Montag, 13. Januar 2025

Gandamak


Ich war 2010 zwei Tage im Netz, als ich den Post Afghanistan schrieb. Der unter anderem davon handelt, dass die Schlacht, in der die Engländer 1842 eine ganze Armee in Afghanistan verloren, schon in Herman Melvilles Roman Moby-Dick erwähnt wird. Und natürlich wird aus Theodor Fontanes Gedicht Das Trauerspiel von Afghanistan die letzte Strophe zitiert:

Die hören sollen, sie hören nicht mehr,
Vernichtet ist das ganze Heer,
Mit dreizehntausend der Zug begann,
Einer kam heim aus Afghanistan.

Nur ein einziger, schwer verwundeter Brite von Stand erreichte die Festung, wo Trompeter Tage und Nächte lang die ergreifenden Nationalmelodien des schottischen Hochgebirges bliesen, ein Zeichen für die im Schnee verloren Herumirrenden, daß sie dem Schalle entgegeneilen und zu den befreundeten Landsleuten sich retten möchten, können wir 1848 in dem Buch Das Trauerspiel in Afghanistan des Orientalisten Karl-Friedrich Neumann lesen. Theodor Fontane hat seinen Gedichttitel von diesem Buch genommen, das ich hier im Volltext habe.

Der schwer verwundeter Brite von Stand ist der Militärarzt William Brydon, der am Nachmittag des 13. Januar 1842 das belagerte Fort Dschalalabad erreicht. Das Pony, das er von einem tödlich verwundeten Soldaten bekommen hatte, soll unter ihm tot zusammengebrochen sein, als er das Fort erreichte. Man hatte ihn vom Lager aus kommen sehen, war ihm entgegen geritten. Auf die Frage eines Offiziers: Where is the army? sagte er: I am the army. Das Bild The Remnants of an Army von Elizabeth Thompson Butler ist erst fünfunddreißig Jahre später gemalt worden. Es ist historisch nicht so ganz korrekt. In Fontanes Gedicht fällt Schnee vom Himmel, und auch der einzige Bericht, den wir von dem Ereignis haben, spricht von snow, which was about 6. Inches deep. Der Dr Brydon wird lange Zeit als der einzige Überlebende des Massakers von Gandamak gelten. Aber einige auf dem Bild im ersten Absatz, das William Barnes Wollen 1898 malte, haben auch überlebt.

Der Captain Thomas Alexander Souter, der sich die Regimentsflagge um die Brust gewickelt hatte (hier ist er als Zinnsoldat zu sehen), wird überleben, weil ihn die Afghanen für einen englischen General hielten: In the conflict my posteen flew open and exposed the colour: thinking I was some great man from looking so flash, I was seized by two fellows. Seit 1838 führen die Engländer Krieg in Afghanistan, sie werden diesen Krieg verlieren. Der Militärgeistliche George Robert Gleig, der als junger Mann Offizier in Wellingtons Armee gewesen war, wird 1843 über den Krieg schreiben: a war begun for no wise purpose, carried on with a strange mixture of rashness and timidity, brought to a close after suffering and disaster, without much glory attached either to the government which directed, or the great body of troops which waged it. Not one benefit, political or military, was acquired with this war. Our eventual evacuation of the country resembled the retreat of an army defeated.

Man kann in Afghanistan nur verlieren, das mussten auch die Russen in dem Krieg von 1979-1989 feststellen. Im Januar 2010 habe ich in dem Post Heeresreform geschrieben: Bei der Gründung der Verteidigungsarmee hätte niemand geahnt, dass eines Tages ein deutscher Verteidigungsminister sagen würde: Unsere Spur wird die Transformation der Truppe sein. Dafür stehen zwei Sätze. Erstens: Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt. Er ist akzeptiert, auch wenn mir zu wenig darüber diskutiert wird. Der zweite Satz lautet: Einsatzgebiet der Bundeswehr ist die ganze Welt. ... Grundsätzlich müssen deutsche Soldaten bereit sein, an Orten Verantwortung zu übernehmen, an die wir heute noch nicht denken. Ist das, was der ehemalige Stadtdirektor von Uelzen äußert, jetzt das, was die Engländer im Krieg mit German, German overalls verspotteten? Deutscher Größenwahn? Was Struck vor fünf Jahren sagte, scheint heute ja schon stillschweigend akzeptiert

In ihrer Neujahrspredigt 2010 hatte die damalige EKD Ratsvorsitzende Margot Käßmann den Satz Nichts ist gut in Afghanistan gebraucht, was ihr viel öffentliche Kritik einbrachte. Vielleicht hätte man genauer hinhören sollen, was sie damals in der Dresdner Frauenkirche sagte: Nichts ist gut in Afghanistan. All diese Strategien, sie haben uns lange darüber hinweggetäuscht, dass Soldaten nun einmal Waffen benutzen und eben auch Zivilisten getötet werden. Das wissen die Menschen in Dresden besonders gut! Wir brauchen Menschen, die nicht erschrecken vor der Logik des Krieges, sondern ein klares Friedenszeugnis in der Welt abgeben, gegen Gewalt und Krieg aufbegehren und sagen: Die Hoffnung auf Gottes Zukunft gibt mir schon hier und jetzt den Mut von Alternativen zu reden und mich dafür einzusetzen. Manche finden das naiv. Ein Bundeswehroffizier schrieb mir, etwas zynisch, ich meine wohl, ich könnte mit weiblichem Charme Taliban vom Frieden überzeugen. Ich bin nicht naiv. Aber Waffen schaffen offensichtlich auch keinen Frieden in Afghanistan. Wir brauchen mehr Fantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen. Das kann manchmal mehr bewirken als alles abgeklärte Einstimmen in den vermeintlich so pragmatischen Ruf zu den Waffen. Vor gut zwanzig Jahren haben viele Menschen die Kerzen und Gebete auch hier in Dresden belächelt. 

2010 ist auch das Jahr in dem der Herr von und zu Guttenberg einräumt, man könne umgangssprachlich von Krieg in Afghanistan reden. Das Wort Krieg hatte der Verteidigungsminister bisher vermieden, auch bei seinem Ausflug nach Afghanistan mit seiner Gattin, den die Süddeutsche als Ego-Feldzug am Hindukusch bezeichnete, war nicht die Rede davon. Der Satz von George Robert Gleigaus dem Jahre 1843 Our eventual evacuation of the country resembled the retreat of an army defeated wurde 2021 wieder einmal aktuell, als die Taliban Kabul eroberten. Lesen Sie mehr dazu in dem Post Kabul-Wunstorf. Im letzten Jahr wusste Angela Merkel vor dem Afghanistan Ausschuss sehr wenig über das katastrophale Agieren der Bundesregierung zu sagen. Von Sätzen wie Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt war da nicht mehr die Rede.

Der englische Schriftsteller George MacDonald Fraser hat sich aus dem Roman Tom Brown's Schooldays von Thomas Hughes eine Romanfigur ausgeborgt. Harry Flashman ist da der Bösewicht an der Public School Rugby, alle anderen sind kleine viktorianische Gentlemen. Fraser, der ein Dutzend Flashman Romane schreiben wird, schickt den charakterlosen und bösartigen Leutnant Harry Paget Flashman im ersten Roman gleich nach Afghanistan. Am Ende des Romans ist er der einzige Überlebende, bekommt die Ritterwürde und das Victoria Cross von der Königin und den Händedruck vom Premierminister, dem Herzog von Wellington. Der ihm sagt: I wish you every good fortune, Flashman. You should go far. Das wird er. Am Ende der dutzend Flashman Romane ist der amoralische, verlogene Weiberheld in allen Kriegen gewesen, die England im 19. Jahrhundert geführt hat. Den Leser beschleicht bei der Lektüre das ungute Gefühl, dass die Flashman Saga vielleicht die realistischste Beschreibung des englischen Kolonialismus im 19. Jahrhundert ist. Und Flashman hat uns in dem Roman auch etwas zu Afghanistan zu sagen: Possibly there has been a greater shambles in the history of warfare than our withdrawal from Kabul probably there has not. Even now, after a lifetime of consideration, I am at a loss for words to describe the superhuman stupidity, the truly monumental incompetence, and the bland blindness to reason of the leader and his advisors. If you had taken the greatest military geniuses of the ages, placed them in command of our army, and asked them to ruin it utterly as speedily as possible, they could not—I mean it seriously—have done it as surely and swiftly as they did.

Freitag, 10. Januar 2025

Generäle und Gärten


Der Titel mag irritieren, normalerweise haben Generäle nichts mit Gärten zu tun. Es sei denn, sie verwüsten sie im Kriege, so wie man dem Dichter Johann Rist seine Gärten im Torstenssonkrieg verwüstete. Of Generals and Gardens ist die Autobiographie von Peter Coats, die Generäle und die Gärten haben einen Teil seines Lebens ausgemacht. Es ist übrigens nur der erste Teil der Autobiographie, der zweite Teil, der zehn Jahre später bei Weidenfeld & Nicholson erschien, hieß Of Kings and Cabbages. Ich habe Jahrzehnte nach dem Buch Of Generals and Gardens gesucht, die Preise der Antiquariate lagen zwischen 260 und 350 Euro, so wichtig war mir das Buch denn doch nicht. Kurz vor Weihnachten tauchte das Buch für elf Euro bei einem englischen Händler auf, da habe ich es sofort gekauft.

Dieser Peter Coats war, ohne dass ich es wusste, schon einmal in meinem Blog. Nämlich mit diesem Photo von Norman Parkinson. Es heißt The New Mayfair Edwardians (Peter Daniel Coats; Sir William Miles Aykroyd, 3rd Bt; Mark Newman Gilbey) und hängt in der National Portrait Gallery. Und war in den 1950er Jahren in jedem besseren englischen Society Journal zu sehen. Hier ist es in dem Post Teddy Boys abgebildet, über die Dandies des Edwardian Style steht auch einiges in dem Post Wildlederschuhe. Peter Coats, den seine Freunde Petticoats nannten, ist der linke auf diesem Photo. Coats kam aus aus einer schottischen Familie, die mit der Baumwolle im 19. Jahrhundert sehr reich geworden war, die Coats Group gibt es heute immer noch. Thomas Coats, der Gründer des Imperiums, wird schon in dem Post Made in Italy: Etro erwähnt. Coats, der in einem Schloss aufwuchs, das sein Vater gerade gekauft hatte, ist ein englischer Dandy, der in Eton war und seinen Wohnsitz im Albany hat. Vornehmer und teurer kann man in London nicht wohnen. Reicht das für eine Autobiographie?

Wo bleiben die Generäle und die Gärten? Die kommen auch noch. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte sich Coats freiwillig bei der Middlesex Yeomanry gemeldet und war als Leutnant eingestellt worden. Wenn man in Eton war, wird man gleich Offizier. Der Zufall wollte es, dass er für die nächsten sechs Jahre der Adjutant von General Sir Archibald Percival Wavell wurde. Der hier schon in den Posts Fremde Federn und Kabul-Wunstorf erwähnt wird. 

Coats hatte für eine Rede seines Chefs ein Zitat von Montaigne gefunden: I have gathered a posy of other men's flowers and nothing but the thread that binds them is mine own. Wavell wird aus diesem Zitat das Other Men's Flowers als Titel seiner Gedichtsammlung nehmen. Ein Buch, das im Krieg erscheint und schnell zehn Auflagen haben wird. Natürlich war Coats als Adjutant immer dandyhaft elegant, auch in Indien bei der Gartenpflege. Harold Nicolson beschrieb ihn in seinem Tagbuch als: resplendent in a white and gold uniform, directing with the wave of a trowel, these stupendous creations, stepping gingerly among the cannas and the odds. Never since the days of Zenophone has a soldier, and aide-de-camp to boot, been so precise and efficient a gardener. Vom Militär und der Kriegsführung hat Coats, der noch zum Major befördert werden wird, nicht die geringste Ahnung, aber er ist der perfekte Organisator für den Haushalt und das Hauptquartier von General Wavell. Das Strand Magazine wird 1945 schreiben: Major Peter Coates is Field-Marshal Lord Wavell's secretary, factotum, social buffer; he is tall, cherubic, and of an elegance; he is totally impervious to heat.   

Sir Archibald Wavell, der noch Lord, Feldmarschall und Vizekönig von Indien wurde, wusste, dass sein Adjutant Coats homosexuell war und sogar eine Affäre mit einem seiner Offiziere hatte. Aber das beunruhigte ihn nicht weiter, solange das Faktotum dafür sorgte, dass der Laden lief. Doch nach seinem Tod, wurde durch die Veröffentlichung der Tagebücher von Henry ('Chips') Channon 1967 die Homosexualität von Coats öffentlich, wodurch Gerüchte aufkamen, dass Wavell selbst homosexuell gewesen sei. Was seinen Kindern sehr peinlich war. 

Wir kommen jetzt ins seichtere Fahrwasser, aber ich muss den Politiker Chips Channon (hier bei seiner Hochzeit mit Lady Honor Guinness) erwähnen, der sich von der Guinness Erbin wegen seiner Affäre mit Peter Coats scheiden ließ. Am besten lesen Sie jetzt einmal den hervorragenden Artikel Blick in den Abgrund von Karina Urbach, dann wissen Sie alles über diesen reaktionären englischen Politiker, der die Nazis liebte. Er ist eine dieser Figuren, die in dem Roman und dem Film The Remains of the Day vorkommen könnten.

The Diaries 1918–38 von Henry Channon erschienen vor vier Jahren zum ersten Mal in einer nicht zensierten Fassung. Der Guardian betitelte seine Buchbesprechung Gossip, sex and social climbing, und das ist alles, worum es hier geht. Der New Statesman titelte Sex, scandal and high society in Chips Channon’s uncensored diaries. Channon was a snobbish, sexually voracious Tory who revered Hitler – and a new edition of his journals shines a startling light on interwar Britain. Klatsch und Tratsch der versifften englischen Oberklasse. Das Leben des fiktiven Helden des Romans Autobiography of a Cad von A.G. Macdonell ist hier wahr geworden. 

In meiner zensierten alten Penguin Ausgabe der Diaries von 1967 findet sich auf Seite 253 für den 10. Juli 1939 die Fußnote: Chips had met Peter Coats earlier that summer at a dinner at Lady Cunard's. They were to remain close friend until his death nineteen years later. Peter Coats edited the original MS of the Diaries. Die nächste Fußnote verrät uns, dass der junge John F. Kennedy an dem Tag auch Gast von Channon ist. Und hier auf dem Photo da oben haben wir sie. Zwei enge Freunde aus der englischen Gesellschaft, die zusammenleben wie die Ladies of Llangollen. Von Homosexualität, die in England noch unter Strafe steht (Lord Edward Douglas-Scott-Montagu wird 1950 verurteilt werden), ist nicht die Rede. Simon Heffer, der die Tagebücher herausgegeben hat, spricht davon, sie seien durch eine conspiracy of silence geschützt gewesen. Es ist kein Zufall, dass die erste Ausgabe der Diaries 1967 erscheint, in dem Jahr hob der
Sexual Offences Act die Strafbarkeit auf. Da hatte sich das Land gerade von der Christine Keeler Affäre (die hier einen langen Post hat) erholt, jetzt haben sie es wieder mir Sex zu tun.

Nach seiner Zeit als Adjutant, Butler und Faktotum von Lord Wavell wird Peter Coats Redakteur von House & Garden. Plant Gartenanlagen, photographiert Gärten. Und schreibt ein halbes Dutzend Bücher über englische Gärten und Rosenzucht. Und seine Memoiren. Wenn man sich den Index von Of Generals and Gardens betrachtet, dann hat er in den dreißiger und vierziger Jahren jeden von Bedeutung gekannt. Von Churchill bis Ian Fleming, von Gandhi bis Lord Mountbatten. Das ganze Buch besteht aus name dropping, viel tiefer geht es nicht. Jeder, der in Eton war, kommt hier vor. Bis auf George Orwell, aber der lebte in einer ganz anderen Welt als Peter Coats. 

Wenn man über die dreißiger Jahre in England mehr als diese Oberflächlichkeit haben will, dann sollte man das Buch The Long Week-End von Robert Graves und Alan Hodge lesen. Diese Social History of Great Britain 1918-1939 ist eins der besten Bücher über diese Zeit. Robert Graves hat hier schon einen Post, und zu Alan Hodge sollte man noch sagen, dass er der Ghostwriter für Churchills History of the English Speaking Peoples war. Ohne Hodge hätte Churchill seinen Literaturnobelpreis wohl nicht bekommen. Man könnte natürlich auch noch zur Literatur greifen, also zu Romanen wie Brideshead Revisited oder dem Romanzyklus A Dance to the Music of Time von Anthony Powell. Ich hatte von Of Generals and Gardens mehr erwartet, aber ich habe ja glücklicherweise nur elf Euro dafür bezahlt.

Montag, 6. Januar 2025

Studienfreunde

Je älter man wird, desto mehr Freunde und Bekannte muss man im Adressbuch streichen. Nun ist gerade der Ahab im Alter von dreiundachtzig Jahren gestorben. Den Namen Ahab hatte er von uns bekommen, weil er an einer Doktorarbeit über Melvilles Kapitän Ahab arbeitete. Er nannte mich nicht Jay, wie mich die Fußballmannschaft des Seminars nannte, er nannte mich Doktor. Weil ich so gelehrt war. In meinem Wohnzimmer ist etwas, was mich jeden Tag an ihn erinnert: selbstgebaute Bücherregale, System Ahab. Spanplatte, fünfzig mal fünfzig, gut verleimt und dann sorgfältig weiß lackiert. Wenn man sie fachgerecht baute, konnte man sie stapeln, bei mir nehmen sie eine ganze Wand ein. Er hat mir auf seinem Dachboden beigebracht, wie man sie ordentlich baute, sein Kistensystem steht schon in dem Post Books Do Furnish a Room

Er konnte nicht nur Bücherkisten bauen, er war ein sehr guter Philologe. Neben dem großen Latinum hatte er noch das Graecum, weil er auch Theologie studierte. Als er die Nazivergangenheit eines Theologieprofessors öffentlich beklagt hatte, schrieb der ihm in einem Brief: Sie sind nie mein Schüler gewesen. Mit Ausrufezeichen. Ich sagte ihm: Ahab, lass Dir diesen Satz einrahmen. Er hatte riesige Mengen von Zettelkästen, in denen er auf DIN A 6 Karten alles über Melville und Moby-Dick sammelte. So etwas tat man in den Tagen vor dem Computer. Meine Zettelkästen aus dem Fach Kunstgeschichte habe ich immer noch. Seine etwas monomanische Beschäftigung mit Kapitän Ahab mündete 1972 in seiner Doktorarbeit Melvilles Ahab und das Problem des Bösen, gesehen im Kontext des Gesamtwerks und im Lichte der Forschung

Doch in seinen Zettelkästen war noch viel, viel mehr gewesen, schließlich hatte er jahrelang die Fernleihe der Universitätsbibliothek damit beschäftigt, ihm alles aus Amerika zu beschaffen, was dort über Melville geschrieben worden war. Und so konnte er 1974 in der renommierten Reihe Wege der Forschung der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft den Band Herman Melville präsentieren, in dem auf 540 Seiten alles Wichtige stand, was die Forschung damals über Melville wusste. Da stand neben seinem Namen Hartmut Krüger noch der Name Paul G. Buchloh auf dem Buch, aber außer dem Namen hatte der Professor für dieses Buch nichts beigetragen. Das war für uns damals in den 68er Tagen immer so, wir fingen als Ghostwriter an.

Wir waren Studienfreunde, aber wir konnten unterschiedlicher nicht sein. Ich war beim Heer gewesen, er bei der Luftwaffe. Ich war in der Fußballmannschaft des Seminars, er trieb keinen Sport. Ich war auf jeder Demo, er war da selten zu sehen. Ich hatte immer kleine Liebesaffären (die Sie aus diesem Blog schon kennen), er lebte weitgehend als Junggeselle. Aber uns einte, dass wir Pfeife rauchten und Kunden von Trennt waren. Und dass wir diese unbedingte Liebe zur Literatur hatten. Und nach neuen Wegen der Interpretation suchten. Man muss die Interpretation von Texten auf eine philosophische Basis stellen, sagte Ahab im Colloquium und warf das schicksalsschwere Wort Hermeneutik in den Raum. Das erschütterte den Professor, der in den Semesterferien Das Kapital von Karl Marx gelesen hatte, um gegen die revoltierenden Studenten gewappnet zu sein. Nun auch noch Hermeneutik? Aber er war aufgeschlossen gegenüber allem Neuen, erst Marshall McLuhan, jetzt Hermeneutik. Er holte sich den Theologieprofessor Heinrich Kraft mit ins Boot, der ein besserer Philologe war als er, und machte ein Wochenendseminar fernab von der Uni. 

Während Ahab noch mit Heinrich Kraft und Peter Freese diskutierte, wanderten Georg und ich über den zugefrorenen und verschneiten Mözener See. Georg trug trotz der Kälte nur ein englisches Tweedjackett über seinem Rollkragenpullover, er ist ein halber Engländer, die sind zäh. Wir redeten über Gott und die Welt. Die Tagung war sicher auf einem hohen philosophischen und theologischen Niveau, aber unser Spaziergang in der Kälte angesichts der erhabenen weißgestrichenen Natur bleibt mir unvergesslich. Man brauchte solche Sachen, um der hochgeistigen Atmosphäre zu entkommen. In der Nacht zuvor hatten wir unter der Leitung von Noli Köhnke alle Strophen von Lily the Pink in den Duschräumen gesungen. Auch das musste sein, nur Hermeneutik geht nicht.

Ahab hatte irgendwann seine Zurückhaltung gegenüber dem weiblichen Geschlecht aufgegeben, war sich aber nicht sicher, ob das mit seiner neuesten Zufallsbekanntschaft etwas werden würde. Er fing eine lange Diskussion mit mir darüber an, in langen Diskussionen war er gut. Das haben Theologen gelernt. Ich hörte mir das eine Stunde mehr oder weniger schweigend an. Stand dann auf und sagte: Ich bin kein Fachmann, die Gudrun hat mich gerade verlassen und ist mit einem Typ nach Mexiko. Aber wenn Du diese hübsche und nette Frau nicht behältst, bist Du total bescheuert. Etwas Besseres bekommt Du in Deinem Leben wahrscheinlich nicht. Er hat auf mich gehört, es wurde eine glückliche Ehe.

Er war Lehrer geworden wie beinahe alle meine Studienfreunde. Der Noli aus unserer Clique, mit dem Ahab und ich diesen furchtbaren österreichischen Stroh Rum tranken, wurde noch Direktor eines Gymnasiums. Die Gila, mit der ich in einer ganz anderen lebenslustigeren Clique zusammen war, auch. Ahab hatte sich in seinem Heimatort eine kleine heruntergekommene Villa gekauft und die in jahrzehntelanger Arbeit liebevoll restauriert. Er hat sie vor Jahren verkauft und zog in ein Haus auf dem Barockgut Lebrade. Wahrscheinlich, um den Pferden näher zu sein. Er rief mich an, weil er wusste, dass ich alles über die englische Herrenmode weiß, um mich nach der korrekten Kleidung beim Fahrsport zu fragen. Trage das, was Prince Philip trägt, sagte ich ihm, dann machst Du keinen Fehler. Der Philip war ja im Alter auch dem Kutschensport verfallen. 

Auf seiner Todesanzeige in der Zeitung steht das schöne Wort von Augustinus: Du hast uns zu dir geschaffen, Herr, und unser Herz ist unruhig, bis es ruht in dir. Seine Familie hätte ja auch ein Zitat aus Melvilles Moby-Dick nehmen können. So etwas wie I know not all that may be coming, but be it what it will, I'll go to it laughing.

Samstag, 4. Januar 2025

das Thomas Mann Jahr


Kaum ist das Caspar David Friedrich Jahr zuende, da haben wir ein Thomas Mann Jahr. Sagt uns die Thomas Mann Gesellschaft. Die haben für das Ereignis extra eine Seite eingerichtet. Jubiläen und kein Ende: Jedes Jahr gibt es Geburts- und Todestage bedeutender Menschen der Geschichte zu begehen. Was feiern wir da eigentlich? Geht uns der 6. Juni 1875, an dem Thomas Mann geboren wurde, heute noch etwas an? fragt sich Marie Schmidt in der Süddeutschen. Die Antwort auf diese Frage erfahren wir leider nicht, da müssten wir die Süddeutsche schon abonnieren. Muss man Thomas Mann neu entdecken? Es ist doch schon alles gesagt, die Sekundärliteratur zu seinem Werk ist kilometerlang. Die Bibliographie Fifty Years of Thomas Mann Studies enthielt 1955 schon 217 Seiten. Zu seinem hundertsten Geburtstag soll die Zahl der Publikationen angeblich schon auf 20.000 Titel angewachsen zu sein.

Wir wissen beinahe alles über Manns Leben. Nicht nur weil Heinrich Breloer den dreiteiligen Film ✺Die Manns – Ein Jahrhundertroman (ich habe hier den ersten Teil für Sie) gedreht hat, nein, es gibt genügend Biographien. Arthur Eloesser schrieb 1925 die erste zum fünfzigsten Geburtstag des Schriftstellers, Klaus Harpprecht schrieb siebzig Jahre später eine Monsterbiographie von 2.253 Seiten. Dazu hat der NDR im selben Jahr eine ✺Doku gesendet. Zu dem Zeitpunkt gab es schon die zweiteilige Biographie von Peter de Mendelssohn Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann (zum hundertsten Geburtstag Thomas Manns 1975) und Jahre der Schwebe (nach dem Tod von de Mendelsohn 1992).

Niemand von uns weiß, wie, in welchem Rang er vor der Nachwelt stehen, vor der Zeit bestehen wird. Wenn ich einen Wunsch für den Nachruhm meines Werkes habe, so ist es der, man möge davon sagen, daß es lebensfreundlich ist, obwohl es vom Tode weiß, hat Thomas Mann an seinem fünfzigsten Geburtstag gesagt. Da hatte er gerade den Zauberberg veröffentlicht, er wusste, was er geschrieben hatte. Der Drang nach eigener Größe war in seinen Stil gewandert. Den Nobelpreis, der für seinen Nachruhm sorgt, wird er vier Jahre später erhalten. 

Geht uns der 6. Juni 1875, an dem Thomas Mann geboren wurde, heute noch etwas an? Noch einmal diese Frage. Meine Antwort ist, dass ich es nicht weiß. Im Caspar David Friedrich Jubiläumsjahr habe ich zehn Mal über den Maler geschrieben, über Thomas Mann werde ich in diesem Jahr bestimmt nichts schreiben. Ich habe fünf Biographien über ihn gelesen, aber er bleibt mir fremd. Es fällt mir schwer, ein Werk von Thomas Mann zum zweiten Mal zu lesen. Das ist bei Theodor Fontane, von dem der junge Lübecker so viel gelernt hat, ganz anders. Den kann ich immer wieder lesen. Das manierierte Werk von Thomas Mann, das immer bedeutender sein will, als es ist, überpudert mit ein wenig Ironie, brauche ich nicht unbedingt. Zugegeben, ich habe große Teile des Zauberberg noch einmal gelesen, als ich Magic Mountain schrieb. Aber man liest Thomas Mann beim zweiten Mal nicht mehr mit dem Vergnügen, das man beim Wiederlesen von Proust oder Joseph Conrad empfindet. Oder Tolstoi. Weil ich ja jetzt Krieg und Frieden zum dritten Mal lese.


Der Zweitausendeins Verlag schrieb vor Tagen in einer Merkmail (ein sonderbares Wort): In zwei Tagen beginnt das Thomas Mann-Jahr 2025, und es gibt wohl kaum eine gelungenere Einstimmung, als sich gemeinsam mit anderen Literaturbegeisterten eine der großen Verfilmungen von Werken des Zauberers anzuschauen. Die neu zusammengestellte Box Thomas Mann Jahrhundert-Edition bietet auf 19 DVDs das perfekte Angebot dafür. Die 'Buddenbrooks' sind mit gleich zwei Verfilmungen vertreten, natürlich 'Der Zauberberg', 'Doktor Faustus' und 'Felix Krull', aber auch Verfilmungen von Novellen wie 'Wälsungenblut' und 'Unordnung und frühes Leid'. Als Neuerscheinung frisch bei uns eingetroffen. Das Ganze kostet im Jubeljahr statt 149,99 € nur noch 89,99 €. 

Als ich noch an der Uni war, habe ich mich längere Zeit mit dem Problem der Literaturverfilmung beschäftigt. Sie könnten dazu jetzt den Post The Go-Between lesen, der ist nicht original für diesen Blog geschrieben; der stand schon mal in einem Buch, in dem es um dieses Thema ging. Die Anpreisung des Zweitausendeins Verlags, es gibt wohl kaum eine gelungenere Einstimmung, als sich gemeinsam mit anderen Literaturbegeisterten eine der großen Verfilmungen von Werken des Zauberers anzuschauen, würde ich als Literaturwissenschaftler (der ich einmal war) und als Filmkritiker (der ich immer noch bin) nicht unterschreiben. Das Photo hier stammt aus der ersten Buddenbrooks Verfilmung aus dem Jahre 1923. Sie hat Thomas Mann nicht gefallen: strohdummes und sentimentales Kino-Drama hat er sie genannt. Wenn Sie diesen Film einmal sehen wollen, dann klicken Sie ✺hier den über hundert Jahre alten Film an.

Wenn dies ein strohdummes und sentimentales Kino-Drama ist, dann ist vieles von dem perfekten Angebot der 19 DVD Cassette nicht viel besser. ✺Wälsungenblut (hier ein Filmphoto) fiele mir als erstes ein. Der Spiegel schrieb damals dazu: Aus zwei Novellen des Nobelpreis-Dichters und Dekadenz-Spezialisten Thomas Mann destillierte der Cheferotiker des deutschen Kinos, Rolf Thiele, die Story für den 1,2-Millionen-Film. Die Zwillinge Siegmund und Sieglinde (Michael Maien und Elena Nathanael), in mehr als geschwisterlicher Zuneigung und Zärtlichkeit einander zugetan, imitieren auf einem großen Eisbärfell den Inzest, den sie in Wagners 'Walküre' mit angesehen hatten

Das Beste, das man mit der neu zusammengestellte Box Thomas Mann Jahrhundert-Edition machen kann, ist, sie nicht zu kaufen.Verzichten Sie auf deutsche Stars der Nachriegszeit wie Dieter Borsche, Ruth Leuwerik, Horst Buchholz, Liselotte Pulver, Lil Dagover, Werner Hinz, Hansjörg Felmy und Nadja Tiller. Kaufen Sie sich eine DVD von Luchino Viscontis Verfilmung von Tod in Venedig, oder sehen Sie den Film ✺hier an.

Thomas Mann liebte das Kino: Ich besuche sehr häufig Filmhäuser und werde des musikalisch gewürzten Schauvergnügens stundenlang nicht müde. Vor vierzig Jahren hat mir Fritz Güttinger erzählt, dass Kafka im Kino geweint hat, und dass Thomas Mann Bambi zweimal gesehen hat. Mit großer Rührung. Damals hatte Güttinger gerade die beiden Bände Der Stummfilm im Zitat der Zeit und Kein Tag ohne Kino für das Deutsche Filmmuseums fertiggestellt. Aus den beiden Bänden habe ich hier eine kleine Zitatsammlung.


In Lübeck wird es am 6. Juni 2025 einen Festakt geben. Bei mir gibt es im Thomas Mann Jahr gar nichts mehr zu ihm. Nur noch eine Auflistung der Posts, in denen er erwähnt wird: Magic Mountain, Gerhart Hauptmann, Fickfackerei, Dichtermode, Ralph Lauren Purple Label, Etikettenschwindel, Ungarn, Nidden, Friedenspfeife, Blauer Dunst, Wiesengrund, Rönnebeck, Manfred Hausmann, Frauen und Zigarren, Zauberberg, Joseph Conrad, Inseln und Badewannen, Segelboote, Lenbach, Rudolf Lorenzen, Theodor Storm, Søren Aabye Kierkegaard, Grand Hotel, Ernst Penzoldt, Wellen, Joachim Maass, Rudolf Sühnel und Eschi


Dienstag, 31. Dezember 2024

Jimmy Carter ✝


Abgesehen davon, dass die Ärmel zu lang waren, sah er richtig gut aus. Er ist der erste amerikanische Präsident im 20. Jahrhundert, der zu seiner Amtseinführung keinen Morning Coat mehr trägt. Das war ein symbolischer Akt, ähnlich dem von Tony Blair (oder hieß der Tony BLiar?). Als der sich das erste Mal vor der Nummer 10 der Downing Street photographieren ließ, trug er einen Anzug von Marks und Spencer. Ich bin einer von euch, sollte uns das sagen. Aber Blair trug den M&S Anzug nur für diesen symbolischen Auftritt, später nicht mehr. Jimmy Carter trug seinen 175 Dollar Anzug ständig weiter, ließ sich nie von Georges de Paris, dem Schneider der Präsidenten, einen neuen Anzug machen, ließ nur seine alten Anzüge ändern. Das hatte doch Stil.

Am Abend, bevor er sein Amt antrat, hielt ein Mann, der nicht zu seinen politischen Freunden gehörte, unerwartet auf dem Inauguration Ball eine kleine Rede: I have come here tonight to pay my respects to our 39th President, our new Commander-in-Chief and to wish you Godspeed, Sir, in the uncharted waters ahead. Starting tomorrow at high noon, all of our hopes and dreams go into that great house with you. For you have become our transition into the unknown tomorrows. And everyone is with you. I am privileged to be present and accounted for in this capital of freedom to witness history as it happens … to watch a common man accept uncommon responsibilities he won 'fair and square' by stating his case to the American people … not by bloodshed, beheadings, and riots at the palace gates. I know I am considered a member of the opposition … the Loyal Opposition … accent on Loyal. I’d have it no other way. In conclusion, may I add my voice to the millions of others all over the world who wish you well, Mr. President. All we ask is that you preserve this … one Nation … under God … with liberty and justice for all. And we have no doubt you will, Sir. Der Mann war John Wayne. Jimmy Carter hat ihm posthum die Presidential Medal of Freedom verliehen. Und über ihn gesagt: John Wayne spiegelte das Beste unseres nationalen Charakters wider. Aufgrund dessen, was John Wayne darüber sagte, wer wir sind und was wir sein können, wurde seine große und tiefe Liebe zu Amerika im vollen Maße erwidert.

Jimmy Carter war Marineoffizier gewesen (wie beinahe alle amerikanischen Präsidenten on der Zeit von 1961 bis 1993); nach dem Tod seines Vaters verließ er die Navy, um die Erdnuss- und Baumwollplantagen der Familie zu übernehmen. Er musste Kredite aufnehmen, um sich über Wasser zu halten. An die Politik dachte er noch nicht. Er spielte Gitarre und liebte die Country & Western Musik, das steht schon in dem Post ein anderes Amerika. Sie könnten sich jetzt auch noch bei arte den Dokumentarfilm Der Rock'n Roll Präsident von Mary Wharton ansehen, um zu sehen, dass Carter anders war als seine Vorgänger im Amt.

Carter wird seinen Freund Willie Nelson ins Weiße Haus einladen, der bringt Emmylou Harris mit, wie wir hier sehen können. Und vielleicht ist Carter auch wirklich nur im Weißen Haus, weil die Allman Brothers ihn im Wahlkampf unterstützt haben. In dem Film von Mary Wharton sagt Carter: I was practically a non-entity. But everyone knew the Allman Brothers. When they endorsed me, all the young people said, ‘Well, if the Allman Brothers like him, we can vote for him.'  Als er von seiner Partei als Präsidentschaftskandidat nominiert worden war, zitierte er Bob Dylan: We have an America that in Bob Dylan's phrase is 'busy being born, not busy dying'.

Irgendwann begann er, Gedichte zu schreiben. Die in renommierten Zeitschriften wie New England ReviewNew Orleans Review und North Dakota Review veröffentlicht wurden. I asked them not to take note of the fact that I had been President and they agreed. Sein Gedichtband Always a Reckoning and Other Poems wurde 1994 ein Bestseller. Sie können einige der Gedichte in dem Post Happy Birthday, Mr President lesen. Die Gedichte kreisen um seine Kindheit auf dem Lande, über die Beziehungen zwischen Schwarz und Weiß. Seine Enkeltocher hat das Buch mit Zeichnungen versehen. Ich habe hier noch Platz für ein Gedicht:

Considering the Void

When I behold the charm
of evening skies, their lulling endurance;
the patterns of stars with names
of bears and dogs, a swan, a virgin;
other planets that the Voyager showed
were like and so unlike our own,
with all their diverse moons,
bright discs, weird rings, and cratered faces;
comets with their streaming tails
bent by pressure from our sun;
the skyscape of our Milky Way
holding in its shimmering disc
an infinity of suns
(or say a thousand billion);
knowing there are holes of darkness
gulping mass and even light,
knowing that this galaxy of ours
is one of multitudes
in what we call the heavens,
it troubles me. It troubles me.


Carter (hier mit dem jungen Joe Biden im Wahlkampf 1976) wurde Präsident, weil er politisch ein Unbekannter war, ein neues Gesicht, I was practically a non-entity.. Der kleine Erdnussfarmer aus Georgia, der nichts mit Politikern wie Nixon zu tun hatte. Ich werde euch nicht belügen, hatte er im Wahlkampf gesagt. Jahrzehnte später hat er in einem Interview gesagt, man müsse von Zeit zu Zeit white lies gebrauchen. Seine Amtszeit war, wenn man von dem Camp David Abkommen und seinem Kampf für die Bürgerrechte absieht, ziemlich glücklos. Er hatte zu wenig politische Erfahrung und zu wenige kompetente Berater, um mit Massenarbeitslosigkeit, Ölkrise, steigenden Benzinpreisen und internationalen Krisen fertig zu werden. Er konnte sich auch nicht gut verkaufen, Fernsehansprachen waren nicht sein Ding. Manche Journalisten beklagten, dass viele sein Südstaatenenglisch nicht verständen. Aber wenn man sich die Tondokumente anhört, dann haben zehn Jahre bei der Navy viel von dem Akzent weggebügelt, den seine Familie in Georgia noch sprach. 

Jimmy Carters wahres Leben fängt erst an, als seine Präsidentschaft aufhört. Jetzt wird er Diplomat in eigener Regie, Kämpfer für die Menschenrechte, Vermittler in internationalen Konflikten. Mit dem Carter Center und seinem diplomatischen Geschick hat er mehr erreicht als manche seiner Nachfolger im Präsidentenamt. Dafür erhielt er im Jahre 2002 den Friedensnobelpreis. In seiner Rede wird er am Ende sagen: War may sometimes be a necessary evil. But no matter how necessary, it is always an evil, never a good. We will not learn how to live together in peace by killing each other’s children. The bond of our common humanity is stronger than the divisiveness of our fears and prejudices. God gives us the capacity for choice. We can choose to alleviate suffering. We can choose to work together for peace. We can make these changes – and we must.

Das hat immer noch Bedeutung, jedes Wort davon. Carter hatte Glück, dass Amerika in seiner Amtszeit keinen Krieg zu führen brauchte. President Joe Biden hat ein Staatsbegräbnis angeordnet. Und hat den 9. Januar zu einem nationalen Trauertag zu Ehren von Jimmy Carter erklärt. In seiner Botschaft aus dem Weißen Haus schrieb er: Today, America and the world lost an extraordinary leader, statesman, and humanitarian. Over six decades, we had the honor of calling Jimmy Carter a dear friend. But, what’s extraordinary about Jimmy Carter, though, is that millions of people throughout America and the world who never met him thought of him as a dear friend as well. With his compassion and moral clarity, he worked to eradicate disease, forge peace, advance civil rights and human rights, promote free and fair elections, house the homeless, and always advocate for the least among us. He saved, lifted, and changed the lives of people all across the globe. Das erste, was ich dachte, als ich hörte, dass Jimmy Carter gestorben sei, war, dass es gut so sei. Er braucht das, was mit Donald Trump kommt, nicht mehr zu erleben. 

Ich wünsche all meinen Lesern ein schönes neues Jahr. Möge all das kommen, worauf wir hoffen und wofür wir beten.

Samstag, 28. Dezember 2024

Jever: Bier und Kiebitzeier

Nachdem Fürst Friedrich August von Anhalt-Zerbst ohne männlichen Nachkommen verstorben ist, wird das Fürstentum Anhalt-Zerbst auf die verbleibenden Linien Anhalt-Dessau, Anhalt-Köthen und Anhalt-Bernburg aufgeteilt. Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau gewinnt per Los die Stadt Zerbst. Das war heute vor 227 Jahren. Steht so in der Wikipedia, die gerade mal wieder um Spendengelder wirbt. Auch wenn sich die Fürsten bei der Verteilung der Ländereien einig sind, etwas geht verloren. Und das ist das Lehen Jever, dieser ganz keine gelbe Fleck am Jadebusen. Das fällt, weil es ein Kunkellehen (welch schönes Wort) ist, an die Zarin Katharina

Jever kennen Sie wegen des Biers. Ich weiß nicht, ob es das schon gab, als Jever russisch war. Aber Bismarck hat mal in Jever Bier vom  vom Friesischen Brauhaus zu Jever getrunken. Und zu ihm hatte man in Jever ein besonderes Verhältnis: jedes Jahr bekam er von den Getreuen von Jever 101 Kiebitzeier. Fremdenführer werden nie aufhören, diese Geschichte zu erzählen. Es gibt in Jever auch ein schönes Schloss, das eine Besichtigung lohnt. Wenn Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau, der Zerbst per Los gewonnen hat,  auf Jever verzichten muss, tut ihm das nicht so weh.

Ihn zieht es eher nach England als nach Ostfriesland. Weil da englische Exzentriker wie William Beckford und Horace Walpole in Fragen von Kunst und Kultur den Ton angeben. Beckford ist Walpole in vielem ähnlich. Er macht auch die Grand Tour und schreibt darüber, baut auch ein neugotischen Gebäude, schreibt mit Vathek auch eine gothic novel. Als er vier oder fünf Jahre alt ist, wird er angeblich von Mozart unterrichtet (und angeblich hat Mozart die Melodie, die der kleine William Beckford spielte, später zu der Arie Non più andrai, farfallone amoroso verarbeitet), das kann Walpole nicht von sich sagen. Aber der eröffnet da schon sein Strawberry Hill, und der Fürst von Anhalt-Dessau ist anwesend. Dieser Leopold von Anhalt-Dessau ist ein Enkel vom alten Dessauer, und er ist ganz stark von der Anglomanie befallen. Diese Krankheit grassiert jetzt zum ersten Mal in Europa, weil die Engländer kulturell plötzlich Exportgüter haben: die englische Mode, der neu erfundene Regenschirm, der englische Roman, der englische Landschaftsgarten, der Palladian Style und jetzt noch die Neugotik.

Leopold ist mit seinem Freund Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff ständig auf Bildungsreisen, und Erdmannsdorf wird ihm später alles bauen, was man in England so sieht. Hauptsächlich klassizistisch, aber mit dem Gotischen Haus auch etwas Neugotisches wie Walpoles Strawberry Hill. Leopolds Imitator in puncto Landschaftsgarten und Schlossbauten ist der berühmte Fürst Pückler. Der ist zwar auch Fürst, aber er hat im Gegensatz zu Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau kein Fürstentum. 

Von seiner Anglomanie abgesehen, hängt Leopold auch an den Gedanken der Aufklärung. Er ist einer der wenigen deutschen Fürsten in dieser Zeit, die eine Politik der Toleranz betreiben, und er wird aus Anhalt-Dessau einen kleinen Musterstaat machen. Dafür sind seine Untertanen ihrem Vater Franz ewig dankbar. Und seine Parks, das Gartenreich Dessau-Wörlitz, sind heute Weltkulturerbe. Da kann man auch auf Jever, das Bier und die Kiebitzeier verzichten. Die Muskauer Parks von Pückler sind auch Weltkulturerbe, aber der hat sich durch seine Anglomanie finanziell völlig ruiniert. Hat uns allerdings diese wunderbaren Briefe eines Verstorbenen hinterlassen, die jeder Englandliebhaber lesen muss. Wenn man nicht alle Bände lesen will, dann sollte man zu der von Heinz Ohff (der mit Der grüne Fürst auch eine nette Pückler Biographie geschrieben hat) edierten Ausgabe greifen. Die tausend Seiten reichen vielleicht auch.

Ein Teil dieses Posts stand hier schon in meinem ersten Bloggerjahr. Damals dachte ich daran, einmal länger über den anglomanen Leopold zu schreiben. Habe ich nicht getan, aber alles, was in den fettgedruckten Links über die Grand Tour, die englische Mode, die Neugotik und den Landschaftsgarten steht, das habe ich dann doch geschrieben.


Dienstag, 24. Dezember 2024

wīhenachten


Der den himmel zieret, 
So wunneklich florieret. 
Mit dem gestirne priset 
Und iegliches wiset  
Uff sinen weg nacht und tag, 
Das es verirren nüt enmag. 
Der wise och und richte 
Zedern besten min gedichte 
Uff sinen weg den rechten leer: 
So wil ich, genant Wernher, 
Den ungelerten lüten 
Mit warhait hie betüten

So fängt der Dichter, der Wernher genannt wird, sein →Marienleben an. Mit dem er den ungelerten lüten die warhait betüten will. Aus dem Wort →betüten wird unser Wort bedeuten werden, wir sind hier noch im 14. Jahrhundert. Die Sprache nennen wir Mittelhochdeutsch, dazu gibt es in diesem Blog schon die Posts Frauenlob und Hugo von Montfort. Man muss sich ein wenig einlesen, wenn man zu den ungelerten lüten gehört und nicht im Studium der Germanistik ein Proseminar Mittelhochdeutsch besucht hat. Aber mit ein bisschen gutem Willen kann man den Text schon verstehen. Und deshalb gibt es heute die Weihnachtsgeschichte in der Fassung dieses Wernher, über den man so gut wie nichts weiß. Und wenn sie auf dieser Seite die Buchstaben PDF anklicken, können Sie das ganze Werk lesen.

Uber allú lant gar verre hin,
Vil me denn aller sternen schin.
Ob dem huse tett er das
Indem das kindelin do was.
Ain anders ich hie sagen wil.
Des volkes was unmassen vil
Inder stat gesamenot
Von des kaisers gebot,
Und kam och gar vil viches dar
Mit inen uf der selben var,
Das inder stat wart enge
Und allenthalb gedrenge.
Dar umb man zevelde traib
Das vich und vor der stat es belaib,
Und gabent in zehůte
Frume lúte gůte,
Die da mit soltent varn,
Mit gůter hůt es wol bewarn,
Das haimsche mit dem froͤmden gar,
Das von dem lande was komen dar:
Die fůrend uf die haide
Invollent gůte waide.
Der selben nacht in all gemain
Ain michel schoͤnes liecht erschain,
Da mit ain engel here.
Des erschrakend sú vil sere.
 ‘Lant úwer fúrchten sin,
Niement tůt úch kain pin!
Ich tůn úch gross froͤd kunt,
Wan úch ist hút zedirre stunt
Der welte behalter geborn
ZeBethlechem inder stat Davides userkorn.
Das ich úch sag, das wirt bekant
Allem volk durch allú lant.
Das sol úch ain zaichen sin:
Ir werdent vinden das kindelin
Intuͤchelú gewunden sa
Und ligent inder krippe da
Vor esel und vor rinde,
Und bi dem selben kinde
Mariam sin můter,
Pfleger und hůter.' 
Vil ander engel kament dar 
Und sungent wunnekliche gar 
Got ain lob sunder userkorn 
Als dort da er was geborn 


Ich wünsche all meinen Lesern ein frohes Weihnachtsfest.