Donnerstag, 17. Oktober 2024

Caspar David Friedrich (9)

Zwei Männer betrachten den aufgehenden Mond, der eine sichelförmige Scheibe ist. Wir können sie nur, wie so häufig bei Caspar David Friedrich, in einer Rückenansicht sehen. Wenn Sie den Link anklicken, landen Sie in einer 279-seitigen Dissertation zum Thema der Rückenfigur, die von einer Studentin aus Tokio geschrieben wurde. Die beiden Herren tragen eine mittelalterliche Kleidung, die am Anfang des 19. Jahrhundert in gewissen deutschen Kreisen, vornehmlich Künstlern und Studenten, ein Teil der Herrenmode geworden war. Was einmal in ganz Europa die sogenannte Werthertracht gewesen war, gelbe Reithosen und eine blaue Frackjacke, hat offenbar ausgedient. Wer fortschrittlich sein will, trägt jetzt angeblich die Altdeutsche Tracht. Der Dichter Karl Förster berichtet in seinen Lebenserinnerungen von einem Besuch in Friedrichs Atelier, wo dieser über das Bild Zwei Männer in Betrachtung des Mondes ironisch gesagt habe: Die machen demagogische Umtriebe.

1814 war Ernst Moritz Arndts Schrift Ueber Sitte, Mode und Kleidertracht erschienen, die von vielen Kritikern als die geistige Grundlage der altdeutschen Tracht gewertet wird. Nach Arndt sollte das Vorbild für eine deutsche Nationaltracht die Kleidung der Reformationszeit sein. Und wir finden da Sätze wie: den Hals befreit er von dem knechtischen Tuche und låsset den Hemdkragen über den kurzen Rockkragen auf die Schultern fallen. Das ist heute wieder modern, wo kaum noch jemand eine Krawatte trägt. Aber wie man auf einer Seite im Internet lesen kann, entstand ein Patchwork an Bekleidungselementen, die man auf Bildern von Dürer fand oder auch historischen Vorlagen nicht-deutschen Ursprungs entnahm. So entstammte die Halskrause der spanischen Renaissancemode.

Trachten hat es schon vor den Befreiungskriegen gegeben, es hat auch schon Festlegungen gegeben, wer was tragen darf: Nachdem ehrlich, ziemlich und billich, daß sich ein jeder, weß Würden oder Herkommen der sey, nach seinem Stand, Ehren und Vermögen trage, damit in jeglichem Stand unterschiedlich Erkäntüß seyn mög, so haben Wir Uns mit Churfürsten, Fürsten und Ständen nachfolgender Ordnung der Kleidung vereiniget und verglichen, die Wir auch bey Straff und Pön, darauff gesetzt, gänzlich gehalten haben wöllen. Diese Sätze finden sich 1530 in der Augsburger Kleiderordnung, aber an Kleiderordnungen will man sich nicht mehr halten. Man will nicht mehr aussehen wie die bürgerliche Gesellschaft des 18. Jahrhunderts auf diesem Bild. Die altdeutsche Tracht wird übrigens vornehmlich von Männern getragen, sagen uns Modehistoriker. Die Damen nehmen diese vestimentären Verunstaltungen nicht an und tragen lieber eine modifizierte Empiremode.

Wir haben in dieser Zeit schon Modejournale, in denen die altdeutsche Tracht auftaucht. Allerdings ziemlich spärlich. Auf diesen Bildern aus dem Journal des Luxus und der Moden ist sie noch nicht zu sehen. Die Zeit der Revolution ist auch eine Zeit der Revolution der Mode. Der deutsche Philosoph Christian Garve schreibt im Revolutionsjahr 1792 das Buch Über die Moden (ich habe dieses sehr kluge Buch hier im Volltext für Sie). Die Moden kommen und gehen, nichts hält sich wirklich lange. Und wir wissen auch, dass die Kleidung, die sich in Modebüchern und Modejournalen findet, nicht unbedingt auf der Straße getragen wird.

Die bürgerliche Herrenkleidung im frühen 19. Jahrhundert sieht so aus, wie sie der Däne Constantin Hansen auf dem Bild festgehalten hat, das er von seinen Künstlerfreunden in Rom gemalt hat. Wir nehmen den auf dem Boden sitzenden Martinus Rørbye mit seiner orientalischen Verkleidung einmal aus; der Rest der Herren trägt Zylinder, eine Art Frack und lange Hosen. Die Reithosen, die für den Dandy Beau Brummell noch Pflicht waren, hat man inzwischen aufgegeben.

Das hier vorne links ist der Maler Carl Philipp Fohr. Er hat seinen Hund bei sich, mit dem ist er über die Alpen nach Rom gewandert. Die Herren auf der rechten Seite des Bildes tragen die Mode der Zeit, Fräcke und Zylinder wie auf dem Bild von Constantin Hansen. Nur Fohr ist ohne Zylinder, er trägt solch eine altdeutsche Tracht. Diese Tracht war zu Hause bei den Heidelberger Studenten sehr chic. Wenige Jahre zuvor hatten sich die Heidelberger Studenten noch nach der Mode der französischen Feinde gekleidet, worüber sich der österreichische Feldmarschall Graf von Sztarray im Jahre 1800 bei der Universität Heidelberg beschwerte. Die Moden wechseln jetzt schnell. Carl Philipp Fohr bringt die neue Mode nach Italien. Der Kronprinz von Bayern, der Fohr in Rom kennenlernt, übernimmt diese neue Mode. Ohne zu wissen, daß er damit die Tracht der studentischen Revolutionäre hoffähig machte (sein Sohn Max wird die Lederhosen hoffähig machen). 

Aber Ludwig trägt auch griechische Tracht, weil er die Griechen bewundert und dem Land Baiern ein griechisches Ypsilon verpasst. Sein Sohn Otto wird griechischer König werden. Der wird dann nicht wie sein Bruder Lederhosen tragen, sondern in griechischer Nationaltracht auftreten. Auch Lord Byron wird griechische Tracht tragen, wir sind in der Zeit des Philhellenismus, wo ein Dichter wie Wilhelm Müller so etwas Romantisches wie Die schöne Müllerin schreibt, andererseits aber die Griechen bewundert. Da geht in diesen Jahren modisch viel durcheinander.

Ob Caspar David Friedrich selbst ein Anhänger dieser Mode der Studenten und Künstler gewesen ist, ist von den Portraits her schwer zu entscheiden. Der schwarze Mantel, den er auf dem mittleren Bild trägt, könnte so etwas wie eine altdeutsche Tracht sein. Es könnte aber auch einfach nur der schwarze Mantel gewesen sein, den Friedrich bei der Beerdigung seines Vaters im November 1809 getragen hat. Am linken Arm trägt Friedrich einen Trauerflor. Einige Interpreten haben diese Binde auch als ein geheimes Zeichen des antinapoleonischen Kampfes verstanden. Man sollte allerdings bedenken, dass im Jahre 1810, als dieses Bild entstand, die altdeutsche Tracht noch keinerlei Konjunktur hatte. Das Bild, das lange als ein Selbstportrait galt, hat die Malerin Caroline Bardua gemalt. Friedrich trägt diesen Mantel auch auf einem gezeichneten Selbstportrait, das Carl Gustav Carus besessen hat. Man kann aus diesen Bildern kaum eine politische Gesinnung ableiten. Es gibt eine Theorie, dass ihm die volle Professur in Dresden wegen seiner politischen Einstellung verweigert wurde. Beweisen kann man das aber nicht.

Auf diesem Portrait von Georg Friedrich Kersting aus dem Jahre 1811 trägt der Maler eine bequeme Hausjacke, lange Hosen und Pantoffeln, hier ist keine altdeutsche Tracht zu sehen. Es wird häufig argumentiert, dass die altdeutsche Tracht eine politische Gegenbewegung gegen die Franzosen gewesen sei. Aber das Paris, in dem die Sansculotten und das Militär den Ton angeben, ist keine Stadt der Mode mehr. Und als Friedrich 1819 die erste Fassung des Bildes Zwei Männer in Betrachtung des Mondes malt, ist Napoleon längst besiegt, da braucht man keine revolutionäre Kluft mehr. Das Argument, dass Friedrich mit dem Bild gegen die Karlsbader Beschlüsse von 1819, die die Gesinnungstracht verbieten, protestiert, funktioniert auch nicht so richtig. Friedrich hatte das Bild mit Zeichnungen viel früher als 1819 begonnen.

Es erschließt sich nicht auf den ersten Blick, weshalb im Zeitalter der Eisenbahn die Kleidung von Albrecht Dürer modern sein soll. Aber es wird immer wieder argumentiert, dass man in den Freiheitskriegen dem französischen Geist und der welschen Mode etwas Nationales entgegensetzen wollte. Selbst wenn man von Napoleons Truppen überrollt worden war, oder mit ihm paktierte. Was der junge Hoffmann von Fallersleben hier auf dem Bild im Jahre 1819 trägt, mit Hosen, die wie Jeans aussehen, soll auch eine altdeutsche Tracht sein. Jahre später ist er gegen diese Mode und wird in seinem Gedicht Dunkelmannstracht schreiben:

Unsre Freuden, unsre Leiden
Wollen wir in Schwarz nur kleiden;
Schwarz ist Anstand überall
Bei dem Grab und auf dem Ball.

Tragt die Nacht nicht am Gewande,
Jagt sie lieber aus dem Lande!
Finsternis und Traurigkeit
Herrscht genug in unsrer Zeit.

Nach dem Sprichwort unsrer Alten
Sollet ihr auf Farbe halten.
Kleidet euch in Sonnenschein!
Nacht stellt sich von selber ein.

Manche Maler malen die Mode der Zeit in ihre Bilder, das können wir bei den englischen Malern des 18. Jahrhundert sehen. Dazu gibt es hier schon den langen Post 18th century: Fashion. Caspar David Friedrichs französischer Zeitgenosse Louis-Léopold Boilly zeigt uns auf seinen Bildern, was man in Paris trägt. Davon hat Caspar David Friedrichs Werk nichts, so etwas will er nicht malen, so etwas kann er auch nicht malen. Das Bild, das er von seinem Kollegen Knud Baade malt, zeigt seine malerischen Defizite auf, ein Modejournal würde ihn kaum als Zeichner nehmen.

Ein Wesenszug der Romantik ist, dass sie uns zurückwirft in eine andere Zeit, dass sie mit der Industriellen Revolution nichts zu tun haben will. Maler malen mittelalterliche Motive, wie hier Carl Philipp Fohr mit seinem verirrten Ritter im Wald. Schriftsteller schreiben Ritterromane, und die Architekten kehren zur Gotik zurück. 

Und so könnten wir natürlich auch annehmen, dass die beiden Herren im Mondlicht von Caspar David Friedrich nicht im 19. Jahrhundert leben, sondern dass dies eine Szene aus dem Mittelalter ist. Aber die Interpretation des Bildes zielt heute auf die demagogischen Umtriebe, wie Friedrich das ironisch nannte. So liest der Kunsthistoriker Werner Busch das Bild. Sie können seine schöne Interpretation hier lesen. Davon will Helmut Börsch-Supan, dessen Interpretation des Bildes Sie hier auch lesen können, nichts wissen. Für ihn ist das mal wieder alles rein christliche Symbolik.

Aber der Berufsrevolutionär Harro Harring, der Friedrich kannte und einmal in Dresden bei Johan Christian Clausen Dahl studiert hatte, hat das Bild (das da links hängt und klitzeklein ist) als Aufruf zur Revolution verstanden. Er schreibt es 1828 in seinen Roman Rhongar Jarr hinein: Was seit Jahrhunderten Fremd war, tritt wieder ans Tageslicht; der Deutsche hat sich einen Rock machen lassen, wie ihn die Väter trugen, und schreitet in diesem Rock einer Zukunft entgegen – die so herrlich vor ihm ausgebreitet liegt, geschmückt mit allen Segnungen des Friedens, reich an Verheißungen und reich an stolzen Hoffnungen! ... Geheimnisvoll rauscht es in den deutschen Eichen von wundersamen Dingen, von einer kräftigen Zeit ... 'Der Morgen graut!' das Licht der Freiheit dämmert, und es regt sich der Geist, der da gesunken lag, gebeugt unter dem Joche der Knechtschaft ... Es ist der Wind, der durch die Kronen der Eichen dahinfährt.

Dienstag, 15. Oktober 2024

Caspar David Friedrich (8)


Eine Dame am Meer, einem Boot zuwinkend. Eine →Rückenfigur, sieht ein bisschen nach Caspar David Friedrich aus. Im Internet können wir lesen: Das Kunstwerk 'Dame am Strand' ist ein Gemälde, das zwischen 1830 und 1840 entstand. Das Kunstwerk, mit einer Breite von 0,295 Metern und einer Höhe von 0,21 Metern, befindet sich derzeit im Nationalmuseum in Stockholm, Schweden. Der Schöpfer dieses Werkes ist leider unbekannt

Wir bekommen auf der Seite auch noch eine Interpretation des Gemäldes: Das Gemälde zeigt eine einsame Frau, die auf einem großen Felsen an einem menschenleeren Strand thront. Die Frau, gekleidet in ein dunkles Gewand, hält ein weißes Tuch hoch, das im Wind weht. Das Meer um sie herum ist aufgewühlt, in Aufruhr versetzt von einem unsichtbaren Sturm. Ein einzelnes Segelboot kämpft in der Ferne gegen die Elemente und unterstreicht die Weite und Kraft der Natur. Der Himmel darüber ist eine turbulente Mischung aus dunklen und hellen Wolken, die das Drama erahnen lassen, das sich unten abspielt.

Wir könnten uns damit abfinden, wenn auf der Seite nicht noch stehen würde: Diese Beschreibung wurde von einem KI-Sprachmodell generiert und kann Ungenauigkeiten enthalten. Sie sollte als Interpretation und nicht als Analyse eines maßgeblichen menschlichen Experten betrachtet werden. Bitte prüfen Sie kritische Details an anderer Stelle. Hier wird uns wieder einmal vor Augen geführt, welchen Unsinn die sogenannte Künstliche Intelligenz anrichten kann. 

Die Interpretation, die eine große Dramatik in dem Bild sieht, ist natürlich völliger Quatsch. Die Dame auf dem Felsen sitzt da eher leger. Das Bild könnte ein Komplementärbild zu dem 1818 enstandenen Bild einer Frau am Strand von Rügen sein. Ist das Winken mit dem Tuch ein Abschiedswinken, so wie die kreolischen Schönheiten mit ihren foulards winkten, oder ist es nur ein Gruß für einen Vorbeisegelnden? Wir wissen es nicht, das Bild gibt an Details zu wenig her. Man wünschte sich, dass der Photograph, der das Bild einst ablichtete, einen Film mit weniger Körnigkeit verwendet hätte.

Wenn Sie im Stockholmer Nationalmuseum fragen, wo denn das Bild mit der Dame am Meer hängt und ob das wirklich ein Caspar David Friedrich ist, wird man Sie etwas seltsam angucken. Die haben das Bild nämlich gar nicht, haben auch kein Bild von Caspar David Friedrich. Auch Kopenhagen, wo er studierte, hat kein Bild von ihm. Nur im Nationalmuseum Oslo hängen zwei Bilder von ihm, eins ist diese Ansicht von Greifswald. Das Osloer Museum besitzt auch das vollständig erhaltene Skizzenbuch von 1807.

Aber wo ist das Bild, von dem wir diese Schwarzweiß Photographie haben? Wir werden es nie zu sehen bekommen, es ist am 6. Juni 1931 beim Brand des Münchner Glaspalastes verbrannt. Wie acht andere Ölgemälde von Friedrich. Manche der Bilder hatten dem Sammler Johann Friedrich Lahmann gehört, der die Bilder testamentarisch für die Kunsthalle Bremen und die Dresdner Galerie vorgesehen hatte.

Das Photo des Bildes, das im Internet kursiert, findet sich in dem Buch Verlorene Meisterwerke Deutscher Romantiker, das Georg Jacob Wolf zusammen mit der Glaspalast Künstlerhilfe München 1931 bei F. Bruckmann herausgegeben hatte. Das Bild hier zeigt die zweite Auflage von 1932 mit einem Gemälde von Philipp Otto Runge auf dem Cover. Man kann das Buch antiquarisch noch finden, mein Exemplar hat mich 2,75 € gekostet. Das verbrannte Bild hatte dem Herzoglichen Museum Gotha gehört, die es für die Münchener Ausstellung ausgeliehen hatten. Offenbar fanden sie das Bild Kreuz im Gebirge zu wichtig, um es 1931 nach München auszuleihen.

Das hier ist keine nachträglich kolorierte Photographie des Gemäldes, das ist ein Kunstwerk.  Slawomir Elsner hatte für eine Dresdner Galerie die neun verbrannten Bilder Friedrichs künstlerisch nachempfunden. Ich frage mich nur, warum niemand auf die Idee kommt, mit Hilfe der Artificial Intelligence aus dem Photo einen richtigen Caspar David Friedrich zu machen. Das müsste doch gehen, alte Filme kann man ja auch restaurieren. Ich hätte die winkende Dame gerne in bunt.

Sonntag, 13. Oktober 2024

Caspar David Friedrich (7)


Die Holländer hatten im 17. Jahrhundert die Landschaftsmalerei perfektioniert, den Horizont tief gelegt und viel Himmel gemalt. Im 18. Jahrhundert war die Landschaftsmalerei ein wenig in Vergessenheit geraten. Für Sir Joshua Reynolds war die Landschaftsmalerei kein Thema. Gainsborough möchte am liebsten Landschaften malen, aber er verdient sein Geld mit Portraits. John Constable möchte nur Landschaften und Himmel malen, aber er hat Schwierigkeiten, seine Bilder zu verkaufen. Caspar David Friedrich malt Landschaften, er kann nichts anderes. Wenn er Personen malen muss, sind es Rückenansichten. 

In dem ersten wichtigen Buch über die Geschichte der Landschaftsmalerei  Landscape into Art hat Kenneth Clark 1948 nur wenige Zeilen für Friedrich übrig: For Friedrich, for all the intensity of his imagination, worked in the frigid technique of his times, which could hardly inspire a school of modern painting. In seiner weltberühmten Serie Civilisation erwähnt er Friedrich einmal, in seinem Buch The Romantic Rebellion: Romantic Versus Classic Art auch einmal. Das ist alles. Wir mögen das als unfair empfinden, aber es ist etwas daran. Friedrichs Zeitgenosse Carl Blechen nimmt den Impressionismus vorweg, Friedrich nimmt nichts vorweg. Er begründet keine Schule, niemand wird ihm folgen. Der Maler Friedrich, für den Goethe kein gutes Wort übrig hatte, war nach seinem Tod schnell vergessen.

Ein Jahr Feiern zum 250. Geburtstag des Malers, viele Ausstellungen, viele Bücher. Alte Bücher wurden wieder aufgelegt, neue geschrieben. Florian Illies hat mit Zauber der Stille wahrscheinlich einen Bestseller geschrieben. Nicht wieder aufgelegt wurde das Buch Caspar David Friedrich Studien von Werner Sumowski, das Helmut Börsch-Supan 1970 als die wichtigste Arbeit, die bisher über Caspar David Friedrich erschienen ist, bezeichnete. Auch eine Neuauflage verdient hätte der Katalog der Hamburger Kunsthalle aus dem Jahre 1974. Den hatte ich das ganze Jahr über zur Hand, wenn ich über Caspar David Friedrich schrieb. Man kann den Katalog für zehn Euro bei ebay finden, das fünfzig Jahre alte Werk ist in keinem Punkt überholt. Von der kunsthistorischen Qualität ist er dem Hamburger Katalog von 2024 überlegen.

Das Beste, das dem Werk Caspar David Friedrichs passierte, war dass Karl Wilhelm Jähnig unter schwierigsten Bedingungen einen Katalog  der Gemälde, Druckgraphik und bildmäßigen Zeichnungen erstellte. Das Schlimmste, das dem Werk Caspar David Friedrichs zustieß, war dass Helmut Börsch-Supan den überarbeitet. Der Kunstkritiker der New York Times John Russell vernichtete Börsch-Supan in seiner Besprechung: But it is quite another thing to take Friedrich, as Dr. Börsch‐Supan does, and interpret every single one of his images in terms of a tight, unvarying formula. Friedrich may well have had the life to come continually in mind, and it may even be that many of his imaginings were structured by the contrast between that life and our own one. But it is quite implausible that an art as limited in its reverberations as Dr. Börsch‐Supan suggests would exert so lasting and so intense a thraldom upon us. Alles in Friedrichs Bildern, vom kleinsten Grashalm und fliegendem Piepmatz wird für Börsch-Supan zu einem christlichen Symbol. Dieses symbol hunting ist schon ein wenig pathologisch.

Im Dresdner Kunstblatt war wenige Tage nach Friedrichs Tod ein anonymer Nachruf zu lesen: ... Sein Leben war ein langes Unglück. Die Erinnerung an seinen Bruder, der ertrank, als er ihn beim Schlittschuhlaufen retten wollte, warf einen tiefen Schatten über sein ganzes Leben, da er sich als Ursache dieses Todes betrachtete. Er floh seine Heimat (Greifswald), kam hierher (Dresden) ohne Unterstützung und ernährte sich anfänglich durch Kolorieren schlechter Dresdener Prospekte für einen Bilderhändler, bis er allmählich durch seine Landschaften in Ruf kam. Seine Werke wurden nun geschätzt und gesucht, und er hätte mit den Seinen sorgenfrei leben können, wenn er nicht bis zum Übermaß gegen Dürftige wohltätig gewesen und oft auch gemißbraucht worden wäre. Im kräftigsten Alter fing er plötzlich an zu kränkeln, und war schon seit vielen Jahren untätig aus Schwäche des Körpers. Noch in den letzten Tagen seines Lebens erhielt er durch den russischen Thronfolger eine Unterstützung, die ihn für ein Jahr wenigstens aller Sorgen überhob, die er aber leider nicht selbst mehr genießen konnte.

Friedrichs Freund Carl Gustav Carus schreibt in seinen Lebenserinnerungen: Einen Freund, aber allerdings einen bereits längere Zeit mir halb Toten, nahm dieser Mai nun auch hinweg: meinen alten Friedrich! Er hatte so viele Kirchhöfe gemalt – er muss sich ganz heimisch dort vorgekommen sein! Carus war der Meinung, dass der Nachruf des Kunstblatts ein wenig mickrig ausgefallen war. Er veröffentlicht im Kunstblatt in zwei Heften einen längeren Nachruf mit dem Titel Friedrich der Landschaftsmaler, in dem er Friedrich als einen Erneuerer der deutschen Landschaftsmalerei sieht, die zur bloßen Prospektmalerei verkommen war. Das ist ein Thema, in dem Carus zuhause ist, denn er hatte 1831 seine Neun Briefe über Landschaftsmalerei veröffentlicht.

Hier soll diese Einleitung nur auf eins uns hier zunächst Liegende  aufmerksam machen, nämlich, dass in der Landschaftsmalerei namentlich Friedrich es war, welcher mit einem durchaus tiefsinnigen und energischen Geiste und auf absolut originale Weise in den Wust des Alltäglichen, Prosaischen, Abgestandenen hineingriff, und, indem er ihm mit einer herben Melancholie niederschlug, aus dessen Mitte eine eigentümlich neue, leuchtende poetische Richtung hervorhob. Wir wollen damit keineswegs die Art seiner Auffassung der Landschaftskunst als die allein wahre und noch weniger als die allein zu verfolgende hervorheben, aber wer sich jenen früheren nachbetenden, trivialen Zustand dieser Kunst vergegenwärtigen will und noch vergegenwärtigen kann, der wird fühlen, dass das Auftauchen einer solchen neuen urgeistigen Richtung, wie sie Friedrich erschien, auf jedes empfängliche Gemüt durchaus anregend, ja erschütternd einwirken musste. […] Friedrich ist nun tot, schon mehrere Jahre war durch die Folge eines Schlagflusses seine geistige und künstlerische Tätigkeit gelähmt, allein noch fanden sich auf der Dresdner Kunstausstellung 1840 einige und besonders eines seiner letzten Bilder, welche beweisen, mit wie seltener und eisenfester Eigentümlichkeit er bis in seine letzten Lebensjahre dieselbe tief melancholische und immer geistig lebendige Romantik der Poesie in seinen Werken walten ließ. 

Als Carus diesen Aufsatz in Buchform veröffentlichte, fügte er ihm alles bei, was Caspar David Friedrich über die Landschaftsmalerei gesagt hatte. Beginnend mit dem Satz: Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht. Sonst werden seine Bilder den Spanischen Wänden gleichen, hinter denen man nur Kranke und Tote erwartet.


Donnerstag, 10. Oktober 2024

Thaddäus Kosciuszko


Heute vor zweihundertdreißig Jahren hat der General Thaddeus Kosciusko die Schlacht von Maciejowice gegen die Russen verloren. Das wissen Sie natürlich, weil Sie 2010 den Post Maciejowice gelesen haben. In dem Jahr gab es noch einen zweiten Post zu dem polnischen Nationalhelden, der Benjamin Wests 'Thaddäus Kosciuszko' heißt. Den Post hat damals kaum jemand gelesen, aber der Post über die Schlacht von Maciejowice im Oktober hatte dann schon vierstellige Leserzahlen. Wie bin ich auf den Mann gekommen, dass ich, kaum bin ich im Internet, gleich zweimal über ihn schreibe? Ich hatte das Gefühl, man müsse ihnvor dem Vergessen bewahren.

Für den amerikanischen Quäker Benjamin West war der polnische Edelmann ein amerikanischer Held. Und das ist er sicherlich auch gewesen. Benjamin West, der inzwischen zum Lieblingsmaler von George III geworden war, wollte Kosciuszko unbedingt in dem Londoner Hotelzimmer malen, in dem der General sich von den Wunden erholte, die er in der Schlacht von Maciejowice erlitten hatte. Der russische Zar Paul hatte ihn im Gefängnis besucht, er hatte gewisse Sympathien für diesen Mann, der für sein Heimatland Polen kämpfte. 

Ein Land, das Preußen, Österreich und Russland immer wieder für sich beanspruchten. Erste, zweite, dritte polnische Teilung: kennen wir alle noch aus dem Geschichtsunterricht. Wenn der Zar Kosciusko nach dem Tod seiner gehassten Mutter Katharina die Freiheit schenkt, wünscht er sich von ihm, einmal die Uniform zu sehen, die der Mann, der König von Polen hätte werden können, im Freiheitskampf trug. Als er ein Heer von Bauern mit Sensen anführte. Kosciusko bringt ihm die Uniform, aber er trägt sie nicht. Er trägt die Uniform eines amerikanischen Brigadegenerals mit weißen Epauletten, die er ein Jahrzehnt früher getragen hatte.

Der russische Zar lässt ihn allerdings trotz aller Freundlichkeiten in London von seinem Botschafter, dem Grafen Semyon (Simon) Woronzow, bespitzeln. Wir haben den Grafen hier, gemalt von Thomas Lawrence. Offiziell erkundigt sich Woronzow natürlich nur nach der Gesundheit des polnischen Freiheitskämpfers. Aber man möchte in Russland schon gerne wissen, was er vorhat. Wird er nach Amerika gehen? Wird er die 48.000 Rubel bei der Londoner Bank abheben, die der Zar dort als Geschenk für ihn deponiert hat? Der Graf Woronzow, der eines Tages das Vertrauen seines Zaren verlieren wird, bleibt bis zu seinem Lebensende in England. Er ist ein Londoner geworden, der bei seinem Tod ein kleines Vermögen für das Armenhaus der Gemeinde hinterlässt. Es gibt in London eine Woronzow Road, nördlich vom Regent's Park (oder für Beatles Fans: in der Nähe der Abbey Road).

Kosciuszko war 1776 nach Amerika gekommen, weil er als Offizier in der polnischen Armee keine Zukunft hatte. Und die amerikanische Kontinentalarmee war ja auch dankbar für gut ausgebildete Offiziere aus Europa, vor allem, wenn die adlig sind. Wenn auch in manchen Fällen, wie bei dem Baron von Steuben und dem Baron de Kalb, die Adelstitel ein klein wenig fiktiv sind. Kosciuszko, der sich für die Schiffsreise nach Amerika achtzig Dukaten von seinem Schwager geliehen hatte, hat andere Qualitäten als Steuben und de Kalb, er ist ein Ingenieur. Er hatte die königliche Offiziersschule in Warschau und die Ecole Militaire in Paris besucht. Er kann Festungsanlagen und Brücken bauen. Solche Leute braucht man jetzt in Amerika, man macht ihn sofort zum Colonel und wird ihm im Laufe des Krieges in den Südstaaten auch kleinere militärische Einheiten anvertrauen. Er rechtfertigt das Vertrauen, das er von Benkamin Franklin und George Washington erhielt. Er wird die Befestigungen des Forts West Point so anlegen, dass die Engländer es nie einnehmen können. Da müssen sie schon darauf hoffen, dass der Verräter Benedict Arnold ihnen die Pläne verkauft. Dieses Denkmal erinnert in West Point heute noch an Kosciusko .

Bevor Kosciuszko West Point ausbaute, hatte er 1777 sein Meisterstück in der Schlacht von Saratoga geliefert, einer Schlacht, in der die Engländer unter dem Generalmajor John Burgoyne eine ganze Armee verlieren. Das ist ein Wendepunkt des Unabhängigkeitskrieges, und die Schlacht hat hier mit Saratoga schon einen langen Post. Die Schlacht, die aus zwei Einzelschlachten besteht (Freeman’s Farm und Bemis Heights), gewinnen die Amerikaner, weil der adlige Colonel aus Polen so geschickt die Festungsanlagen um Bemis Heights herum plaziert hatte. 

The great tacticians of the campaign were hills and forests, which a young Polish Engineer was skilful enough to select for my encampment, wird der General Horatio Gates eines Tages schreiben. Auf dem Bild, das John Trumbull eines Tages von der Kapitulation von John Burgoyne malen wird, ist Thaddeus Kosciusko nicht zu sehen. Aber Historiker sagen heute, dass sein Anteil am Sieg ebenso groß gewesen sei wie der der Generäle. Es sind immer die Generäle, die auf dem Pferd sitzen und einen Säbel in der Hand haben, die man bewundert. Über die Militäringenieure, die Befestigungen bauen, redet niemand. Die finden wir bestenfalls in Laurence Sternes Roman Tristram Shandy.

George Washingtons Freund, der General Nathanael Greene wird über Kosciuszko sagen: Colonel Kosciuszko belonged to the number of my most useful and dearest comrades in arms. I can liken to nothing his zeal in the public service, and in the solution of important problems nothing could have been more helpful than his judgment, vigilance and diligence. In the execution of my recommendations in every department of the service he was always eager, capable, in one word impervious against every temptation to ease, unwearied by any labour, fearless of every danger. He was greatly distinguished for his unexampled modesty and entire unconsciousness that he had done anything unusual. He never manifested desires or claims for himself, and never let any opportunity pass of calling attention to and recommending the merits of others. 

Es wird etwas dauern, bis der amerikanischen Kongress die Verdienste von Kosciuszko anerkennt. Erst auf das Drängen von George Washington macht man ihn zum Brigadegeneral und beschliesst: that the secretary at war transmit to Colonel Kosciuszko the brevet commission of brigadier-general, and signify to that officer, that Congress entertain a high sense of his long, faithful, and meritorious services. Und er wird Ehrenmitglied der Society of the Cincinnati, das zeigt dieser kleine goldene Orden, der an seinem Kragen hängt. Washington wird auch dafür sorgen, dass Kosciuszkos farbiger Adjutant Agrippa Hull eine lebenslange Rente erhält. Der Kongress gewährt dem Brigadegeneral für seine Dienste ein Guthaben von 12.280 Dollar mit einer jährlichen Auszahlung von 6 Prozent Zinsen. Und den Anspruch auf 500 Acres Land, falls er in den Vereinigten Staaten bleiben wolle. Das Bild hier ist ein kolorierter Stich von Frederick  Girsch aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Bild heißt Die Helden der Revolution, Kosciuszko ist der fünfte von links. Immerhin zählt man ihn damals zu den Helden der amerikanischen Revolution. 

1797 wird er Amerika wieder besuchen, man feiert ihn wie einen Nationalhelden. George Washington wird ihm schreiben: I beg you to be assured that no one has a higher respect and veneration for your character than I have; or one who more singularly wished during your arduous struggle in the cause of liberty and your country, that it might be crowned with Success. But the ways of Providence are inscrutable, and Mortals must submit. I pray you to believe, that at all times, and under any circumstances, it would make me happy to see you at my last retreat. Das Haus in Philadelphia, in dem Kosciuszko wohnte, ist heute ein Nationaldenkmal. Er wird seinen Lebensabend in Paris und der Schweiz verbringen. Aber zuvor hat der Mann, der die Worte Freiheit, Integrität und Unabhängigkeit auf seinem Wappenschild hatte, noch etwas Erstaunliches getan. Er setzt mit seinem Freund Thomas Jefferson sein Testament auf. Von den 12.280 Dollar (und den Zinsen) sollen Farbige freigekauft werden. Seinen polnischen Leibeigenen hatte er schon vorher die Freiheit gegeben. He is as pure a son of liberty, as I have ever known, and of that liberty which is to go to all, and not to the few or the rich alone, hat Jefferson über ihn gesagt. 

Einen Monat vor seinem Tod 1817 hat Thaddeus Kosciuszko seinem Freund Jefferson einen Brief geschrieben und hat ihn an das Testament erinnert. In dem man lesen kann: Thaddeus Kosciuszko being just in my departure from America do hereby declare and direct that should I make no other testamentary disposition of my property in the United States I hereby authorise my friend Thomas Jefferson to employ the whole thereof in purchasing Negroes from among his own or any others and giving them liberty in my name, in giving them an education in trades or otherwise and in having them instructed for their new condition in the duties of morality which may make them good neighbours, good fathers or mothers, husbands or wives and in their duties as citizens teaching them to be defenders of their liberty and Country and of the good order of society and in whatsoever may make them happy and useful and I make the said Thomas Jefferson my executor of this. Aber Jefferson hat das nicht hingekriegt, er bat aus Altersschwäche und Überarbeitung den Federal Court, einen anderen Testamentsvollstrecker zu bestellen. Dann landete das Ganze vor dem Supreme Court, der das Testament für nichtig erklärte, weil es angeblich noch andere Testamente gäbe. Der Brief von 1817 wird nicht berücksichtigt. In Sachen Sklaverei werden die amerikanischen Gerichte sehr unterschiedliche Urteile sprechen. Bis der Supreme Court im Fall Dred Scott versus Sandford ein katastrophales Urteil fällt. Es wird beinahe hundert Jahre dauern, bis Earl Warren ein neues Kapitel der amerikanischen Rechtsgeschichte schreiben wird.

Aber die 12.800 Dollar sind nicht verloren, sie werden einem guten Zweck zugeführt. Bei Booker T. Washington können wir 1911 lesen: Seven years after his death, a school (for former) slaves, known as the Kosciuszko School, was established in Newark, New Jersey. The sum left for the benefit of this school amounted to thirteen thousand dollars. The Polish patriot is buried in the cathedral at Cracow, which is the Westminster Abbey of Poland, and is filled with memorials of the honored names of that country. Kosciuszko lies in a vault beneath the marble floor of the cathedral. As I looked upon his tomb I thought how small the world is after all, and how curiously interwoven are the interests that bind people together. Here I was in this strange land, farther from my home than I ever expected to be in my life, and yet I was paying my respects to a man whom the members of my race owed one of the first permanent schools for them in the United States. When I visited the tomb of Kosciuszko I placed a rose on it in the name of my race.

Monica Mary Gardner, die als Schriftstellerin eine interessante Karriere hat, hat 1920 die Biographie →Kościuszko A Biography veröffentlicht. Sie ist hier im Internet lesbar, ist auch immer wieder neu aufgelegt worden, zuletzt 2022. Aber ein richtig gutes Buch über Kosciuszko gibt es meines Wissens nicht. Auch dies Buch des amerikanischen Journalisten Alex Storozynski The Peasant Prince: Thaddeus Kosciuszko and the Age of Revolution ist eher ein Roman als eine solide Biographie. Sie können aber hier den einstündigen Dokumentarfilm Kosciuszko: A Man Before His Time von Storozynski anschauen. Ist besser als nix. 

Die 48.000 Rubel hat Thaddeus Kosciuszko übrigens in London nie abgeholt, er wollte vom russischen Zaren nichts geschenkt bekommen.

Dienstag, 8. Oktober 2024

Blechgöttin


Am 8. Oktober 1955 stellte die französische Firma Citroën auf dem Pariser Autosalon ein neues Automobil vor, das ganz anders aussah als die Modelle, die man zuvor gebaut hatte. Angeblich sollen am Abend des ersten Tages der Show 12.000 Bestellungen eingegangen sein, aber das ist wohl ein kleines Märchen der Werbefuzzis. Der Firmengründer André Citroën hat diesen Tag nicht mehr erlebt, aber er hatte 1932 den italienischen Designer →Flaminio Bertoni eingestellt, der das Gesicht der Marke für ein Vierteljahrhundert prägen sollte und für das Design der DS 19 verantwortlich war.

Bertoni hatte für Citroen 1934 den Traction Avant und 1948 den Deux Chevaux entworfen (der natürlich mehr als zwei PS hatte, das mit den zwei Pferden bezieht sich auf die Steuerklasse). Der Citroen Traction Avant war ein Auto, das den schönen Beinamen Gangsterauto hatte. Wir kennen es auch vielen französischen Gangsterfilmen. Und man konnte auch aus la traction das Wort l'attraction bilden. Aber nun kommt die neue Zeit. Jetzt konnte sie jeder am 8. Oktober 1955 sehen: die Göttin. Aus der internen Modellbezeichnung DS wurde La Déesse

Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen ... ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake, hieß es ein halbes Jahrhundert zuvor in Marinettis Manifest des Futurismus. Das da links ist Marinetti mit seinem neuen Auto, das überhaupt nichts von der Nike von Samothrake an sich hatte - und er konnte auch überhaupt nicht damit umgehen. Zwischen den Worten des Dichters und der automobilen Realität sind doch Welten.

Obgleich das alte schwarze Gangsterauto für alle französischen Krimis toll war, kommt jetzt dank Flaminio Bertonis Design die ganz neue Zeit - passend zum nouveau roman und der nouvelle vague. Keine großen Rohre mehr, wie an Marinettis idealem Rennwagen. Stattdessen Stromlinie und Hydropneumatik (so etwas Ähnliches hatte der Borgward später auch). Und die Scheinwerfer, an die Lenkung gekoppelt, leuchteten um die Ecke. Roland Barthes hat in seinem Buch Mythologies eine Liebeserklärung an die Déesse gerichtet, wofür ihm die Firma Citroen sofort ein Exemplar hätte schenken müssen.

Ich glaube, dass das Auto heute das genaue Äquivalent der großen gothischen Kathedralen ist. Ich meine damit: Eine große Schöpfung der Epoche, die mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern erdacht wurde und die in ihrem Bild, wenn nicht überhaupt im Gebrauch von einem ganzen Volk benutzt wird, das sich in ihr ein magisches Objekt zurüstet und aneignet. Der neue Citroën fällt ganz offenkundig insofern vom Himmel, als er sich zunächst als ein superlativisches Objekt darbietet. Man darf nicht vergessen, dass das Objekt der beste Bote der Übernatur ist: es gibt im Objekt zugleich eine Vollkommenheit und ein Fehlen des Ursprungs, etwas Abgeschlossenes und etwas Glänzendes, eine Umwandlung des Lebens in Materie (die Materie ist magischer als das Leben) und letztlich ein Schweigen, das der Ordnung des Wunderbaren angehört. Die „Déesse“ hat alle Wesenszüge (wenigstens beginnt das Publikum, sie ihr einmütig zuzuschreiben) eines jener Objekte, die aus der Welt herabgestiegen sind, von denen die Neomanie des 18. Jahrhunderts und die unserer Science-Fiction genährt wurden: Die Déesse ist zunächst ein neuer Nautilus.

Bei Marinetti war es noch die Nike von Samothrake, jetzt wird das Automobil zur gotischen Kathedrale. Von den Schriftstellern können die Werbeabteilungen noch viel lernen. Roland Barthes hat viele amüsante und kluge Dinge geschrieben, ich weiß nicht, ob ihn das schon wirklich zu einem Philosophen macht. Aber dieser ganze Strukturalismus mit signifiers und signs klingt natürlich gut. For Thursday, you should read the Roland Barthes essay, "The Death of the Author." In your comments I'd like you to tell me what Barthes meant to imply when he wrote, "The birth of the reader must be at the cost of the death of the Author." In case you're curious about how our man Roland actually died, here's a song from Colson Whitehead's 2001 book, "John Henry Days": 

Roland Barthes got hit by a truck
That's a signifier you can't duck
Life's an open text
From cradle to death. 

Das schreibt ein Blogger (ein amerikanischer Doktorand) und gibt seinen Lesern Hausaufgaben. Wollen Sie auch mal eben bis Donnerstag den Essay The Death of the Author lesen? Als Roland Barthes das geschrieben hatte, kursierten in Paris Witze, dass er jetzt in der Métro betteln würde, weil ihm seine Verlage keine Tantiemen mehr bezahlen. Weil er den Autor ja für tot erklärt habe. Aber Roland Barthes ist wirklich eines Tages gestorben, weil er von einem kleinen Wäschelaster angefahren wurde, es wäre noch tragischer gewesen, wenn es eine Citroen Déesse gewesen wäre. Zum Beispiel diese hier, von Pablo Picasso bemalt.

Dieses kleine Gedicht Roland Barthes got hit by a truck kommt in dem Roman John Henry Days von Colson Whitehead (übrigens ein sehr lesenswerter Roman) wirklich vor, auf der letzten Seite von Teil V. Ich weiß nicht, ob es wirklich von Colson Whitehead ist, ich kannte es schon, bevor ich den Roman gelesen hatte. Blöde Akademikerwitze kursieren immer sehr schnell, mein Seminar Englische Lyrik hat noch nicht angefangen, da hat schon ein Anonymus T.S. Eliot is an anagram for toilets an die Wandtafel geschrieben.

Als die Déesse neu war, schaute man gebannt zu, wie sie sich absenkte, nachdem der Fahrer den Wagen verlassen hatte. Allein, mit der Zeit verlor diese Neuigkeit ihren Reiz, und so toll sah sie ja auch nicht aus. Mit einem Facel Vega konnte die Göttin nun überhaupt nicht konkurrieren. Die Firma Facel Vega gehörte Jean Daninos, der 1928 bei Citroen als Ingenieur angefangen hatte und auch an der Entwicklung des Modells Traction Avant beteiligt gewesen war. Sein Bruder Pierre Daninos kommt hier schon in dem Post Engländer vor. Albert Camus hat mehrere Traction Avant Modelle besessen, er war damit zufrieden. Als er den Nobelpreis bekam, rief ihn sein Autohändler an und wollte ihm eine Déesse verkaufen. 

Er blieb dem Modell Traction Avant treu, er liebte das langsame Fahren. Er hat seinen Autos auch Namen wie Desdemona oder Penelope gegebenGestorben ist er in dem Facel Vega seines Verlegers Gallimard. Er hatte eine Bahnkarte für die Rückreise nach Paris von seinem gerade gekauften Landsitz im südfranzösischen Lourmarin in der Tasche. Aber dann bot ihm sein Verleger Gallimard eine Mitfahrt  mit seinem gerade gekauften Typ FV3B an. Camus hätte die Bahn nehmen sollen.

Niemand von uns Teenies, für die Autos in den fünfziger Jahren alles bedeuteten, wäre auf die Idee gekommen, den Citroen mit einer gotischen Kathedrale zu vergleichen. Einen Facel Vega mit einer griechischen Göttin schon eher. Und in den französischen Gangsterfilmen (wie hier in Jean-Pierre Melvilles Bob le flambeur) sah ein alter Citroen Traction Avant mit der Selbstmördertür einfach besser aus als die französische Flunder.

Das Zitat von Barthes über die Déesse geht folgendermaßen weiter: Deshalb interessiert man sich bei ihr weniger für die Substanz als für ihre Verbindungsstellen. Bekanntlich ist das Glatte immer ein Attribut der Perfektion, weil sein Gegenteil die technische und menschliche Operation der Bearbeitung verrät: Christi Gewand war ohne Naht, wie die Weltraumschiffe der Science-Fiction aus fugenlosem Metall sind. Die DS 19 erhebt keinen Anspruch auf eine völlig glatte Umhüllung, wenngleich ihre Gesamtform sehr eingehüllt ist, doch sind es die Übergangsstellen ihrer verschiedenen Flächen, die das Publikum am meisten interessieren. Es betastet voller Eifer die Einfassungen der Fenster, es streicht mit den Fingern den breiten Gummirillen entlang, die die Rückscheibe mit ihrer verchromten Einfassung verbinden. Wenn die Franzosen mal gedanklich abheben, dann aber richtig. Ich finde das mit dem Gewand Christi und den Raumschiffen der Science Fiction ein klein wenig gewagt. Und wieder einmal entfernt sich der Mann, der sechzig Jahre bei Mammi gelebt hat, in seinen Gedankenflügen ein bisschen von der Erde. Ich sage jetzt über französische Automobile der fünfziger und sechziger Jahre (und siebziger etc) nur ein einziges Wort: Spaltmaße!

Roland Barthes hat in den Jahren 1954 bis 1956 monatlich für die Zeitschrift Les Lettres Nouvelles geschrieben. Er hatte gerade den Sprachphilosophen de Saussure gelesen, und dekonstruiert jetzt die Mythen des Alltags mit Hilfe von de Saussure, Husserl, Freud und Marx. Die Franzosen haben es ja gerne kompliziert, William of Ockhams entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem gilt bei ihnen nichts. Und doch entgeht Barthes bei allen geistreichen Überlegungen das wahre Wesen des französischen Automobils. Dafür braucht man nicht so viele Wörter wie Barthes in The New Citroen. Da genügt wiederum eins: Rost. Heißt auf Französisch rouille, ist aber das Gleiche.

Das stand hier schon 2010, in meinem ersten Jahr als Blogger. Da kannten Sie mich vielleicht noch nicht. Ich habe den Text natürlich überarbeitet, ich stelle ihn deshalb ein, weil er mir immer noch gefällt.