Freitag, 31. Oktober 2025

Reformationstag


Nv frewt euch lieben Christen gmeyn /
vnd last vns frölich spryngen.
Das wir getrost vnd al ynn eyn /
mit lust vnd liebe syngen.Was Got an vns gewendet hat
vnd seyne susse wunder that.
Gar theur hat ers erworben.

Dem teuffel ich gefangen lag /
ym tod war ich verloren.
Mein sund mich qwellet nacht vnd tag /
darynn ich war geboren.
Ich fyel auch ymmer tieffer dreyn.
Es war keyn guts am leben meyn.
Die sund hat mich besessen.

Mein gute werck die golten nicht /
es war mit yhn verdorbenn.
Der frey will hasset Gotts gericht /
er war zum gut erstorben.
Die angst mich zu verzweifeln treib /
das nichts dan sterben bey mir bleyb.
Zur hellen must ich syncken.

Da yamert Gott yn ewigkeyt /
mein elend vbermassen.
Er dacht an seyn barmhertzigkeit.
Er wolt mir helffen lassen.
Er wand zu mir das vater hertz.
Es war bey yhm furwar keyn schertz.
Er ließ syn bestes kosten.

Er sprach zu seynem lieben son /
die zeyt yst hie zurbarmen.
Farhyn meyns hertzen werde kron /
vnnd sey das heyl der armen.
Vnd hylff yhm aus der sunden nott.
Erwurg fur yhn den bittern todt.
Vnd laß yhn mit dir leben.

Der son dem vater gehorsam ward /
er kam zu mir auff erden.
Von eyner yungfraw reyn vnnd tzart /
er solt mein bruder werden.
Gar heymlich furtt er seyn gewalt.
Er gieng ynn meyner armen gestalt.
Den teuffel wolt er fangen.

Er sprach zu mir halt dich an mich.
Es solt dir ytzt gelingen.
Ich geb mich selber gantz fur dich.
Da will ich fur dich ryngen.
Denn ich byn deyn vnd du byst meyn.
Vnd wo ich bleib da soltu seyn.
Vnns soll der feind nicht scheyden.

Vergiessen wirt er mir meyn blut /
dazu mein leben rawben /
das leyde ich dir alles zu gutt /
das halt mit festem glauben /
den todt verschlingt das leben mein.
Meyn vnschult tregt die sunden deyn.
Da bistu selig worden.

Gen hymmel zu dem vatter meyn.
Far ich von dysem leben /
da will ich seyn der meyster deyn /
den geyst will ich dir geben /
der dich yn trubniß trösten soll.
Vnd lernen mich erkennen wol.
Vnd yn der warheit leitten.

Was ich gethan hab vnd geleert
das solt du thun vnnd leeren /
damit das reich Gotts werd gemehrt.
Zu lob vnd seynen ehren.
Vnd hut dich fur der menschen satz /
dauon verdirbt der edle schatz.
Das laß ich dir zur letze.

Samstag, 25. Oktober 2025

se vuol ballare, Signor Trumpino?


Am Morgen habe ich die New York Times in der Mail, am Abend den New Yorker Daily. Den New Yorker hatte ich mein halbes Leben als Abo oder als Geschenk; und Adam Gopnik, den ich als Autor sehr schätze, hat hier schon einen Post. Die Lektüre der besten Zeitungen aus den USA kostet übrigens nichts, Sie brauchen sich nur mit Ihrer E-Mail Adresse auf die Liste setzen zu lassen. Sie können natürlich auch den White House Newsletter abonnieren, aber das wollen Sie sicher nicht. Obgleich die Selbstinszenierung der Regierung Trump sehr, sehr komisch ist. Was beide New Yorker Blätter im Augenblick beschäftigt, ist der Ostflügel des Weißen Hauses, den Trump gerade abreißen lässt. Weil er dort einen Ballsaal für tausend Leute bauen will, den sich die Nation angeblich schon immer gewünscht hat: For 150 years, Presidents, Administrations, and White House Staff have longed for a large event space on the White House complex that can hold substantially more guests than currently allowed. President Donald J. Trump has expressed his commitment to solving this problem on behalf of future Administrations and the American people.

Als ich die Sache mit dem Ballsaal zu ersten Mal las, fiel mir Figaros Arie se vuol ballare, signor contino ein, das wäre ein witziger Titel für das Ganze gewesen. Signor contino Donald lässt einen Ballsaal bauen und Figaro bringt ihm das Tanzen bei. Im New Yorker beantwortete George E. Condon, die Frage How normal is this sort of White House renovation? mit den klaren Sätzen: The White House wants you to believe this is totally normal, citing all the renovations, big and small, made by past Presidents. They are right that changes were made. But they are dead wrong about how this is being done. With the exception of F.D.R. secretly building a bunker under the East Wing during the Second World War, past renovations of this size were debated, funded by Congress, and done only after the need was manifest. None were rushed and done at the whim of a President.

Keine Diskussionen in Kongress oder Senat, überhaupt keine Diskussionen im Land, wenn der Signor Trumpino at the whim seinen Tanzsaal haben will. So etwas wollte er schon vor Jahrzehnten mal haben und mit 100 Millionen Dollar selbst finanzieren, aber Obama hat seinen Brief gar nicht erst beantwortet. Hatte allerdings, als er sich 2011 um die zweite Amtszeit bemühte, beim jährlichen White House Correspondents Association Dinner ein Photo in seinem Vortrag eingeblendet, das das Weiße Haus nach einem theoretischen Sieg Donald Trumps zeigte. Das war damals ein kleiner visueller Scherz. Heute ist das Bild bitterböse Satire, aber vielleicht wird das ja noch genau so werden. Den Bordell-Stil seines Anwesens Mar-a-Lago mit viel Gold und Glitzer hat Trump ja schon in das Weiße Haus gebracht: Where the Oval Office once conjured gravitas and continuity through its restrained adornments, it now evokes insecurity and petulance. It is awash in gilt.

Das Weiße Haus, das architektonisch sicherlich nicht die Bedeutung von Jeffersons Monticello hat, ist über die Jahre immer wieder umgebaut worden; vom Original von James Hoban ist wenig erhalten. Donald Trump benutzt jetzt eine Auflistung der Umbauten durch Amerikas Präsidenten, um gegen seine Kritiker vorzugehen: In the latest instance of manufactured outrage, unhinged leftists and their Fake News allies are clutching their pearls over President Donald J. Trump’s visionary addition of a grand, privately funded ballroom to the White House — a bold, necessary addition that echoes the storied history of improvements and additions from commanders-in-chief to keep the executive residence as a beacon of American excellence

Wir lassen das Geschwafel mit der manufactured outrage, den unhinged leftists and their Fake New mal so stehen und kommen zu einer kurzen Baugeschichte. 1902 begann Roosevelt mit erheblichen Renovierungsmaßnahmen, die dem Haus diesen Ostflügel (und einen Südflügel) verschafften. Die Bauarbeiten wurden durch Amerikas renommierteste Firma McKim, Mead and White durchgeführt, die dafür berühmt waren, die größten Villen für die Millionäre des Gilded Age im Stil der École des Beaux-Arts von Paris zu bauen (lesen Sie mehr in Dementia Americana). Die verpassten dem Haus auch die weiße Farbe. Und Roosevelt gibt ihm den Namen The White House

Nicht nur McKim, Mead and White haben das Haus umgebaut, das Haus wurde, seit es die Engländer im Krieg 1812-1814 angezündet hatten, ständig umgebaut. Damals hatte man das Gebäude zum ersten Mal weiß gestrichen, um die Brandschäden zu übertünchen. Von nun an baut jeder Präsident ein wenig an dem Haus dran herum. James Monroe ließ den Portikus im Süden errichten, Andrew Jackson zehn Jahre später den North Portico. Am Ende des 19. Jahrhunderts plädierten schon viele für einen Abriss und Neubau des Gebäudes. 

1945 merkte man, dass das Haus wirklich abrissreif war. Die Bausünden von Jahrhunderten wurden evident. Und die eine tragende Wand hätte Roosevelt nicht entfernen sollen. Nachdem das Spinett seiner Tochter durch die Decke des Obergeschosses gebrochen war, zog Präsident Truman mit seiner Familie in das Blair House, wo er die nächsten vier Jahre wohnen wird. So wie auf diesen Bildern sah das Weiße Haus im Frühjahr 1950 aus, nur die Außenwände stehen noch, man hatte es vollständig entkernt. Fachleute hatten für einen Abriss des baufälligen Hauses plädiert, aber das wollte der Kongress nicht hören. Er bestand auf dem Erhalt der Fassade. Der Architekt Lorenzo Simmons Winslow wird dem amerikanischen Präsidenten ein neues Zuhause aus Stahlbeton geben. Im Frühjahr 1952 führte Harry S. Truman ein Fernsehteam durch das im Inneren völlig neue Weiße Haus.

Und nun bekommt es eine visionary addition, einen neuen Flügel, der allerdings die ganze Konstruktion ein wenig aus dem Gleichgewicht bringt. Palladio, der für Amerikas öffentliche Bauten der Stilgeber ist, hätte so etwas nicht gebaut. Denn der Ballsaal im Stil von Versailles für Signor Trumpino wird größer als das Weiße Haus sein. I’ve seen drawings of the ballroom next to the White House, and it does a couple of things. First, it dwarfs it. And second, it takes away the symmetry. The White House looks symmetrical from above, from the front, and from the back — and this addition disrupts that, hat die Historikerin Dr Lindsay Chervinsky gesagt. 

Aber für den Bauherren, der das aus seiner Tasche (und den Taschen seiner Milliadärsfreunde) bezahlt, ist das alles nur beautiful: It will be beautiful. It won’t interfere with the current building. It won’t be – it will be near it, but not touching it. And pays total respect to the existing building, which I’m the biggest fan of. It’s my favourite. Der Architekt, den Trump für seinen Ballsaal gefunden hat, war bisher auf katholische Kirchen spezialisiert. Er war mal ein Vertreter moderner Architektur, tendiert aber heute zu irgendetwas, das er als klassisch empfindet. Er ist da wieder angekommen, wo McKim, Mead and White vor hundert Jahren schon waren. Ein bisschen klassischer Touch für Multimillionäre, die viel Geld und ganz wenig Geschmack haben.

Se vuol ballare, signor contino, singt Figaro, und seine Cavatine ist ein Lied der Rebellion. Das wissen wir, die Oper war häufig in diesem Blog. 

Will der Herr Graf ein Tänzchen nun wagen,
mag er's mir sagen, ich spiel ihm auf.
Soll ich im Springen Unterricht geben,
auf Tod und Leben bin ich sein Mann.
Ich will ganz leise
listigerweise von dem Geheimnis
den Schleier ziehn.
Mit feinen Kniffen, mit kecken Griffen,
heute mit Schmeicheln, morgen mit Heucheln
werd' seinen Ränken ich kühn widerstehn.

Nur Googles KI-Modus hat das nicht begriffen. Da steht doch tatsächlich: Der Text lautet: "Will der Herr Graf ein Tänzchen nun wagen, mag er's nur sagen, ich spiel' ihm auf". Dieser Text stammt aus der Cavatine des Figaro aus der Oper Die Hochzeit des Figaro von Wolfgang Amadeus Mozart. Es handelt sich um die Arie, in der Figaro vor Freude, dass der Graf nicht gegen ihn ist, die Musik für den Grafen spielt ... Bedeutung im Kontext: In dieser Arie drückt Figaro seine Freude aus, weil der Graf anscheinend nicht mehr gegen ihn ist. Er spielt die Musik für den Grafen und sagt, dass er ihm gerne aufspielen wird, wenn der Graf tanzen möchte. Nein, ihr Vollpfosten, Figaro will verhindern, dass der Graf Susanna an die Wäsche geht!

Wird man Signor Trumpino zum Tanz aufspielen? Die Musik, die er im Augenblick hört, ist der Krach der Abrißbirne: You probably hear the beautiful sound of construction in the back... When I hear that sound, it reminds me of money. Ach ja, das ist das einzige, das er im Kopf hat. This is Trump’s presidency in a single photo. Illegal, destructive, and not helping you, hat die Senatorin Elizabeth Warren über die ersten Photos gesagt. Und Hillary Clinton schrieb: It’s not his house. It’s your house. And he’s destroying it. Der Historiker Edward G. Lengel hat gesagt: I think Thomas Jefferson, poor old TJ, his head would’ve exploded if he had seen this. Die Frage, die bleibt, ist: wird Signor Trumpino es noch erleben, in seinem Ballsaal zu tanzen? Wird man da jemals solche Szenen sehen? Und wer werden die anderen tausend in dem Saal sein? Repräsentieren die Amerika? Kann man Trumps Ränken, wie Figaro es singt, ganz leise Mit feinen Kniffen, mit kecken Griffen, heute mit Schmeicheln, morgen mit Heucheln kühn widerstehn? Die ersten Klagen gegen die Abrissarbeiten sind eingereicht.

Donnerstag, 23. Oktober 2025

6.666.666

Mit dem Post Literatur tauchte am 3. Januar 2010 um 22:22 ein neuer Blogger im Internet auf. Der wusste noch nicht so recht, was er wollte. Und er wusste auch nicht, wie das Ganze funktioniert. Seit dem Juli 2010 wurde der Blogger Jay von Googles Zählmaschinen gezählt, vorher nicht, das hatte er mit denen so abgemacht. Wie viele Leser er hatte, wusste Jay erst am Endes des Jahres 2010, weil er die Seite mit der Leserstatistik noch nicht gefunden hatte. Inzwischen weiß er das. Heute mittag waren es 6,666,666. 

Genau um 13:15. Das hat mir meine neue Citizen Crystron gesagt. Wo ich nun beinahe alle Seiko Quarzuhren der siebziger Jahre habe, dachte ich, ich müsste auch mal eine von Citizen haben. Die Uhr mit dem Namen Crystron war Citizens Flaggschiff der siebziger Jahre. Es gab davon auch eine Mega Version in Gold, die 4,5 Millionen Yen kostete und die genaueste Uhr der Welt war. Dies hier ist eine einfache schlichte Crystron, keine Crystron 4 Mega. Kostete auch nicht die Welt, die 4 Mega Modelle kosten nach fünfzig Jahren heute immer noch vierstellig. Die Crystrons der siebziger Jahre sind allerdings schon ein wenig rar geworden. Meine 36 mm breite und sehr flache Uhr sieht in der Wirklichkeit besser aus als auf diesem Photo. Charmanterweise hat die Uhr noch ein Acrylglas und geht märchenhaft genau. Nach einem Vierteljahr immer noch an der Atomzeit dran. Das HAQ (High Accuracy Quartz) Werk soll fünf Jahre mit einer Batterie laufen.

Google KI weiß natürlich nicht, woher der Name Crystron kommt, der Blogger Jay weiß das aber. Seikos erste Quarzuhr hieß Astron, und dieser Name hat etwas mit Astronomie zu tun. Aber Crystron? Es sind zwei englische Wörter, aus denen der Name gebildet wurde. Zum einen crystal, zum anderen electronic, mit beiden Dingen hat eine Quarzuhr ja etwas zu tun. Ich fand das Originalband (CQ signiert, für Citizen Quartz) auf dem Photo in der Anzeige nicht so toll, aber der Herr Reitberger von der Firma Tokei Japan hat mir noch ein anderes Citizen Band spendiert. Liegt auf dem Photo links neben der Uhr. Hatte ich dran gebaut, das war aber ästhetisch nix. Diese Uhr, die aussieht, als hätte Dieter Rams sie designed, brauchte das flache Originalband. Das hat sie jetzt wieder.

Die 6.666.666 Leser von heute werden noch nicht mit Whisky gefeiert, weil ich immer noch Husten, Schnupfen, Heiserkeit habe, aber es geht aufwärts.

Dienstag, 21. Oktober 2025

neu im Oktober


Die Tagesschau weiß es auch schon, seit zwei Wochen hat Google etwas Neues: Der neue KI-Modus kann bei der herkömmlichen Suche auf Google.com oder den Landes-Websites von Google aktiviert werden. Die Funktion erscheint als Auswahlmöglichkeit in einem zusätzlichen Reiter ("Tab") neben den bisher üblichen Optionen wie "Alles", Bilder, Bücher, Videos und Nachrichten. Bislang hatte Google bei bestimmten Themen eine sogenannte "Übersicht mit KI" angeboten, unter der aber auch weiterhin herkömmliche Links und bezahlte Werbung zu sehen waren. Über die Übersicht mit KI habe ich mich schon in den Posts Künstliche Intelligenz, 17. Juni und der 22. Juli lustig gemacht. Jetzt wird die KI zu Googles wichtigstem Instrument:

Der KI-Modus ist die leistungsstärkste KI-Suchfunktion von Google. Sie können fragen, was immer Sie möchten, und erhalten eine KI-basierte Antwort. Sie haben auch die Möglichkeit, durch weiterführende Fragen und hilfreiche Weblinks tiefer in das Thema einzusteigen. Im KI-Modus bietet die Übersicht mit KI dank logischem Schlussfolgern und weitergehenden Interaktionsmöglichkeiten noch mehr Möglichkeiten. Ihre Frage wird in Unterthemen aufgeteilt und alle Suchanfragen werden gleichzeitig ausgeführt. So kann der KI-Modus im Web nach noch relevanteren Inhalten suchen, die zu Ihrer Frage passen.

Klingt ganz toll, ist aber meistens Quatsch. Unter den Antworten des Google Orakels steht der Satz KI-Antworten können Fehler enthalten. Ja, und wie. Ich habe das Ganze eine Stunde getestet und keinen Vorteil dieser neuen Algorithmussuche erkennen können. Erschütternde Fehler aber en masse. Meinen Freund Yogi habe ich schon mehrfach in meinem Blog erwähnt, zum Beispiel in den Posts Philologen, da hat er seinem neunzigjährigen Lateinlehrer eine Festschrift gewidmnet. So ausser lamäng, wie man in Bremen sagt. In Print On Demand wird er erwähnt, weil er mich überredet hat, ein  kleines Büchlein zu machen. Da kann man auch lesen, dass er niemand Geringeren als Kissinger rumgequatscht hat, das Vorwort für das Peace Pipe Buch zu schreiben. Und der Post existentialism war eine Laudatio auf das St Olaf College, wo Yogi mal unterrichtet hat.

Jetzt ist da Gordon Marino Professor, sein Buch The Existentialist's Survival Guide: How to Live Authentically in an Inauthentic Age hatte mir der Yogi damals aus Amerika geschickt, er hatte es vom Autor geschenkt bekommen. Mit Widmung, jetzt ist es meins. Ich hatte gleich begonnen, es zu lesen, weil es ein Lesevergnügen ist. Das bei Harper Collins erschienene Buch hat auch sehr gute Kritiken erhalten, und das zu Recht. Professor Gordon Marino hat auch Kierkegaard in the Present Age und The Quotable Kierkegaard veröffentlicht und ist Mitherausgeber des Cambridge Companion to Kierkegaard.. 

Dem Kierkegaard Spezialisten kann man übrigens nicht ansehen, dass er auch etwas ganz anderes kann, was ihn prominent macht. Er war nämlich einmal Boxer und ist heute noch Boxtrainer. Philosophen werden ja nicht unbedingt mit dem Sport assoziiert, obgleich wir natürlich Thomas Hobbes erwähnen müssen, der im hohen Alter noch Tennis spielte. Als Sartre noch am Gymnasium unterrichtete, brachte er seinen Schülern das Boxen bei, das er selbst während seines Studiums erlernt hatte. Ob Heidegger wirklich gesagt hat: Ich war linker Läufer beim FC Meßkirch, weiß ich nicht. Aber wir wissen, dass Albert Camus in seiner Jugend Torwart bei Racing Universitaire d’Alger war. Er hat über diese Zeit gesagt: Alles, was ich schließlich am sichersten über Moral und menschliche Verpflichtung weiß, verdanke ich dem Fußball.

Gordon Marino ist auch Direktor der Kierkegaard Bibliothek des St Olaf College in Northfield (Minnesota), und dass die kleine Universität die vielleicht beste Kierkegaard Bibliothek der Welt besitzt, verdankt sie diesem Herrn hier. Er heißt Howard Hong und hat keinen Wikipedia Artikel, die Bibliothek, die er aufgebaut hat, hat allerdings einen Artikel. Dieses Internet Lexikon weiß auch nicht, was es tut. Wir nehmen einmal für die Beschreibung seines Lebens diesen Nachruf aus der Star Tribune. Und immerhin kriegt der KI-Modus eine halbwegs richtige Würdigung seiner Tätigkeit hin.  Aber es ist eben leider nur halbwegs.

Die Bibliothek, die heute seinen und Kierkegaards Namen trägt, aufzubauen, wäre schon Grund genug dafür, dass es einen Howard Hong Artikel geben müsste. Doch es gibt noch viel mehr. Hong hat zusammen mit seiner Ehefrau den ganzen Kierkegaard ins Englische übersetzt, sieben Bände der Journals and Papers (Indiana University Press) und 26 Bände von Kierkegaards Werk (Princeton University Press). Für den ersten Band bekamen Edna und Howard Hong den National Book Award. Viele Ehrungen wie der Dannebrog Orden und ein Ehrendoktorat in Theologie der Universität von Kopenhagen für Howard Hong sollten folgen. Was wird jetzt aus einem kleinen College wie St Olaf, wenn Trump seinen Vernichtungsfeldzug gegen die Wissenschaft fortsetzt?

Der Yogi hat auch eine eigene interessante Website, was mich jetzt ein bisschen wundert, denn nach Googles KI-Modus ist er am 13. November 2023 im Alter von 66 Jahren verstorben. Er weiß das nur noch nicht, fand das aber sehr witzig, als ich ihm das gestern erzählte. Immerhin kriegte Googles KI meine Biographie so halbwegs hin, auf jeden Fall bin ich da noch nicht tot. Aber mein Blog SILVAE erscheint beim KI-Modus überhaupt nicht als Treffer, geht man in die Option Alles, ist er gleich ganz oben auf dem ersten Platz. Soviel zu dem Thema leistungsstärkste KI-Suchfunktion von Google. 

Der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien Wolfram Weimer hat gesagt, dass Google in gewisser Weise das Internet neu erfunden habe. Die Google KI liefere Antworten auf Basis großer Datenmengen, die Google durch einen Raubzug über die komplette Informationslandschaft dieses Erdballs gewonnen habe. Na ja, so ganz großartig kann der Raubzug nicht gewesen sein, die Antworten des KI-Modus sind häufig erschütternd kläglich. Weil die leistungsstärkste KI-Suchfunktion von Google die Frage von Frank Sinatra Is it the good turtle soup or merely the mock? nicht richtig beantworten kann und meistens zielsicher beim mock landet.

Und was die hervorgehobenen Datenmengen betrifft, gilt immer noch der Satz: Quantität ist nicht Qualität. Oder um Goethe zu zitieren: Getretner Quark wird breit, nicht stark. Vor allem mit den Quellen, die für eine wissenschaftliche Forschung elementar sind, geht Google ziemlich lax um. Häufig sind das keine Fakten, sondern lediglich Sätze aus dem Werbeprospekt einer Firma oder schlicht KI-generierte Texte. Ich werde das Gefühl nicht los, dass Googles KI-Modus das Äquivalent zu der Doktorarbeit von Herrn von und zu Guttenberg ist. Und es gibt natürlich keine bekannte Verbindung zwischen Niels Bohr und einem Motorrad, das wissen die Leser von Silvae inzwischen. 

Ich gebe noch ein Beispiel. Fragt man nach Heinrich van Laack bekommt man die Antwort: Heinrich van Laack ist der Gründer des deutschen Modeunternehmens Van Laack, das für hochwertige Hemden und Blusen bekannt ist. Unternehmensgründung und Vision Jahr und Ort: 1881 gründete Heinrich van Laack zusammen mit zwei Partnern das Unternehmen in Berlin.Vision: Sein Ziel war es, das luxuriöseste Hemd der Welt zu produzieren. Qualitätsanspruch: Von Anfang an setzte das Unternehmen auf exklusive italienische Stoffe, meisterliche Handwerkskunst und die Liebe zum Detail. Kaum ein Satz davon ist richtig, das ist alles Werbelyrik aus der Feder des jetztigen Besitzers der Firma. Die wirkliche Geschichte der Firma findet sich natürlich in dem Post van Laack: königlich?

Was im Oktober neben der leistungsstärkste KI-Suchfunktion von Google auch neu war, ist die Tatsache, dass die Leser dieses Blogs plötzlich verschwunden sind, so etwas habe ich schon vor Jahren on dem Post verschwindende Leser gesagt. Oder in Posts, die Hinterhältiges Pack oder ich kann da nix für heißen. Im August und September hatte ich in jedem Monat mehr als 40.000 Leser, im Oktober werden es wahrscheinlich nur noch die Hälfte sein. Aber was soll das Klagen, schon Henry David Thoreau wusste: Men have become the tools of their tools. Ich schreibe weiter. Langsamer, weil ich gerade Husten, Schnupfen, Heiserkeit habe. Aber irgendwann schreibe ich den angefangenen Post Robert Redfords Rolex zu Ende.

Freitag, 17. Oktober 2025

Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet?


Ich war zwei Jahre im Netz, als ich zum ersten Mal über Georg Büchner schrieb. Ich stellte den Post, den anderthalbtausend Leser gelesen hatten, im nächsten Jahr noch einmal ein. Weil das der zweihundertste Geburtstag von Georg Büchner war. Das kommentierte ein Leser mit den Sätzen: Und ich war schon besorgt, es bloggt gar keiner zum 200. Büchner; die Feierlichkeiten ließen sich doch etwas zäh an. Danke fürs Heraufheben all der persönlichen Belange, wie sie so schnell nicht einer mit Büchner verbindet! Ich begann Büchner zu lesen, als ich neunzehn war, das steht in dem Post perlegi, und das ist auch so richtig. Weil unsere Theater AG damals Leonce und Lena aufführte, und ich Regieassistent und Souffleur war. Große Teile des Stückes habe ich immer noch im Kopf. Man behält viel von Büchner im Kopf, wenn man ihn genau liest. Nicht nur die gelben Nankinghosen von Leonce. 

Ein Satz, der mir nie aus dem Kopf gegangen ist, ist Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet? aus seinem Danton. Der Satz steht in diesem Textzusammenhang: Der Mann am Kreuze hat sich's bequem gemacht: es muß ja Ärgernis kommen, doch wehe dem, durch welchen Ärgernis kommt! – Es muß; das war dies Muß. Wer will der Hand fluchen, auf die der Fluch des Muß gefallen? Wer hat das Muß gesprochen, wer? Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet? Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst! die Schwerter, mit denen Geister kämpfen – man sieht nur die Hände nicht, wie im Märchen. Das schreibt Büchner mit zweiundzwanzig Jahren, da wird er schon steckbrieflich gesucht. 

Der wirkliche Georges Danton hat das Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet? nicht gesagt, nicht gedacht. Das ist jetzt alles in Büchners Kopf. Und in seinem Brief an seine Verlobte aus dem Jahre 1834 steht das alles schon, zum Teil wörtlich: Schon seit einigen Tagen nehme ich jeden Augenblick die Feder in die Hand, aber es war mir unmöglich, nur ein Wort zu schreiben. Ich studiere die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem Gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken. Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser. Das muß ist eins von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden. Der Ausspruch: es muß ja Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, – ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen. Könnte ich aber dies kalte und gemarterte Herz an deine Brust legen!

Dantons Tod bekam vom Herausgeber des Literaturblatts Phönix: Frühlings-Zeitung für Deutschland noch den Untertitel Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft verpasst, das sollte zur Besänftigung der Zensur dienen. Hat nicht viel geholfen, das Stück konnte nur zensiert aufgeführt werden. Zensur haben wir noch immer überall auf der Welt. Schreckensherrschaft auch. Jetzt auch schon in dem Land, in dem Life, Liberty and the pursuit of Happiness einmal das Wichtigste waren.


Lesen Sie auch: LandboteDanton

Montag, 13. Oktober 2025

250 Jahre US Navy

Der heutige Tag ist in den USA der Tag der Marine, heute vor 250 Jahren wurde sie gegründet. Das hat Donald Trump in der ihm eigenen pompösen Sprache so angeordnet: NOW, THEREFORE, I, DONALD J. TRUMP, President of the United States of America, by virtue of the authority vested in me by the Constitution and the laws of the United States, do hereby proclaim October 13, 2025, as a day to commemorate the founding of the United States Navy with appropriate ceremonies and programs. I call upon all Americans to honor the Navy’s rich heritage, and the patriotism of all who have served.
     IN WITNESS WHEREOF, I have hereunto set my hand this tenth day of October, in the year of our Lord two thousand twenty-five, and of the Independence of the United States of America the two 
hundred and fiftieth. DONALD J. TRUMP

Aber kann das stimmen? Rechnen wir mal eben zurück auf den 13. Oktober 1775. Wie soll es hier eine United States Navy geben, wo es überhaupt noch keine United States gibt? Das sind da alles noch englische Kolonien. Man ist offenbar etwas großzügig mit der Zeitrechnung. Wenn 1775 eine Navy gegründet wird, dann ist das die Continental Navy, nicht die US Navy. Die Continental Navy wird 1785 aufgelöst, die restlichen Schiffe, die noch nicht von der Royal Navy versenkt wurden, werden verkauft. So wie man 1852 die deutsche Reichsflotte verkauft. 

Aber es ist dem gerade entstehenden neuen Staat schon klar, dass man eine Flotte brauchen wird. It follows then as certain as that night succeeds the day, that without a Decisive Naval force we can do nothing definitive, and with it every thing honourable and glorious schreibt  George Washington (dessen Landsitz den Namens eines Admirals trägt) im November  1781 an Lafayette. Diese Überzeugung hat er durch die Seeschlacht der Chesapeake Bay gewonnen, die wenige Monate zuvor stattfand. The Battle of Chesapeake Bay was one of the decisive battles of the world. Before it, the creation of the United States of America was possible; after it, it was certain, schreibt der Historiker Michael Lewis in The History of the British Navy. Nach der Auflösung der Continental Navy wird die United States Navy am 27. März 1794 offiziell begründet. Für die 250 Jahresfeier müsste man da noch etwas warten.

Dieses Bild zeigt die Andrew Doria, benannt nach dem italienischen Seehelden Andrea Doria. Das war das erste Schiff, dessen Flagge von einer anderen Nation anerkannt wurde. Das können wir in Barbara Tuchmans Buch The First Salute (Der erste Salut) lesen. Dass der 13. Oktober 1775 der Tag der Gründung der Flotte ist, hat der US Congress im Jahre 1971 beschlossen. Weil es an diesem Tag im Continental Congress in Philadelphia einen Beschluss gab: Resolved, That a swift sailing vessel, to carry ten carriage guns, and proportionate number of swivels, with eighty men, be fitted with all possible dispatch, for a cruise of three months . . . That a[nother] Committee of three be appointed to prepare an estimate for expence, and lay the same before Congress, and to contract with proper persons to fit out the vessel . . . That another vessel be fitted out for the same purposes [and] a committee [be] appointed to bring in regulations for [a] navy. Bis zum Jahr 1972, als der Admiral Elmo Zumwalt den Geburtstag verkündete, hatte es nur einen Navy Day am 27. Oktober (dem Geburtstag von Präsident Theodore Roosevelt) gegeben.

Donald Trump benutzt wie seine Vorgänger einen Schreibtisch, der etwas mit der Marine zu tun hat, aber er hat kein besonderes Verhältnis zur Marine. Am ersten Tag seiner zweiten Amtszeit hat er Linda Fagan entlassen, die einzige Frau der Coast Guard, die einen Admiralsrang hatte. Sie war ihm zu woke. Einen Tag später entließ er den Generalstabschef Charles Quinton Brown, weil der wie Fagan für Diversity, Equity and Inclusion eingetreten war. 

Kurz danach verloren auch Lisa Franchetti und Shoshana Chatfield ihren Admiralsrang. 2016 hat man mal einen Admiral gefeuert, weil er angeblich Pornos auf seinem Dienstcomputer geguckt hatte, das war nun etwas anderes. Die →Entlassungen gehen weiter, mehr als ein Dutzend Admiräle und Generäle hat Trump schon gefeuert. Und sein Kriegsminister wird schon dafür sorgen, dass es keine Frauen mehr in der US Navy gibt. Under President Trump, we are putting in place new leadership that will focus our military on its core mission of deterring, fighting and winning wars, hat Hegseth verkündet. Mit Bildern wie diesem von Joe de Mers konnte die US Navy 1951 junge Frauen anwerben, unter einem Kriegsminister wie →Pete Hegseth wird ihr das nicht mehr gelingen.

Den 250. Geburtstag der Flotte hat Trump schon vorzeitig gefeiert, wie man auf diesem Video sehen kann (die ganze Rede ist hier, wenn Sie sich das antun wollen). Er tritt da mit seiner selbstgewählten schmalzigen Hymne God Bless The USA auf, das ist ein Countrysong, Anchors Away wäre passender gewesen. Die beste Zusammenfassung dieses peinlichen Auftritts können Sie bei Mary Geddry lesen. Jimmy Carter war Marineoffizier gewesen. Beinahe alle amerikanischen →Präsidenten in der Zeit von 1961 bis 1993 waren bei der US Navy. Aber das ist schon Geschichte, und zur Geschichte und der Wahrung von Traditionen hat Donald Trump nun überhaupt kein Verhältnis. Trump wird auch die berühmtesten Seehelden der Navy wie John Paul Jones und Stephen Decatur nicht kennen, und wird auch nicht wissen, dass der Regisseur John Ford ein Admiral war.

Vielleicht feiert die US Navy heute auch ihren berühmtesten Midshipman, der am 20. Februar 1808 seinen Eid ablegte: I, James Cooper—having been appointed a Mid­shipman in the Navy of the United States—do solemnly swear to bear true allegiance to the United States of America, and to serve them honestly and faithfully against all their enemies or opposers whomsoever; and to observe and obey the orders of the President of the United States of America, and the orders of the officers appointed over me, and in all things to conform myself to the rules and regulations which now are or hereafter may be directed, and to the arti­cles of war which may be enacted by Congress, for the better government of the navy of the United States, and that I will support the constitution of the United States. Er wird nur zweieinhalb Jahre bei der Navy sein, bleibt ihr aber sein Leben lang verbunden. Und schreibt im Alter The History of the Navy of the United States of America (1839).

Das wäre ja schon genug an Verdiensten, aber der ehemalige Midshipman schreibt auch noch Old Ironsides (eine Geschichte der Fregatte USS Constitution), eine Biographie über den Commodore Richard Dale und die Lives of Distinguished American Naval Officers. Und dann sind da noch seine Seeromane. Sie kennen den Midshipman Cooper unter dem Namen James Fenimore Cooper, da schreibt er dann über Indianer. 

Ich werde heute zur Feier des Tages ein T-Shirt tragen, denn dieses Kleidungsstück wurde für die US Navy erfunden. Die Feierlichkeiten in den USA sind heute allerdings etwas gedämpft, denn es herrscht der shutdown. Aber die Matrosen sollen trotzdem ihr Gehalt bekommen. Als Oberbefehlshaber weise ich unseren Verteidigungsminister Pete Hegseth an, alle verfügbaren Mittel einzusetzen, damit unsere Truppen am 15. Oktober ihren Sold erhalten, schreibt Trump auf seiner Plattform Truth Social, die in Wirklichkeit Lies Anti-Social heißt. Man nimmt dass Geld erst einmal aus dem Etat für Forschung und Entwicklung. Wofür braucht man überhaupt diesen Etat? Da gilt doch immer noch der Satz: If you think education is expensive, try ignorance.


Noch mehr Navy und Admiräle (ohne den Opel Admiral) in den Posts: Chesapeake Bay, Stephen Decatur. Admiral Thomas Cochrane, Admiral John Byng, Admiral John Jervis, Invasion, Jean-Baptiste Kléber, 18th century: Fashion, Hoya, Nelsons Orden, Horatio Nelson, Eisbären, William Beckford, Larcum Kendalls K2, Marinechronometer. Bounty, St Helena, Intertextualität, Gregory Peck, Robert FitzRoy. Hellas, hélas, Admiral Brommy, CSS Hunley, Havanna, Bunga Bunga, Schnellboote, Minen, Rum, Unsere Marine, Max Oertz, Colani, Bundesmarine, Gorch Fock, Willy Stöwer, Reichsflotte, Samuel Pepys, das Blaue Band, Kellerfund,

Dienstag, 7. Oktober 2025

Sommerurlaub, Atomphysiker, Motorräder und Goethes 'Faust'


Als ich bei Wikipedia las, dass der dänische Atomphysiker Niels Bohr heute vor hundertvierzig Jahren geboren wurde, fiel mir zuerst sein Auto ein. Ich gab bei Google Niels Bohr und Autos ein, und die Künstliche Intelligenz sagte mir: Die Anfrage 'Niels Bohr Autos' ist mehrdeutig, kann sich aber auf den Physik-Nobelpreisträger Niels Bohr beziehen, dessen Namen eine Straße trägt, oder auf einen Vorfall mit Autos in Lübeck im Niels-Bohr-Ring. Niels Bohr ist bekannt für das Bohrsche Atommodell, nicht für Autos. Das war nicht das, was ich suchte. Ich weiß inzwischen, dass man Googles AI überhaupt nie benutzen sollte, aber die Einträge sind meistens hochkomisch.

Den Namen des Nobelpreisträgers Niels Bohr hörte ich zum ersten Mal vor fünfundsechzig Jahren, und das hatte etwas mit seinem Auto und seinen Fahrkünsten zu tun. Wir springen mal eben ins Dänemark des Jahres 1960, in eine unendliche Sommergeschichte. Auf dem Campingplatz von Grenaa hatte ich gerade die hübsche Schwedin Gunilla (natürlich blond) kennengelernt, die den ganzen Sommer lang nicht von meiner Seite wich. Genau genommen waren es nur drei Wochen, aber wenn man jung und verliebt ist, dauert alles viel länger. Wir schrieben uns noch jahrelang Liebesbriefe. Ich habe ihretwegen sogar ein Langenscheidt Lexikon und ein Buch Schwedisch für Anfänger gekauft. Zur Not konnte ich jag alskar dig sagen. Aber sie konnte sehr gut Englisch, das half ihr bei ihrem Job als Lektorin bei Bonniers. Englisch wird die Sprache sein, in der wir noch ein Jahrzehnt lang die geheimsten Gedanken und Sehnsüchte der Post zwischen Bremen und Stockholm anvertrauen. Je weiter man voneinander entfernt ist, desto größer wird die Vertrautheit. Was mag aus ihr geworden sein? Ist sie diese Gunilla, die den schwedischen Filmregisseur Pelle Berglund geheiratet hat? Auf dem einzigen Photo im Internet sieht sie ihr sehr, sehr ähnlich.

Unsere Nachbarn auf dem Campingplatz waren ein Ehepaar mit drei Söhnen (und zwei Collies), die aus Odense kamen. Er war dort Organist und las im Urlaub am liebsten immer die Romanen mit die Mörders darinne. Sie hatten einen grünen Buckel-Saab, der neben ihrem Zelt stand. Das war das Modell 92 aus den frühen fünfziger Jahren. Damals wusste ich noch nicht so viel über blonde Frauen mit Sommersprossen, kannte aber alle Automodelle Europas. Und dieser grüne Saab (der dunkler war als dieser) spielt eine Hauptrolle in meiner Niels Bohr Geschichte, die mir der Organist (der ein bisschen aussah wie Piet Klocke) erzählt hat.

Unser rothaariger Organist war mit seinem Saab in Kopenhagen gewesen. Er ist da sehr vorsichtig gefahren, weil er aus der Provinz kam und Kopenhagen eine Großstadt ist. Obgleich da in den fünfziger Jahren noch nicht so viel los war. Meine Mutter hatte mal mit unserem blauen Opel ein Rencontre mit einer Kopenhagener Straßenbahn (die hatte natürlich schuld), hat den Schaden aber sofort ausbügeln lassen. Die Sache wäre unentdeckt geblieben, bis mein Vater fragte: Seit wann haben wir eigentlich einen General Motors Sticker hinten auf der Heckscheibe? Da kam die Sache raus.

Ich schweife ab. Ich fange noch mal an. Also, unser rothaariger Organist fährt mit seinem Saab ganz vorsichtig durch Kopenhagen, als ihm aus einer Straße, aus der gar kein Auto kommen kann, weil es eine Einbahnstraße ist, ein amerikanischer Straßenkreuzer vor den Wagen schießt. Ein kleiner Crash ist unvermeidlich. Als er wutentbrannt auf den Fahrer zustürzt, sieht er, dass er Niels Bohr vor sich hat, dem das schrecklich peinlich war. Aber Herr Bohr, das macht doch gar nichts, sagt er, es ist doch gar nichts passiert, das ist doch nicht der Rede wert. Dann haben sich die beiden die Hände geschüttelt und sind weitergefahren. Er hat den Kotflügel nie reparieren lassen, nur einmal überlackiert. Die Beule, die Niels Bohr da reingefahren hatte, war im Sommer 1960 immer noch da. Und war für den Organisten Ebbe X. natürlich immer ein Anlass, diese kleine Geschichte zu erzählen.

Viele Jahre ist Niels Bohr wie hier mit dem Fahrrad zu seinem Institut gekommen, weil ja jeder in Kopenhagen Fahrrad fährt. Über den Niels Bohr auf dem Fahrrad gibt es keine Anekdoten, aber über den Autofahrer Niels Bohr gibt es sehr viele Geschichten. Sein Freund Abraham Pais hat über ihn gesagt: Einstein never owned or drove a car; Bohr did. As I know from experience, his driving could on occasion be a bit scary. Und er erzählt uns in Niels Bohr’s Times, in Physics, Philosophy, and Polity die Geschichte, wie er Niels Bohr in seinem Sommerhaus Lynghuset in Tisvilde besuchte, das sich Bohr 1924 von dem Geld des Nobelpreises gekauft hatte: 

And then the time came to return to Copenhagen. We went by car. It was an act of faith to sit in an automobile driven by Bohr. On that occasion he complained that he felt too hot and actually let go of the wheel to take off his jacket. Mrs. Bohr’s rapid intervention saved the situation. Und Niels Blaedel schildert uns in seiner Biographie Harmony and Unity: The Life of Niels Bohr, dass der Atomphysiker beim Autofahren große Schwierigkeiten mit dem Beachten von roten Ampeln hatte. Im Alter wird er sich bei größeren Reisen von einem Chauffeur namens Jørgensen in seinem großen Lincoln fahren lassen.

Noch gefährlicher als hinterm Lenkrad ist Niels Bohr auf dem Motorrad. Googles KI sagt uns zwar: Es gibt keine bekannte Verbindung zwischen dem Physiker Niels Bohr und einem Motorrad. Aber hier können wir ihn mit seiner Frau Margrethe auf einem Photo aus dem Jahre 1931 sehen, das im Garten von seinem Sommerhaus Lynghuset gemacht wurde. Das Motorrad gehörte seinem Freund George Gamow, Niels Bohr musste es unbedingt ausprobieren. Die Born to be Wild Fahrt wird schnell enden. Gamows zweite Frau Barbara Perkins Gamow hat die Geschichte in einem Gedicht festgehalten, das sich in Ruth Moores Buch Niels Bohr: The Man, His Science, and the World They Changed findet: 

... that handsome, hearty British Lord
We knew as Ernest Rutherford.
New Zealand farmer's son by birth,
He never lost the touch of earth;
His booming voice and jolly roar
Could penetrate the thickest door,
But if to anger he inclined
You should have heard him speak his mind
In living language of the land
That anyone could understand!

One day George Gamow, as his guest,
By Rutherford was so addressed
At tea in honour of Niels Bohr
(Of whom you may have heard before).
The men talked golf, and cricket too;
The ladies gushed, as ladies do,
About a blouse, a sash, a shawl -

And Bohr grew weary of it all.
'Gamow,' he said, 'I see below
Your motorcycle. Will you show
Me how it works? Come on, let's run!
This party isn't any fun.'
So to the motorcycle Bohr,
With Gamow running after, tore.

Gamow explained the this and that
And Bohr, who on the saddle sat,
Took off to skim along the Backs,
A threat to humans, beasts and hacks,
But though he started full and strong
He didn't sit it out for long.
No less than fifty yards ahead
He killed the nervous engine dead
And, turning wildly as he slowed,
Stopped traffic up and down Queen's Road.

While Gamow, rushing to the fore,
Was doing what he could for Bohr
Who should like Jove himself appear
But Rutherford. In Gamow's ear
He thundered: 'Gamow! If once more
You give that buggy to Niels Bohr
To snarl up traffic with, or wreck,
I swear I'll break your bloody neck!'

Barbara Perkins Gamow wird in dem Wikipedia Artikel irrtümlich als Autorin des Theaterstücks Faust: Eine Historie angegeben, aber sie hat nur die Übersetzung jenes Stückes geliefert, das sich in George Gamows Buch Thirty Years that Shook Physics findet. Der Autor, der wunderbaren Persiflage war wohl zum größten Teil der spätere Nobelpreisträger Max Delbrück, Karikaturen steuerte George Gamov bei. Das Theaterstück wurde im Niels Bohr Institut (das hier auch auf dem Bild zu sehen ist) im April 1932 aufgeführt. Paul Ehrenfest spielte den Dr Faustus, Wolfgang Pauli war Mephistopheles und Niels Bohr war Gott. Max Delbrück, der sich in Kopenhagen schnell mit Gamow angefreundet hatte, gab den Conferencier. In Deutschland wurde 1932 eine Goethe Jahrhundertfeier zelebriert, in Kopenhagen führt die Crème de la Crème der europäischen Physiker (drei Nobelpreisträger sind auf der Bühne) Goethes Werk als Wissenschaftssatire auf. Gino Segre hat darüber das Buch Faust in Copenhagen geschrieben, von dem Sie hier die Einleitung lesen können. Und das Original von Faust: Eine Historie habe ich natürlich auch für Sie. Und Googles AI merkt sich jetzt mal den Satz It was an act of faith to sit in an automobile driven by Bohr, wenn jemand nach Niels Bohr und Autos fragt.