auf dem die Truppen stehen, nicht durch die Zahl der Kanonen und der getöteten Menschen entschieden wird, sondern durch jene eigenartige Kraft, die man den Geist des Heeres nennt; und diese Kraft beobachtete er und leitete sie, soweit das in seiner Macht lag.

Wenn man bei Google Theodor Fontane und Borodino eingibt, sagt einem die Künstliche Intelligenz: Theodor Fontanes 'Borodino' ist ein Gedicht über die Schlacht bei Borodino im Napoleonischen Russlandfeldzug 1812. Fontane beschreibt darin die brutale Schlacht aus der Perspektive eines Soldaten. Es ist Teil seines Gedichtbandes 'Fontanes Gedichte' von 1851. Das Gedicht wird man vergebens suchen, aber inzwischen weiß man ja, dass so ziemlich alles in den AI Einträgen von Google Unsinn ist. Borodino ist kein Gedicht, es ist eine Binnenerzählung in dem Roman Vor dem SturmFontanes erster Roman ist das preußische Gegenstück zu Tolstois 'Krieg und Frieden', sagt heute die Verlagswerbung des Aufbau Verlages, da ist etwas dran. Ich habe in den letzten Tagen Teile von Vor dem Sturm und Krieg und Frieden wieder gelesen, beide historischen Romane haben viele Gemeinsamkeiten. Es ist der erzählerische Sog, der einen in die Romane zieht. Sie können das 11. Kapitel von Vor dem Sturm hier lesen. Da liest der Rittmeister von Meerheimb, der den Arm wegen einer Kriegsverletzung noch in der Schlinge trägt, aus seinem Kriegstagebuch vor. Der Rittmeister war in der sächsischen Brigade des Generals Johann Adolf von Thielmann, die Napoleon unterstellt war. Wenige Jahre später werden wir Thielmann auf der anderen Seite wiederfinden. Da hält er in Wavre den Marschall Grouchy auf, was für die Schlacht von Waterloo von großer Bedeutung ist. Die Erzählung endet mit den Sätzen:

Das Zentrum war durchbrochen, die Rajewskischanze in unseren Händen. Als, um uns abzulösen, die Division Morand heranrückte und General Thielmann den Befehl zum Sammeln der Brigade gab, war kein Trompeter mehr da, um zu blasen. Ein Schwerverwundeter endlich ließ sich aufs Pferd heben und blies die Signale. So gingen wir auf die andere Seite des Grundes zurück.
     Es war erst drei Uhr, aber die Kraft beider Heere war wie ausgebrannt. Wir hatten ein Drittel, die Russen die Hälfte ihres Bestandes an diesen Tag gesetzt. Kutusow, in einem Kriegsrat, der abgehalten wurde, beschloß, bis hinter Moskau zurückzugehen. Er wußte, daß man's ihm nicht zum Guten anrechnen werde, und sagte: »Je payerai les pots cassés, mais je me sacrifie pour le bien de ma patrie.«
     Am andern Morgen trat er den Rückzug an; Napoleon folgte den Tag darauf. Auch wir. Wir waren nur noch ein Trümmerhaufen; was wir gewesen, das lag bei Semenowskoi und in der Rajewskischanze; aber in unsere Standarten durften wir den Namen schreiben: Borodino!

Die umkämpfte Rajewskischanze hat ihren Namen nach dem General Nikolai Nikolajewitsch Rajewski, der die Schanze während der Schlacht gehalten hat. Ich muss ihn erwähnen, nicht nur, weil er ein Freund Puschkins ist, der ebenso wie Lermontow auch ein Borodino Gedicht schrieb. Sondern weil seine Tochter Maria Wolkonskaja hier schon seit zehn Jahren einen Post hat (und vor drei Jahren hier in dem Post Sibirien wieder auftauchte). 

Das Bild von Nikolay Samokish mit dem Titel Der Mut des Generals Rajewski in der Schlacht ist hundert Jahre nach Borodino gemalt worden. Ich weiß nicht, ob es wirklich in Mogiljow so ausgesehen hat, wo Rajewski die Franzosen einen Tag aufhält, es ist kein Schmutz und kein Blut auf dem Bild zu sehen. Der Krieg sieht nur auf Bildern schön aus. Am ehrlichsten vielleicht in der naiven Malerei wie diesem Votivbild, das uns sagt: Der Huber Hans auch in Russland geblieben.


Ich habe zu Borodino für Sie auch noch bewegte Bilder. Einen englischen ✺Dokumentarfilm und Sergei Bondartschuks Krieg und Frieden Verfilmung in drei Teilen (✺Teil 1, ✺Teil2, ✺Teil 3). Und noch etwas, das ✺The Battle of Borodino heißt, das sind Filmszenen aus Bondartschuks Film, unterlegt mit Tschaikowskis Ouverture solennelle 1812. Und dann habe ich noch die BBC Verfilmung aus dem Jahre 1972, Sie können den ✺Borodino Teil hier sehen. Bei YouTube bist es alle Folgen dieser sehr guten Serie.

Dienstag, 2. September 2025

Nationalgarde

I am the law, konnte Roy Bean sagen, er war The Only Law West of the Pecos. In der amerikanischen Geschichte gibt es immer wieder Leute, die das Gesetz in ihre Hand nehmen. Meistens sind das die Filmhelden in einem Western. In Amerika haben wir zurzeit einen Präsidenten, der sich über Recht und Gesetze hinwegzusetzen scheint. Er regiert mit Dekreten ohne den Kongress, manche Erlasse beruhen auf Gesetzen, die für etwas ganz anderes vorgesehen waren. Wie dem International Emergency Economic Powers Act, den Trump für seine Zollpolitik missbraucht. In seiner ersten Amtszeit hatte Trump 220 Executive Orders erlassen, in seiner zweiten Amtszeit hat er in den ersten hundert Tagen schon 140 Dekrete unterzeichnet. Wie Roy Bean sagt auch Donald Trump, dass er das Gesetz sei. Weil er ja das Land retten muss: He who saves his Country does not violate any Law. Aber darf er die Nationalgarde überall hinschicken?

Die Nationalgarde gibt es seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie untersteht den Gouverneuren der einzelnen Staaten, kann aber im Kriegsfall und bei nationalen Notständen der Bundesregierung unterstellt werden. Sie ist schon zu politischen Zwecken gebraucht worden. Zum Beispiel am 2. September 1957 in Little Rock in Arkansas. Da ließ der Gouverneur die Nationalgarde aufmarschieren, um zu verhindern, dass farbige Schüler eine Schule besuchten. Vor der Schule steht eine Menschenmenge wie diese, die Plakate wie Race Mixing is Communism und Stop the Race Mixing March of the Anti-Christ in die Kameras der Reporter hält. Das Urteil Brown v. Board of Education des Supreme Court bezüglich der Rassentrennung ist noch nicht in Arkansas angekommen.

Drei Wochen später wird es neun Schülern gelingen, in die Schule zu kommen. Weil der amerikanische Präsident die 10.000 Mann starke Nationalgarde von Arkansas unter das Bundeskommando gestellt und 1.200 Soldaten der 101st Airborne Division nach Little Rock entsandt hatte. Es ist viel Hass in diesem Bild, die beiden Frauen sehen älter aus, aber sie sind erst fünfzehn und sechzehn. Hazel Bryan, die da Go home, nigger! Go back to Africa brüllt, hat sich Jahre später bei Elizabeth Eckford entschuldigt.

Drei Jahre später kann die sechsjährige Ruby Bridges ihre Schule in New Orleans ohne die Nationalgarde nbesuchen. Der wütende Mob ist noch da, aber man braucht die Nationalgarde nicht. Ruby wird von vier Marshals in die Schule begleitet. Unterricht gibt es nicht, Schüler und Lehrer haben die Schule verlassen. Norman Rockwell hat sein Bild von der kleinen Ruby The Problem We All Live With genannt. Obama hat es im Weißen Haus aufgehängt. Ich weiß nicht, ob es da noch hängt. Fünf Jahre nach dem Schulbesuch von Ruby Bridges hat der amerikanische Historiker Richard J. Hofstadter seinen Essay The Paranoid Style in American Politics veröffentlicht. Der letzte Satz lautet da: We are all sufferers from history, but the paranoid is a double sufferer, since he is afflicted not only by the real world, with the rest of us, but by his fantasies as well. 

Als Präsident Eisenhower sich 1957 die Nationalgarde unterstellte, hatte er gute Gründe für diesen Schritt. Präsident Johnson hatte auch gute Gründe, die Nationalgarde gegen den Willen des Bundesstaates Alabama einzusetzen. Wir kennen das aus dem Film Mississippi Burning. Aber hatte Donald Trump gute Gründe, die Nationalgarde nach Los Angeles zu schicken? L.A. wouldn’t be standing today if President Trump hadn’t taken action then. That city would have burned down if left to the devices of the mayor and the governor of that state, sagte Kristi Noem von der Homeland Security. Da kann man nur noch einmal Hofstadter zitieren: the paranoid is a double sufferer, since he is afflicted not only by the real world, with the rest of us, but by his fantasies as well. Was die Nationalgarde in Washington soll, weiß nur Donald Trump. I'm announcing a historic action to rescue our nation's capital from crime, bloodshed, bedlam and squalor and worse, hat der Mann, der immer lügt, gesagt. This is liberation day in DC, and we're going to take our capital back. Seit einer Woche sind die Gardisten bewaffnet. Weshalb? Wir wollen mal hoffen, dass sie die Waffen nicht gebrauchen. Das Kent State Massaker, bei dem die Nationalgarde auf unbewaffnete Studenten schoss, ist noch nicht vergessen. Der gelbe Kent State Kugelschreiber auf meinem Schreibtisch, den Sandy Marovitz mir geschenkt hat, erinnert mich immer daran.


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Samstag, 30. August 2025

Lilienthal

Heute vor 280 Jahren wurde Johann Hieronymus Schroeter in Erfurt geboren, er soll uns einige Zeilen wert sein. Meyers Konversations-Lexikon weiß siebzig Jahre nach seinem Tod über ihn zu sagen: er wurde 1778 bei der hannöverschen Regierung angestellt und später Justizrat und Oberamtmann zu Lilienthal im Herzogtum Bremen, wo er eine Privatsternwarte errichtete und wichtige Beobachtungen über die physische Beschaffenheit der Planeten und des Mondes anstellte. 

Dieser Schroeter (hier auf einem Notgeld Schein der 1920er Jahre mit Karl Ludwig Harding und Friedrich Wilhelm Bessel) war ein bedeutender Mann. Eigentlich hatte er in Göttingen Jura studiert, aber er hörte auch Vorlesungen bei Abraham Gotthelf Kästner, der der Leiter der Göttinger Sternwarte war. Kästner wird in dem Post ein Poet im vollen Sinne des Wortes einmal erwähnt, aber der Lilienthaler Oberamtmann Schroeter, der war immer wieder in diesem Blog. Auf einer Seite, die Telescopium Lilienthal heißt, hat Klaus-Dieter Uhden die Lebensgeschichte des Mannes mit der Privatsternwarte aufgeschrieben, der das kleine Kaff Lilienthal für die Wissenschaft berühmt gemacht hat. 

Dieses Lilienthal ist einer der interessantesten Orte! Zwar die Umgebung – es liegt eine Meile nordöstlich von Bremen, in Richtung der großen Moore – kann wohl nur dem Auge des Kanalbauers reizvoll erscheinen; im Herbst und Winter soll das Land voller Nebel und Rauch sein, und einen wahrhaft finnischen Anblick darbieten. … Herr Harding, der die Güte hatte, mir die Instrumente, zweifellos die größten auf dem Kontinente befindlichen, zu zeigen, bedauerte ebenfalls die Ungunst des Himmels. Umso erstaunlicher sind die Resultate seines Fleißes, von denen er uns einige äußerst schätzbare Blätter eines großen Sternatlas vorwies.

Das lässt Arno Schmidt den preußischen Obristen Massenbach in einer Erzählung sagen, in der Massenbach im Jahre 1801 die Lilienthaler Sternwarte besucht. →Lilienthal 1801, oder Die Astronomen hätte ein großer Roman werden sollen, gegen den Zettels Traum eine bloße Handübung gewesen wäre. Aber der Roman ist nie erschienen, allerdings haben sich in Schmidts Zettelkästen rund 400 Notizzettel befunden, die man zu einem Buch zusammengetragen hat. Mit Photographien des Handlungsortes, thematisch verwandten Tagebuchauszügen und Briefstellen von Arno und Alice Schmidt. Lilienthal kannte Arno Schmdt, er hatte sich 1957 auf die Küsterstelle von St Jürgen beworben und dem Pastor geschrieben: Ich wiederhole noch einmal, daß mir eine Wohnung in St Jürgen, zumindest für die nächsten Jahre hinaus, durchaus ideal erscheint; zumal mein nächstes Buch, mit dem Titel 'Lilienthal 1801', in der dortigen Landschaft lokalisiert sein wird. Aber daraus wurde nichts. Schade, es war so still dort, schreibt er an seinen Freund Alfred Andersch. Genau die Landschaft, die ich für 'Lilienthal' brauche.

Als ich klein war, hatte ich mal den Vorsatz, alles über die Sterne am Himmel zu wissen. Als ich zur Oberschule kam, hätte ich den Vorsatz in die Tat umsetzen können. Denn die Schule hatte ein kleines Observatorium auf dem Dach, hier hat es jemand bei Schnee aufgenommen. Meine goldene Omega Constellation de Luxe hat auch ein Observatorium auf dem Gehäuseboden, das erinnert mich heute noch immer daran, dass aus den guten Vorsätzen mit der Erkundung des Sternenhimmels nichts geworden ist.

Ich verschob die Welt der Sterne auf später. Das ist mit den guten Vorsätzen ja immer so. Ich habe aber ein kleines Buch, in dem der ganze Himmel und die Harmonie der Welt erklärt wird. Und ich bekam eine drehbare Sternkarte geschenkt. Ich habe die Sache noch nicht ganz aufgegeben. Ich bin noch nicht bei der Haltung Panofskys angelangt, der, als ihm Ernst Kantorowicz sagte: Wenn ich zu den Sternen aufblicke, empfinde ich meine eigene Sinnlosigkeit, geantwortet hat: Alles, was ich empfinde, ist die Sinnlosigkeit der Sterne. Auch wenn ich am Sternenhimmel den Großen Bären nicht von dem Kleinen Löwen unterscheiden kann, über Astronomen und die Astronomie habe ich viel gelesen. Und deshalb weiß ich, dass in dem Roman Mason & Dixon von Thomas Pynchon die Astronomie eine Rolle spielt, und deshalb weiß ich auch, wer Heinrich Christian Schumacher war.

Seit zehn Jahren steht in Lilienthal ein funktionstüchtiger Nachbau des Spiegelteleskops von Johann Hieronymus Schroeter aus dem Jahre 1793. Nach dem Tod von Schroeter 1816 verfiel die Sternwarte und wurde 1850 abgerissen. Schroeter hatte es nicht verwinden können, dass die Franzosen 1813 den ganzen Ort niedergebrannt hatten und dabei alle seine wissenschaftlichen Aufzeichnungen verbrannt waren. Am Anfang des Jahrhunderts hatte alles ganz anders ausgesehen. 

Da hatte der Amateurastronom von Lilienthal, der all seine Forschung und seine Publikationen selbst finanziert hatte, ziemlich viel Geld. Weil er 1799 alles, unter Vorbehalt der weiteren eigenen Nutzung, an den englischen König Georg verkauft hatte. Und im Jahre 1800 gründete er zusammen mit Franz Xaver von Zach die Astronomische Gesellschaft. In seiner Zeitschrift Monatliche Korrespondenzen für Erd- und Himmelskunde schrieb von Zach über Schroeter: Es ist in Deutschland noch immer ein seltner Fall, dass die erhabene Sternkunde thätige Liebhaber findet. Noch seltener ist die Erscheinung, dass Privatmänner einen beträchtlichen Theil ihres Vermögens auf die Anschaffung kostbarer Werkzeuge verwenden, die sie nicht etwa zum Staate, als gelehrten Hausrath anschaffen, sondern unermüdet und beharrlich mit dem glücklichsten Erfolge zu nützlichen Himmels-Beobachtungen und zur Erforschung neuer Wahrheiten gebrauchen, welche unmittelbar zu weiteren Fortschritten in der Weltenkunde führen. Es gibt einen solchen Mann in Deutschland, auf den das Vaterland stolz sein darf, und dieser ist der, dessen wohlgetroffenes Bildnis das gegenwärtige Heft unserer Zeitschrift ziert.

Lilienthal liegt zwischen den Ortschaften Worpswede und Fischerhude, beide haben etwas mit der Kunst zu tun. Zu Worpswede gibt es in diesem Blog eine Vielzahl von Posts. Fischerhude kommt in den Posts Cato Bontjes van Beek  und Albert Stagura vor, Lilienthal hatte mit Kunst wenig zu tun. Aber das hat sich geändert. Dank des Sammlers Hans Adolf Cordes, der die Lilienthaler Kunststiftung gründete, gibt es in dem Kulturdreieck zwischen Wümme, Wörpe und Hamme jetzt massenhaft Kunst. Dank der Ausstellung Hanseatische Malerinnen um 1900: Wie sie die Welt sahen im Jahre 2016 weiß ich etwas darüber. 

Drei der Malerinnen, deren Bilder da zu sehen waren, sind inzwischen in diesen Blog gewandert: Aline von Kapff, Anna Feldhusen und Dora Bromberger. Die aktuelle Ausstellung in Lilienthal →Das große Glück: Die Sammlung der Lilienthaler Kunststiftung läuft noch bis zum 19. Oktober.


Johann Hieronymus Schroeter und seine Sternwarte werden schon in mehreren Posts erwähnt: Wilhelm Olbers, Zeiss, Moor, Astronomie, Eureka, Findorff, Aufklärung, Kometenschwanzleben. Und noch mehr über Observatorien, Sterne, Mond und Zeitmessung finden Sie hier: Adam Elsheimer, Observatorium, Abschiedsgeschenk, Dampfschiffahrt, Zeitmessung, Sommerzeit, Sir Christopher Wren, Alberto Santos-Dumont, Astronomie, Vollmond, Himmel, Die Harmonie der Welt, Vulkane, Dunkelheit, Mondnacht, SoFi, Münchhausen auf dem Mond.