Montag, 6. Januar 2025

Studienfreunde

Je älter man wird, desto mehr Freunde und Bekannte muss man im Adressbuch streichen. Nun ist gerade der Ahab im Alter von dreiundachtzig Jahren gestorben. Den Namen Ahab hatte er von uns bekommen, weil er an einer Doktorarbeit über Melvilles Kapitän Ahab arbeitete. Er nannte mich nicht Jay, wie mich die Fußballmannschaft des Seminars nannte, er nannte mich Doktor. Weil ich so gelehrt war. In meinem Wohnzimmer ist etwas, was mich jeden Tag an ihn erinnert: selbstgebaute Bücherregale, System Ahab. Spanplatte, fünfzig mal fünfzig, gut verleimt und dann sorgfältig weiß lackiert. Wenn man sie fachgerecht baute, konnte man sie stapeln, bei mir nehmen sie eine ganze Wand ein. Er hat mir auf seinem Dachboden beigebracht, wie man sie ordentlich baute, sein Kistensystem steht schon in dem Post Books Do Furnish a Room

Er konnte nicht nur Bücherkisten bauen, er war ein sehr guter Philologe. Neben dem großen Latinum hatte er noch das Graecum, weil er auch Theologie studierte. Als er die Nazivergangenheit eines Theologieprofessors öffentlich beklagt hatte, schrieb der ihm in einem Brief: Sie sind nie mein Schüler gewesen. Mit Ausrufezeichen. Ich sagte ihm: Ahab, lass Dir diesen Satz einrahmen. Er hatte riesige Mengen von Zettelkästen, in denen er auf DIN A 6 Karten alles über Melville und Moby-Dick sammelte. So etwas tat man in den Tagen vor dem Computer. Meine Zettelkästen aus dem Fach Kunstgeschichte habe ich immer noch. Seine etwas monomanische Beschäftigung mit Kapitän Ahab mündete 1972 in seiner Doktorarbeit Melvilles Ahab und das Problem des Bösen, gesehen im Kontext des Gesamtwerks und im Lichte der Forschung

Doch in seinen Zettelkästen war noch viel, viel mehr gewesen, schließlich hatte er jahrelang die Fernleihe der Universitätsbibliothek damit beschäftigt, ihm alles aus Amerika zu beschaffen, was dort über Melville geschrieben worden war. Und so konnte er 1974 in der renommierten Reihe Wege der Forschung der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft den Band Herman Melville präsentieren, in dem auf 540 Seiten alles Wichtige stand, was die Forschung damals über Melville wusste. Da stand neben seinem Namen Hartmut Krüger noch der Name Paul G. Buchloh auf dem Buch, aber außer dem Namen hatte der Professor für dieses Buch nichts beigetragen. Das war für uns damals in den 68er Tagen immer so, wir fingen als Ghostwriter an.

Wir waren Studienfreunde, aber wir konnten unterschiedlicher nicht sein. Ich war beim Heer gewesen, er bei der Luftwaffe. Ich war in der Fußballmannschaft des Seminars, er trieb keinen Sport. Ich war auf jeder Demo, er war da selten zu sehen. Ich hatte immer kleine Liebesaffären (die Sie aus diesem Blog schon kennen), er lebte weitgehend als Junggeselle. Aber uns einte, dass wir Pfeife rauchten und Kunden von Trennt waren. Und dass wir diese unbedingte Liebe zur Literatur hatten. Und nach neuen Wegen der Interpretation suchten. Man muss die Interpretation von Texten auf eine philosophische Basis stellen, sagte Ahab im Colloquium und warf das schicksalsschwere Wort Hermeneutik in den Raum. Das erschütterte den Professor, der in den Semesterferien Das Kapital von Karl Marx gelesen hatte, um gegen die revoltierenden Studenten gewappnet zu sein. Nun auch noch Hermeneutik? Aber er war aufgeschlossen gegenüber allem Neuen, erst Marshall McLuhan, jetzt Hermeneutik. Er holte sich den Theologieprofessor Heinrich Kraft mit ins Boot, der ein besserer Philologe war als er, und machte ein Wochenendseminar fernab von der Uni. 

Während Ahab noch mit Heinrich Kraft und Peter Freese diskutierte, wanderten Georg und ich über den zugefrorenen und verschneiten Mözener See. Georg trug trotz der Kälte nur ein englisches Tweedjackett über seinem Rollkragenpullover, er ist ein halber Engländer, die sind zäh. Wir redeten über Gott und die Welt. Die Tagung war sicher auf einem hohen philosophischen und theologischen Niveau, aber unser Spaziergang in der Kälte angesichts der erhabenen weißgestrichenen Natur bleibt mir unvergesslich. Man brauchte solche Sachen, um der hochgeistigen Atmosphäre zu entkommen. In der Nacht zuvor hatten wir unter der Leitung von Noli Köhnke alle Strophen von Lily the Pink in den Duschräumen gesungen. Auch das musste sein, nur Hermeneutik geht nicht.

Ahab hatte irgendwann seine Zurückhaltung gegenüber dem weiblichen Geschlecht aufgegeben, war sich aber nicht sicher, ob das mit seiner neuesten Zufallsbekanntschaft etwas werden würde. Er fing eine lange Diskussion mit mir darüber an, in langen Diskussionen war er gut. Das haben Theologen gelernt. Ich hörte mir das eine Stunde mehr oder weniger schweigend an. Stand dann auf und sagte: Ich bin kein Fachmann, die Gudrun hat mich gerade verlassen und ist mit einem Typ nach Mexiko. Aber wenn Du diese hübsche und nette Frau nicht behältst, bist Du total bescheuert. Etwas Besseres bekommt Du in Deinem Leben wahrscheinlich nicht. Er hat auf mich gehört, es wurde eine glückliche Ehe.

Er war Lehrer geworden wie beinahe alle meine Studienfreunde. Der Noli aus unserer Clique, mit dem Ahab und ich diesen furchtbaren österreichischen Stroh Rum tranken, wurde noch Direktor eines Gymnasiums. Die Gila, mit der ich in einer ganz anderen lebenslustigeren Clique zusammen war, auch. Ahab hatte sich in seinem Heimatort eine kleine heruntergekommene Villa gekauft und die in jahrzehntelanger Arbeit liebevoll restauriert. Er hat sie vor Jahren verkauft und zog in ein Haus auf dem Barockgut Lebrade. Wahrscheinlich, um den Pferden näher zu sein. Er rief mich an, weil er wusste, dass ich alles über die englische Herrenmode weiß, um mich nach der korrekten Kleidung beim Fahrsport zu fragen. Trage das, was Prince Philip trägt, sagte ich ihm, dann machst Du keinen Fehler. Der Philip war ja im Alter auch dem Kutschensport verfallen. 

Auf seiner Todesanzeige in der Zeitung steht das schöne Wort von Augustinus: Du hast uns zu dir geschaffen, Herr, und unser Herz ist unruhig, bis es ruht in dir. Seine Familie hätte ja auch ein Zitat aus Melvilles Moby-Dick nehmen können. So etwas wie I know not all that may be coming, but be it what it will, I'll go to it laughing.

Samstag, 4. Januar 2025

das Thomas Mann Jahr


Kaum ist das Caspar David Friedrich Jahr zuende, da haben wir ein Thomas Mann Jahr. Sagt uns die Thomas Mann Gesellschaft. Die haben für das Ereignis extra eine Seite eingerichtet. Jubiläen und kein Ende: Jedes Jahr gibt es Geburts- und Todestage bedeutender Menschen der Geschichte zu begehen. Was feiern wir da eigentlich? Geht uns der 6. Juni 1875, an dem Thomas Mann geboren wurde, heute noch etwas an? fragt sich Marie Schmidt in der Süddeutschen. Die Antwort auf diese Frage erfahren wir leider nicht, da müssten wir die Süddeutsche schon abonnieren. Muss man Thomas Mann neu entdecken? Es ist doch schon alles gesagt, die Sekundärliteratur zu seinem Werk ist kilometerlang. Die Bibliographie Fifty Years of Thomas Mann Studies enthielt 1955 schon 217 Seiten. Zu seinem hundertsten Geburtstag soll die Zahl der Publikationen angeblich schon auf 20.000 Titel angewachsen zu sein.

Wir wissen beinahe alles über Manns Leben. Nicht nur weil Heinrich Breloer den dreiteiligen Film ✺Die Manns – Ein Jahrhundertroman (ich habe hier den ersten Teil für Sie) gedreht hat, nein, es gibt genügend Biographien. Arthur Eloesser schrieb 1925 die erste zum fünfzigsten Geburtstag des Schriftstellers, Klaus Harpprecht schrieb siebzig Jahre später eine Monsterbiographie von 2.253 Seiten. Dazu hat der NDR im selben Jahr eine ✺Doku gesendet. Zu dem Zeitpunkt gab es schon die zweiteilige Biographie von Peter de Mendelssohn Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann (zum hundertsten Geburtstag Thomas Manns 1975) und Jahre der Schwebe (nach dem Tod von de Mendelsohn 1992).

Niemand von uns weiß, wie, in welchem Rang er vor der Nachwelt stehen, vor der Zeit bestehen wird. Wenn ich einen Wunsch für den Nachruhm meines Werkes habe, so ist es der, man möge davon sagen, daß es lebensfreundlich ist, obwohl es vom Tode weiß, hat Thomas Mann an seinem fünfzigsten Geburtstag gesagt. Da hatte er gerade den Zauberberg veröffentlicht, er wusste, was er geschrieben hatte. Der Drang nach eigener Größe war in seinen Stil gewandert. Den Nobelpreis, der für seinen Nachruhm sorgt, wird er vier Jahre später erhalten. 

Geht uns der 6. Juni 1875, an dem Thomas Mann geboren wurde, heute noch etwas an? Noch einmal diese Frage. Meine Antwort ist, dass ich es nicht weiß. Im Caspar David Friedrich Jubiläumsjahr habe ich zehn Mal über den Maler geschrieben, über Thomas Mann werde ich in diesem Jahr bestimmt nichts schreiben. Ich habe fünf Biographien über ihn gelesen, aber er bleibt mir fremd. Es fällt mir schwer, ein Werk von Thomas Mann zum zweiten Mal zu lesen. Das ist bei Theodor Fontane, von dem der junge Lübecker so viel gelernt hat, ganz anders. Den kann ich immer wieder lesen. Das manierierte Werk von Thomas Mann, das immer bedeutender sein will, als es ist, überpudert mit ein wenig Ironie, brauche ich nicht unbedingt. Zugegeben, ich habe große Teile des Zauberberg noch einmal gelesen, als ich Magic Mountain schrieb. Aber man liest Thomas Mann beim zweiten Mal nicht mehr mit dem Vergnügen, das man beim Wiederlesen von Proust oder Joseph Conrad empfindet. Oder Tolstoi. Weil ich ja jetzt Krieg und Frieden zum dritten Mal lese.


Der Zweitausendeins Verlag schrieb vor Tagen in einer Merkmail (ein sonderbares Wort): In zwei Tagen beginnt das Thomas Mann-Jahr 2025, und es gibt wohl kaum eine gelungenere Einstimmung, als sich gemeinsam mit anderen Literaturbegeisterten eine der großen Verfilmungen von Werken des Zauberers anzuschauen. Die neu zusammengestellte Box Thomas Mann Jahrhundert-Edition bietet auf 19 DVDs das perfekte Angebot dafür. Die 'Buddenbrooks' sind mit gleich zwei Verfilmungen vertreten, natürlich 'Der Zauberberg', 'Doktor Faustus' und 'Felix Krull', aber auch Verfilmungen von Novellen wie 'Wälsungenblut' und 'Unordnung und frühes Leid'. Als Neuerscheinung frisch bei uns eingetroffen. Das Ganze kostet im Jubeljahr statt 149,99 € nur noch 89,99 €. 

Als ich noch an der Uni war, habe ich mich längere Zeit mit dem Problem der Literaturverfilmung beschäftigt. Sie könnten dazu jetzt den Post The Go-Between lesen, der ist nicht original für diesen Blog geschrieben; der stand schon mal in einem Buch, in dem es um dieses Thema ging. Die Anpreisung des Zweitausendeins Verlags, es gibt wohl kaum eine gelungenere Einstimmung, als sich gemeinsam mit anderen Literaturbegeisterten eine der großen Verfilmungen von Werken des Zauberers anzuschauen, würde ich als Literaturwissenschaftler (der ich einmal war) und als Filmkritiker (der ich immer noch bin) nicht unterschreiben. Das Photo hier stammt aus der ersten Buddenbrooks Verfilmung aus dem Jahre 1923. Sie hat Thomas Mann nicht gefallen: strohdummes und sentimentales Kino-Drama hat er sie genannt. Wenn Sie diesen Film einmal sehen wollen, dann klicken Sie ✺hier den über hundert Jahre alten Film an.

Wenn dies ein strohdummes und sentimentales Kino-Drama ist, dann ist vieles von dem perfekten Angebot der 19 DVD Cassette nicht viel besser. ✺Wälsungenblut (hier ein Filmphoto) fiele mir als erstes ein. Der Spiegel schrieb damals dazu: Aus zwei Novellen des Nobelpreis-Dichters und Dekadenz-Spezialisten Thomas Mann destillierte der Cheferotiker des deutschen Kinos, Rolf Thiele, die Story für den 1,2-Millionen-Film. Die Zwillinge Siegmund und Sieglinde (Michael Maien und Elena Nathanael), in mehr als geschwisterlicher Zuneigung und Zärtlichkeit einander zugetan, imitieren auf einem großen Eisbärfell den Inzest, den sie in Wagners 'Walküre' mit angesehen hatten

Das Beste, das man mit der neu zusammengestellte Box Thomas Mann Jahrhundert-Edition machen kann, ist, sie nicht zu kaufen.Verzichten Sie auf deutsche Stars der Nachriegszeit wie Dieter Borsche, Ruth Leuwerik, Horst Buchholz, Liselotte Pulver, Lil Dagover, Werner Hinz, Hansjörg Felmy und Nadja Tiller. Kaufen Sie sich eine DVD von Luchino Viscontis Verfilmung von Tod in Venedig, oder sehen Sie den Film ✺hier an.

Thomas Mann liebte das Kino: Ich besuche sehr häufig Filmhäuser und werde des musikalisch gewürzten Schauvergnügens stundenlang nicht müde. Vor vierzig Jahren hat mir Fritz Güttinger erzählt, dass Kafka im Kino geweint hat, und dass Thomas Mann Bambi zweimal gesehen hat. Mit großer Rührung. Damals hatte Güttinger gerade die beiden Bände Der Stummfilm im Zitat der Zeit und Kein Tag ohne Kino für das Deutsche Filmmuseums fertiggestellt. Aus den beiden Bänden habe ich hier eine kleine Zitatsammlung.


In Lübeck wird es am 6. Juni 2025 einen Festakt geben. Bei mir gibt es im Thomas Mann Jahr gar nichts mehr zu ihm. Nur noch eine Auflistung der Posts, in denen er erwähnt wird: Magic Mountain, Gerhart Hauptmann, Fickfackerei, Dichtermode, Ralph Lauren Purple Label, Etikettenschwindel, Ungarn, Nidden, Friedenspfeife, Blauer Dunst, Wiesengrund, Rönnebeck, Manfred Hausmann, Frauen und Zigarren, Zauberberg, Joseph Conrad, Inseln und Badewannen, Segelboote, Lenbach, Rudolf Lorenzen, Theodor Storm, Søren Aabye Kierkegaard, Grand Hotel, Ernst Penzoldt, Wellen, Joachim Maass, Rudolf Sühnel und Eschi


Dienstag, 31. Dezember 2024

Jimmy Carter ✝


Abgesehen davon, dass die Ärmel zu lang waren, sah er richtig gut aus. Er ist der erste amerikanische Präsident im 20. Jahrhundert, der zu seiner Amtseinführung keinen Morning Coat mehr trägt. Das war ein symbolischer Akt, ähnlich dem von Tony Blair (oder hieß der Tony BLiar?). Als der sich das erste Mal vor der Nummer 10 der Downing Street photographieren ließ, trug er einen Anzug von Marks und Spencer. Ich bin einer von euch, sollte uns das sagen. Aber Blair trug den M&S Anzug nur für diesen symbolischen Auftritt, später nicht mehr. Jimmy Carter trug seinen 175 Dollar Anzug ständig weiter, ließ sich nie von Georges de Paris, dem Schneider der Präsidenten, einen neuen Anzug machen, ließ nur seine alten Anzüge ändern. Das hatte doch Stil.

Am Abend, bevor er sein Amt antrat, hielt ein Mann, der nicht zu seinen politischen Freunden gehörte, unerwartet auf dem Inauguration Ball eine kleine Rede: I have come here tonight to pay my respects to our 39th President, our new Commander-in-Chief and to wish you Godspeed, Sir, in the uncharted waters ahead. Starting tomorrow at high noon, all of our hopes and dreams go into that great house with you. For you have become our transition into the unknown tomorrows. And everyone is with you. I am privileged to be present and accounted for in this capital of freedom to witness history as it happens … to watch a common man accept uncommon responsibilities he won 'fair and square' by stating his case to the American people … not by bloodshed, beheadings, and riots at the palace gates. I know I am considered a member of the opposition … the Loyal Opposition … accent on Loyal. I’d have it no other way. In conclusion, may I add my voice to the millions of others all over the world who wish you well, Mr. President. All we ask is that you preserve this … one Nation … under God … with liberty and justice for all. And we have no doubt you will, Sir. Der Mann war John Wayne. Jimmy Carter hat ihm posthum die Presidential Medal of Freedom verliehen. Und über ihn gesagt: John Wayne spiegelte das Beste unseres nationalen Charakters wider. Aufgrund dessen, was John Wayne darüber sagte, wer wir sind und was wir sein können, wurde seine große und tiefe Liebe zu Amerika im vollen Maße erwidert.

Jimmy Carter war Marineoffizier gewesen (wie beinahe alle amerikanischen Präsidenten on der Zeit von 1961 bis 1993); nach dem Tod seines Vaters verließ er die Navy, um die Erdnuss- und Baumwollplantagen der Familie zu übernehmen. Er musste Kredite aufnehmen, um sich über Wasser zu halten. An die Politik dachte er noch nicht. Er spielte Gitarre und liebte die Country & Western Musik, das steht schon in dem Post ein anderes Amerika. Sie könnten sich jetzt auch noch bei arte den Dokumentarfilm Der Rock'n Roll Präsident von Mary Wharton ansehen, um zu sehen, dass Carter anders war als seine Vorgänger im Amt.

Carter wird seinen Freund Willie Nelson ins Weiße Haus einladen, der bringt Emmylou Harris mit, wie wir hier sehen können. Und vielleicht ist Carter auch wirklich nur im Weißen Haus, weil die Allman Brothers ihn im Wahlkampf unterstützt haben. In dem Film von Mary Wharton sagt Carter: I was practically a non-entity. But everyone knew the Allman Brothers. When they endorsed me, all the young people said, ‘Well, if the Allman Brothers like him, we can vote for him.'  Als er von seiner Partei als Präsidentschaftskandidat nominiert worden war, zitierte er Bob Dylan: We have an America that in Bob Dylan's phrase is 'busy being born, not busy dying'.

Irgendwann begann er, Gedichte zu schreiben. Die in renommierten Zeitschriften wie New England ReviewNew Orleans Review und North Dakota Review veröffentlicht wurden. I asked them not to take note of the fact that I had been President and they agreed. Sein Gedichtband Always a Reckoning and Other Poems wurde 1994 ein Bestseller. Sie können einige der Gedichte in dem Post Happy Birthday, Mr President lesen. Die Gedichte kreisen um seine Kindheit auf dem Lande, über die Beziehungen zwischen Schwarz und Weiß. Seine Enkeltocher hat das Buch mit Zeichnungen versehen. Ich habe hier noch Platz für ein Gedicht:

Considering the Void

When I behold the charm
of evening skies, their lulling endurance;
the patterns of stars with names
of bears and dogs, a swan, a virgin;
other planets that the Voyager showed
were like and so unlike our own,
with all their diverse moons,
bright discs, weird rings, and cratered faces;
comets with their streaming tails
bent by pressure from our sun;
the skyscape of our Milky Way
holding in its shimmering disc
an infinity of suns
(or say a thousand billion);
knowing there are holes of darkness
gulping mass and even light,
knowing that this galaxy of ours
is one of multitudes
in what we call the heavens,
it troubles me. It troubles me.


Carter (hier mit dem jungen Joe Biden im Wahlkampf 1976) wurde Präsident, weil er politisch ein Unbekannter war, ein neues Gesicht, I was practically a non-entity.. Der kleine Erdnussfarmer aus Georgia, der nichts mit Politikern wie Nixon zu tun hatte. Ich werde euch nicht belügen, hatte er im Wahlkampf gesagt. Jahrzehnte später hat er in einem Interview gesagt, man müsse von Zeit zu Zeit white lies gebrauchen. Seine Amtszeit war, wenn man von dem Camp David Abkommen und seinem Kampf für die Bürgerrechte absieht, ziemlich glücklos. Er hatte zu wenig politische Erfahrung und zu wenige kompetente Berater, um mit Massenarbeitslosigkeit, Ölkrise, steigenden Benzinpreisen und internationalen Krisen fertig zu werden. Er konnte sich auch nicht gut verkaufen, Fernsehansprachen waren nicht sein Ding. Manche Journalisten beklagten, dass viele sein Südstaatenenglisch nicht verständen. Aber wenn man sich die Tondokumente anhört, dann haben zehn Jahre bei der Navy viel von dem Akzent weggebügelt, den seine Familie in Georgia noch sprach. 

Jimmy Carters wahres Leben fängt erst an, als seine Präsidentschaft aufhört. Jetzt wird er Diplomat in eigener Regie, Kämpfer für die Menschenrechte, Vermittler in internationalen Konflikten. Mit dem Carter Center und seinem diplomatischen Geschick hat er mehr erreicht als manche seiner Nachfolger im Präsidentenamt. Dafür erhielt er im Jahre 2002 den Friedensnobelpreis. In seiner Rede wird er am Ende sagen: War may sometimes be a necessary evil. But no matter how necessary, it is always an evil, never a good. We will not learn how to live together in peace by killing each other’s children. The bond of our common humanity is stronger than the divisiveness of our fears and prejudices. God gives us the capacity for choice. We can choose to alleviate suffering. We can choose to work together for peace. We can make these changes – and we must.

Das hat immer noch Bedeutung, jedes Wort davon. Carter hatte Glück, dass Amerika in seiner Amtszeit keinen Krieg zu führen brauchte. President Joe Biden hat ein Staatsbegräbnis angeordnet. Und hat den 9. Januar zu einem nationalen Trauertag zu Ehren von Jimmy Carter erklärt. In seiner Botschaft aus dem Weißen Haus schrieb er: Today, America and the world lost an extraordinary leader, statesman, and humanitarian. Over six decades, we had the honor of calling Jimmy Carter a dear friend. But, what’s extraordinary about Jimmy Carter, though, is that millions of people throughout America and the world who never met him thought of him as a dear friend as well. With his compassion and moral clarity, he worked to eradicate disease, forge peace, advance civil rights and human rights, promote free and fair elections, house the homeless, and always advocate for the least among us. He saved, lifted, and changed the lives of people all across the globe. Das erste, was ich dachte, als ich hörte, dass Jimmy Carter gestorben sei, war, dass es gut so sei. Er braucht das, was mit Donald Trump kommt, nicht mehr zu erleben. 

Ich wünsche all meinen Lesern ein schönes neues Jahr. Möge all das kommen, worauf wir hoffen und wofür wir beten.

Samstag, 28. Dezember 2024

Jever: Bier und Kiebitzeier

Nachdem Fürst Friedrich August von Anhalt-Zerbst ohne männlichen Nachkommen verstorben ist, wird das Fürstentum Anhalt-Zerbst auf die verbleibenden Linien Anhalt-Dessau, Anhalt-Köthen und Anhalt-Bernburg aufgeteilt. Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau gewinnt per Los die Stadt Zerbst. Das war heute vor 227 Jahren. Steht so in der Wikipedia, die gerade mal wieder um Spendengelder wirbt. Auch wenn sich die Fürsten bei der Verteilung der Ländereien einig sind, etwas geht verloren. Und das ist das Lehen Jever, dieser ganz keine gelbe Fleck am Jadebusen. Das fällt, weil es ein Kunkellehen (welch schönes Wort) ist, an die Zarin Katharina

Jever kennen Sie wegen des Biers. Ich weiß nicht, ob es das schon gab, als Jever russisch war. Aber Bismarck hat mal in Jever Bier vom  vom Friesischen Brauhaus zu Jever getrunken. Und zu ihm hatte man in Jever ein besonderes Verhältnis: jedes Jahr bekam er von den Getreuen von Jever 101 Kiebitzeier. Fremdenführer werden nie aufhören, diese Geschichte zu erzählen. Es gibt in Jever auch ein schönes Schloss, das eine Besichtigung lohnt. Wenn Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau, der Zerbst per Los gewonnen hat,  auf Jever verzichten muss, tut ihm das nicht so weh.

Ihn zieht es eher nach England als nach Ostfriesland. Weil da englische Exzentriker wie William Beckford und Horace Walpole in Fragen von Kunst und Kultur den Ton angeben. Beckford ist Walpole in vielem ähnlich. Er macht auch die Grand Tour und schreibt darüber, baut auch ein neugotischen Gebäude, schreibt mit Vathek auch eine gothic novel. Als er vier oder fünf Jahre alt ist, wird er angeblich von Mozart unterrichtet (und angeblich hat Mozart die Melodie, die der kleine William Beckford spielte, später zu der Arie Non più andrai, farfallone amoroso verarbeitet), das kann Walpole nicht von sich sagen. Aber der eröffnet da schon sein Strawberry Hill, und der Fürst von Anhalt-Dessau ist anwesend. Dieser Leopold von Anhalt-Dessau ist ein Enkel vom alten Dessauer, und er ist ganz stark von der Anglomanie befallen. Diese Krankheit grassiert jetzt zum ersten Mal in Europa, weil die Engländer kulturell plötzlich Exportgüter haben: die englische Mode, der neu erfundene Regenschirm, der englische Roman, der englische Landschaftsgarten, der Palladian Style und jetzt noch die Neugotik.

Leopold ist mit seinem Freund Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff ständig auf Bildungsreisen, und Erdmannsdorf wird ihm später alles bauen, was man in England so sieht. Hauptsächlich klassizistisch, aber mit dem Gotischen Haus auch etwas Neugotisches wie Walpoles Strawberry Hill. Leopolds Imitator in puncto Landschaftsgarten und Schlossbauten ist der berühmte Fürst Pückler. Der ist zwar auch Fürst, aber er hat im Gegensatz zu Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau kein Fürstentum. 

Von seiner Anglomanie abgesehen, hängt Leopold auch an den Gedanken der Aufklärung. Er ist einer der wenigen deutschen Fürsten in dieser Zeit, die eine Politik der Toleranz betreiben, und er wird aus Anhalt-Dessau einen kleinen Musterstaat machen. Dafür sind seine Untertanen ihrem Vater Franz ewig dankbar. Und seine Parks, das Gartenreich Dessau-Wörlitz, sind heute Weltkulturerbe. Da kann man auch auf Jever, das Bier und die Kiebitzeier verzichten. Die Muskauer Parks von Pückler sind auch Weltkulturerbe, aber der hat sich durch seine Anglomanie finanziell völlig ruiniert. Hat uns allerdings diese wunderbaren Briefe eines Verstorbenen hinterlassen, die jeder Englandliebhaber lesen muss. Wenn man nicht alle Bände lesen will, dann sollte man zu der von Heinz Ohff (der mit Der grüne Fürst auch eine nette Pückler Biographie geschrieben hat) edierten Ausgabe greifen. Die tausend Seiten reichen vielleicht auch.

Ein Teil dieses Posts stand hier schon in meinem ersten Bloggerjahr. Damals dachte ich daran, einmal länger über den anglomanen Leopold zu schreiben. Habe ich nicht getan, aber alles, was in den fettgedruckten Links über die Grand Tour, die englische Mode, die Neugotik und den Landschaftsgarten steht, das habe ich dann doch geschrieben.


Dienstag, 24. Dezember 2024

wīhenachten


Der den himmel zieret, 
So wunneklich florieret. 
Mit dem gestirne priset 
Und iegliches wiset  
Uff sinen weg nacht und tag, 
Das es verirren nüt enmag. 
Der wise och und richte 
Zedern besten min gedichte 
Uff sinen weg den rechten leer: 
So wil ich, genant Wernher, 
Den ungelerten lüten 
Mit warhait hie betüten

So fängt der Dichter, der Wernher genannt wird, sein →Marienleben an. Mit dem er den ungelerten lüten die warhait betüten will. Aus dem Wort →betüten wird unser Wort bedeuten werden, wir sind hier noch im 14. Jahrhundert. Die Sprache nennen wir Mittelhochdeutsch, dazu gibt es in diesem Blog schon die Posts Frauenlob und Hugo von Montfort. Man muss sich ein wenig einlesen, wenn man zu den ungelerten lüten gehört und nicht im Studium der Germanistik ein Proseminar Mittelhochdeutsch besucht hat. Aber mit ein bisschen gutem Willen kann man den Text schon verstehen. Und deshalb gibt es heute die Weihnachtsgeschichte in der Fassung dieses Wernher, über den man so gut wie nichts weiß. Und wenn sie auf dieser Seite die Buchstaben PDF anklicken, können Sie das ganze Werk lesen.

Uber allú lant gar verre hin,
Vil me denn aller sternen schin.
Ob dem huse tett er das
Indem das kindelin do was.
Ain anders ich hie sagen wil.
Des volkes was unmassen vil
Inder stat gesamenot
Von des kaisers gebot,
Und kam och gar vil viches dar
Mit inen uf der selben var,
Das inder stat wart enge
Und allenthalb gedrenge.
Dar umb man zevelde traib
Das vich und vor der stat es belaib,
Und gabent in zehůte
Frume lúte gůte,
Die da mit soltent varn,
Mit gůter hůt es wol bewarn,
Das haimsche mit dem froͤmden gar,
Das von dem lande was komen dar:
Die fůrend uf die haide
Invollent gůte waide.
Der selben nacht in all gemain
Ain michel schoͤnes liecht erschain,
Da mit ain engel here.
Des erschrakend sú vil sere.
 ‘Lant úwer fúrchten sin,
Niement tůt úch kain pin!
Ich tůn úch gross froͤd kunt,
Wan úch ist hút zedirre stunt
Der welte behalter geborn
ZeBethlechem inder stat Davides userkorn.
Das ich úch sag, das wirt bekant
Allem volk durch allú lant.
Das sol úch ain zaichen sin:
Ir werdent vinden das kindelin
Intuͤchelú gewunden sa
Und ligent inder krippe da
Vor esel und vor rinde,
Und bi dem selben kinde
Mariam sin můter,
Pfleger und hůter.' 
Vil ander engel kament dar 
Und sungent wunnekliche gar 
Got ain lob sunder userkorn 
Als dort da er was geborn 


Ich wünsche all meinen Lesern ein frohes Weihnachtsfest.

Sonntag, 22. Dezember 2024

Advent


Unser Advent kommt vom lateinischen Wort adventus, das Ankunft bedeutet. Gemeint ist damit die Ankunft des Herrn (adventus Domini). Aber dieser Advent sind nicht nur die vier Sonntage vor Weihnachten. Für die Christenheit bedeutet das Wort Advent auch immer die Hoffnung auf die Parusie, die Wiederkehr Christi. Wenn ich heute am vierten Advent das Gedicht The Second Coming des irischen Nobelpreisträgers William Butler Yeats aus dem Jahr 1919 hierher stelle, dann passt das nicht so ganz zu Adventskranz und Weihnachtsoratorium. Das ist mir klar. Yeats schrieb, das sagen uns die Literaturhistoriker, das Gedicht unter dem Eindruck des gerade beendeten Ersten Weltkriegs und dem Beginn des Irish War of Independence. Der vielleicht schon mit dem Osteraufstand begonnen hatte, über den Yeats das Gedicht Easter, 1916 schrieb, das mit der Zeile endet: A terrible beauty is born. Aber Yeats wollte kein politischer Dichter sein. Als ihn Henry James 1915 um ein Kriegsgedicht bat, antwortete er mit diesem Gedicht:

On being asked for a War Poem

I think it better that in times like these 
A poet's mouth be silent, for in truth 
We have no gift to set a statesman right; 
He has had enough of meddling who can please 
A young girl in the indolence of her youth, 
Or an old man upon a winter’s night.

Kriegsgedichte sind nicht Yeats' Sache. Wenn er 1935 das The Oxford Book of Modern Verse herausgibt, wird er die Kriegsdichter auslassen: I have a distaste for certain poems written in the midst of the great war; they are in all anthologies ... The writers of these poems were invariably officers of exceptional courage and capacity  ... all, I think, had the Military Cross... but felt bound, in the words of the best known, to plead the suffering of their men. In poems that had for a time considerable fame, written in the first person, they made that suffering their own. I have rejected these poems ... passive suffering is not a theme for poetry. In all the great tragedies, tragedy is a joy to the man who dies; in Greece the tragic chorus danced.

Das Gedicht The Second Coming beginnt mit einem Falken, der sich in der Luft kreisend immer weiter vom Falkner entfernt hat. Es ist ein anderer Falke als der, den Gerard Manley Hopkins in seinem Gedicht The Windhover: To Christ our Lord beschreibt. Es würde sich lohnen, diese beiden Gedichte zu vergleichen. Der Falke bei Yeats gehorcht dem Falkner nicht mehr, die Welt ist aus den Fugen. The falcon cannot hear the falconer; Things fall apart; the centre cannot hold; Mere anarchy is loosed upon the world sind die Verse, die am häufigsten aus diesem Gedicht zitiert werden. Der Leser, der hier every line famous! auf den Text geschrieben hat, hat schon Recht, nicht viele Gedichte können das von sich sagen.

The Second Coming

Turning and turning in the widening gyre  
The falcon cannot hear the falconer;
Things fall apart; the centre cannot hold;
Mere anarchy is loosed upon the world,
The blood-dimmed tide is loosed, and everywhere  
The ceremony of innocence is drowned;
The best lack all conviction, while the worst  
Are full of passionate intensity.

Surely some revelation is at hand;
Surely the Second Coming is at hand.  
The Second Coming! Hardly are those words out  
When a vast image out of Spiritus Mundi
Troubles my sight: somewhere in sands of the desert  
A shape with lion body and the head of a man,  
A gaze blank and pitiless as the sun,  
Is moving its slow thighs, while all about it  
Reel shadows of the indignant desert birds.  
The darkness drops again; but now I know  
That twenty centuries of stony sleep
Were vexed to nightmare by a rocking cradle,  
And what rough beast, its hour come round at last, 
Slouches towards Bethlehem to be born?













Es ist ein apokalyptisches Gedicht, wenn man so will, ein Gedicht der Endzeit. Es ist ein Menetekel für das Nachkriegseuropa. Der schreckliche Mantikor, der auf Bethlehem zuschleicht, ist der Antichrist. Den hat sich Yeats aus der Apokalypse des Johannes genommen, einem Werk, das wie ein Drehbuch für Regisseure von Horrorfilmen erscheint. Es gibt Interpretationen über Interpretationen zu diesem Gedicht. Bei Jay Parini (dessen Schaffen schon in dem Post Lew Tolstoi gewürdigt wird) kann man die Geschichte lesen, dass in seinem Seminar, in dem er das Gedicht von Yeats behandelte, ein Student sagt: He’s writing about Donald Trump, right? Das ist witzig, aber gar nicht so dumm. Das Things fall apart; the centre cannot hold; Mere anarchy is loosed upon the world passt auch zu Donald Trump. Und zu vielem anderen, das gerade in der Welt geschieht. Der Gaza Krieg überschattet die Weihnachtsfeierlichkeiten in Bethlehem. Das rough beast, von dem Yeats schreibt, ist da schon angekommen.

Ich habe zu dem Gedicht eine sehr schöne Übersetzung von Walter A. Aue, der mit seinen Übersetzungen schon mehrfach in diesem Blog zitiert wurde (so in NeujahrEmily Dickinson und Tyger, Tyger). Neben den vielen schönen Übersetzungen, die sich im Internet finden, hatte er ein ganz anderes Leben. Der Mann, der seinen Doktortitel in Wien erhielt, wurde Chemieprofessor in den USA. Und übersetzt so nebenbei deutsche Gedichte ins Englische. Oder englische Gedichte ins Deutsche:

Das zweite Kommen

Drehend und drehend in immer weiteren Kreisen
Versteht der Falke seinen Falkner nicht; 
Die Welt zerfällt, die Mitte hält nicht mehr; 
Und losgelassen nackte Anarchie, 
Und losgelassen blutgetrübte Flut, 
Das Spiel der Unschuld überall ertränket; 
Die Besten sind des Zweifels voll, die Ärgsten 
Sind von der Kraft der Leidenschaft erfüllt. 
 
Gewiß steht jetzt bevor die Offenbarung; 
Gewiß steht jetzt bevor die Wiederkunft. 
Die Wiederkunft! Bevor noch ausgesprochen 
Trübt groß die Vision aus Spiritus Mundi 
Mir meine Sicht: Aus den Sänden der Wüste 
Schimmert das Bild eines Löwen mit Kopf eines Mannes, 
Wie Sonne starrend sein Blick, verschlossen und grausam, 
Die zögernden Schenkel bewegend, daß rings um ihn her 
Aufschwirren die Schatten empörter Vögel der Wüste. 
Wieder bricht Dunkel herein - doch weiß ich es nun 
Daß zwanzig Jahrhunderte eines steinernen Schlafes 
Zum Albtraum erweckt vom Stoß einer schwankenden Wiege: 
Und welch räudiges Tier, des Zeit nun gekommen, 
Kreucht, um geboren zu werden, Bethlehem zu?

Wir wollen es nicht bei der apokalyptischen Adventsvision belassen. Ich habe noch ein Adventsgedicht für Sie. Eins, das zu Adventskränzen und Weihnachtsoratorium passt. Ich bin durch Walter A. Aue auf das schöne kleine Adventsgedicht von Rilke gekommen, das Aue wiederum ins Englische übersetzt hat.

Advent

Es treibt der Wind im Winterwalde 
die Flockenherde wie ein Hirt 
und manche Tanne ahnt, wie balde 
sie fromm und lichterheilig wird, 
und lauscht hinaus. Den weißen Wegen 
streckt sie die Zweige hin, bereit 
und wehrt dem Wind und wächst entgegen 
der einen Nacht der Herrlichkeit.

Advent

The winds drive through the forests, 
running like sheep the snowflakes row by row. 
A conifer dreams of the coming 
of piety and candle glow 
and listens out. Then, toward a clearing 
she opens up her branches' space 
against the wind - and stretches, nearing 
the one night of exaltedness.

Ich wünsche all meinen Lesern einen schönen vierten Advent.

Donnerstag, 19. Dezember 2024

Road Movies

Am Morgen ein Joint und der Tag ist dein Freund. Heute vor fünfundfünfzig Jahren kam Easy Rider in die deutschen Kinos, in Cannes war der Film schon im Mai 1969 zu sehen gewesen. Ein Mann suchte Amerika, doch er konnte es nirgends mehr finden, stand auf dem Filmplakat. Ging es darum? Easy Rider ist ein Road Movie, eins der vielen dieses neuen Filmgenres des New Hollywood Kinos. Massenhaft Landschaft, we've lulled our audiences with beautiful scenery, hat Peter Fonda gesagt. Und massenhaft ✺Musik. Von Steppenwolfs Born to be Wild bis zu Bob Dylans It's Alright, Ma (I'm Only Bleeding). Manchmal denke ich, dass der Soundtrack das Beste am Film war. Wäre der Film nicht von Columbia aggressiv vermarktet worden, sondern wie geplant als Roger Corman Produktion erschienen, er hätte nie diesen Erfolg gehabt. Wenn Sie ein wirklich gutes road movie sehen wollen, dann schauen Sie sich Monte Hellmans Two-Lane Blacktop an.

Quentin Tarantino hat über diesen Film gesagt: Wenn es jemals ein Filmregisseur verdient hätte, wiederentdeckt zu werden, dann wäre das Monte Hellman. Sein Film Two-Lane Blacktop, vom eigenen Studio boykottiert, ist an den Kinokassen ein Flop gewesen. Begeisterte aber die Filmkritiker. Und entwickelte sich so ganz still vom Geheimtip zum Kultfilm. Der New Yorker Buchhändler, der mir vor Jahrzehnten das Drehbuch verkaufte, hatte extra fett scarce auf einen gelben Aufkleber geschrieben. Und natürlich den Preis hochgesetzt. Wahrscheinlich ist es heute wirklich etwas wert (das Filmscript habe ich hier). Easy Rider ist ja, wie gesagt, eigentlich nur wegen des Soundtrack gut - und weil es der Karrierestart für Fonda, Nicholson und Hopper war. Aber es ist kein wirklich guter Film. 

Two-Lane Blacktop (der hier schon einen Post hat) ist ein wirklich guter Film. Das Label existentialistisch hatte er bei der französischen Filmkritik von Anfang an bekommen, und das auch wohl zu Recht. Ein Road Movie, das das gerade erfundene Genre transzendiert. Ein Autorennen quer durch Amerika auf den alten Landstraßen, die einmal die echte Route 66 waren. Bis auf Warren Oates (und in einer Nebenrolle Harry Dean Stanton) keine professionellen Schauspieler. Und das war vielleicht auch gut so. Der Film kommt daher wie das wirkliche Leben, und er ist in den letzten vierzig Jahren erstaunlich jung geblieben. Und vielleicht hat sich das Amerika abseits der großen Highways inzwischen auch kaum verändert. 

Vier Jahre nach der Uraufführung von Easy Rider konstatierte ein Filmkritiker: Incidentally, no picture in recent memory has dated so badly as 'Easy Rider', mainly because the characters have no allure beyond 1969, when the movie was released. Dull-witted, drug-pushing hippie motor-cyclists have become as exciting as a midi-skirt. Heroes should have a longer life expectancy. Aber 1969 machte ein jugendliches Publikum (und die Werbeabteilung von Columbia) den Film zu einem Kultfilm. Obgleich Peter Fonda in Interviews ganz klar gemacht hat, dass die beiden Harley Fahrer nicht die Opfer der Gesellschaft werden, sondern Opfer ihres eigenen falschen Freiheitsbegriffes:

 My movie is about the lack of freedom, not about freedom. My heroes are not right, they're wrong. The only thing I can end up doing is killing my character. I end up committing suicide; that's what I'm saying that America is doing, hat Peter Fonda in einem Interview mit Rolling Stone gesagt. Pauline Kael konnte sich nur zu dem sibyllinischen Satz the movie's sentimental paranoia obviously rang true to a large, young audience's vision. In the late '60s, it was cool to feel that you couldn't win, that everything was rigged and hopeless. The film was infused with an elegiac sense of American failure durchringen. Lobte aber die Landschaftsaufnahmen und die Musik.

Man muss schon sehr genau hingucken, dann ist sie schon wieder weg. Aber es ist wahr, Peter Fonda hat die ganze Zeit bei den Dreharbeiten von Easy Rider seine goldene Rolex getragen. Was der Captain America am Anfang des Filmes wegwirft, ist nur eine billige Timex. Hätte er wirklichen Stil gehabt, hätte er die Rolex weggeschmissen. Die goldene Rolex ist vor Jahren auf einer Auktion verkauft worden. Sie brachte längst nicht so viel wie die amerikanische Flagge, die auf Fondas Lederjacke genäht war. Das wird die Firma Rolex schmerzen. Die Firma Harley-Davison wurde durch diesen Film vor dem Ruin gerettet, und für Jack Nicholson gab es die erste Oscar Nominierung. Mit Hells Angels on Wheels war ihm das zwei Jahre zuvor nicht gelungen. Fünf Jahre nach Easy Rider gab es für den Mythos des Motorradfahrens mit Zen and the Art of Motorcycle Maintenance: An Inquiry into Values noch ein philosophisches Überbauwerk. Das Buch wurde allerdings von Lederjackenträgern kaum gelesen.

Heute kaufen sich leicht angejahrte übergewichtige Deutsche in der midlife crisis auf dem Hamburger Kiez bei Easy Rider eine Lederjacke, schon auf antik gemacht. Neu darf nicht sein. Tim Mälzer hat da mal in dem Laden gearbeitet. Und dann brettern sie mit ihrer Harley durch Amerika und kommen sich ganz toll dabei vor: Du, ich sag' Dir, das war richtig Easy Rider mäßig. So 'Born to be Wild', und Du weißt schon. Ich kann das nicht mehr hören. Meine Standardantwort ist dann, dass ein easy rider im Jazz Slang der Roaring Twenties jemand ist, der seine Nutte nicht bezahlt. Ich habe vor Jahrzehnten, als das Genre der Road Movies noch neu war, einmal etwas über die amerikanischen Road Movies geschrieben, die gleichzeitig mit den Spätwestern in die Kinos kamen. Zehn Jahre später habe ich festgestellt, dass jemand an der Uni Hamburg einen Doktortitel dafür bekommen hat, dass er das Road Movie Kapitel meines Buches beinahe eins zu eins in seine Arbeit transferiert hat. Natürlich mit einigen Umformulierungen. Ich habe mir überlegt, ob ich der Uni Hamburg schreiben sollte, habe es aber dann gelassen. Diese kleinen Guttenbergs werden nie aussterben.