Donnerstag, 29. Mai 2025

Die Himmelfahrt


Himmelfahrt ist ein christlicher Feiertag, aber es ist auch der sogenannte Vatertag. Den haben die Bierbrauer im 19. Jahrhundert erfunden, vorher gab es diesen Vatertag nicht. Die einen gehen heute in die Kirche, die anderen trinken Bier. Wahrscheinlich kann man auch zur Kirche gehen und hinterher ein Bier trinken. Ich habe für alle ein kleines Gedicht, das den Titel Die Himmelfahrt hat. Ich nehme an, dass es diesen Titel noch nicht hatte, als Wilhelm Müller es schrieb. Es ist eins der vielen Liebesgedichte, die Müller geschrieben hat. Sie kennen auch ganz viele Gedichte und Lieder von Müller, Sie denken nur nie daran, dass Am Brunnen vor dem Tore von Wilhelm Müller ist. Alles, was in Die schöne Müllerin und Die Winterreise steht, hat von der Liebe und der Enttäuschung von der Liebe zu tun. Das ist alles autobiographisch, die Dichterin Louise Hensel, in die er sich verknallt hatte, wollte ihn nicht. Wir können ihr dankbar sein, weil wir jetzt all diese schönen Liebeslieder haben:

Die Himmelfahrt

Dank deinem Kusse ganz allein,
nun flieg' ich in den Himmel,
Und hasche mit den Engeln mich
im seligen Gewimmel.
Sie jagen mich, sie greifen mich,
sie wollen gern mich fangen,
Ich reiß' mich los und laufe heim,
zu küssen deine Wangen. 


Wilhelm Müller ist ein ständiger Gast in diesem Blog. Sie finden ihn in den Posts VolksliederGriechen-MüllerTränenregen und Wilhelm Müller. All die Posts haben vierstellige Leserzahlen, Tränenregen hat über sechstausend Leser gefunden.

Sonntag, 25. Mai 2025

Marie Krøyer


Das ist die J. H. Rubens Weberei in Frederiksberg, der Deutsche Wilhelm August Eduard Max Triepcke ist hier Direktor. Seine Tochter Marie Martha Mathilde wächst zusammen mit ihren beiden Brüdern im bürgerlichen Wohlstand auf. Sie will Malerin werden, aber die dänischen Kunsthochschulen lassen noch keine Frauen zu. Das Geld des Vaters erlaubt es der Sechzehnjährigen, privaten Unterricht bei Carl Thomsen und Kristian Zahrtmann zu nehmen. 

1885 gründete Marie gemeinsam mit der Malerin Agnes Slott-Møller in Kopenhagen Den lille Malerskole. Der berühmte Peder Severin Krøyer hält da Gastvorträge, was er nur ungern tut: Aah, diese Damen, diese Damen, die alle malen wollen – lasst mich frei sein – ich will auf keinen Fall Schülerinnen – fertig. Die Malweiber haben es nicht leicht in dieser Zeit. Marie kämpft für die Sache der Frauen, aber sie wird immer wieder von der Unsicherheit geplagt: Manchmal denke ich, die ganze Mühe ist vergeblich, wir haben viel zu viel zu bewältigen … was hat es schon für einen Sinn, wenn ich male, ich werde nie, nie etwas wirklich Großes erreichen … Ich möchte an unsere Sache glauben, auch wenn es manchmal furchtbar schwer sein mag.

Die junge →Marie Triepke (hier ein Selbstportrait) verlobt sich im Frühjahr1888 mit Robert Hirschsprung, dem Sohn des reichen Tabakfabrikanten →Heinrich Hirschsprung, der dabei ist, mit seiner Frau Pauline eine große private Kunstsammlung aufzubauen. Das wäre eine gute Partie gewesen, aber schon nach wenigen Monaten trennen sich Marie und Robert. Die Hirschsprungs (hier auf einem →Gemälde von P.S. Krøyer) nehmen ihr die Sache nicht übel: Marie wird der Familie, die auch ein Mäzen von Peder Severin Krøyer ist, immer freundschaftlich verbunden bleiben. Vor zwei Jahren hat die Sammlung Hirschsprung eine →Sonderausstellung für Marie Krøyer gemacht. 

Marie wird Krøyer, den sie schon an der lille Malerskole kennengelernt hatte, in Paris wieder begegnen. Da studiert sie bei Gustave CourtoisAlfred Philippe Roll und Puvis de Chavannes Malerei. Und steht (oder besser sitzt) Krøyer Modell für das Bild En Duet. Sie ist zwanzig und gilt als die schönste Frau Dänemarks. Es kommt, wie es kommen muss, im Juli 1889 heiratet Krøyer die schöne Marie. Übrigens in Augsburg, wohin ihre Eltern gezogen waren, weil ihr Vater seine Stellung bei der J. H. Rubens Weberei in Frederiksberg verloren hatte.

Ihre Hochzeitsreise wird sie durch halb Europa führen. Sie sind ein von der Presse beobachtetes Glamourpaar, die schönste Frau Dänemarks und der berühmteste Maler des Landes. In die Künstlerkolonie Skagen passen sie nicht so recht, aber da werden sie 1891 landen. Marie hatte in Paris Anna Ancher kennengelernt, die ihre beste Freundin wird. Krøyer wird die beiden malen, wenn sie in der heure bleue am Südstrand von Skagen spazierengehen. Das Bild ist ja zu einer Art Ikone geworden. Millionenfach auf Postkarten verbreitet (die Kunsthalle Kiel besitzt übrigens auch eins dieser Strandbilder mit diesem Licht der blauen Stunde von Peder Severin Krøyer). Marie ist die rechte von den beiden Frauengestalten auf dem Bild (das ich schon hundertfach als Postkarte verschickt habe), Anna hat den Hut abgenommen und geht nahe am Meer.

Marie ist jetzt Krøyers Muse geworden, er malt sie immer wieder. Dieses Bild hat er 1890 in Amalfi während der Hochzeitsreise gemalt. Sie malt jetzt kaum noch. Es kriselt in der Ehe der beiden, das Glück ist nicht von Dauer. Die Sommer in Skagen sind die schönste Zeit in ihrem Leben. Marie bewundert ihre Freundin Anna Ancher, die auch mit einem Maler verheiratet ist, aber ganz ihren eigenen malerischen Weg gefunden hat.

In den Sommern in Skagen sah ihr Leben vielleicht noch so aus wie auf diesem Jugendbild, das ihre Kollegin Bertha Wegmann 1885 gemalt hat. Die Hirschsprung Sammlung hat das Bild gerade für drei Millionen Kronen erworben. Noch nie wurde für das Bild einer dänischen Malerin soviel Geld gezahlt. Es wird bei dem Preis auch eine Rolle gespielt haben, dass Marie Krøyer auf dem Bild ist. Die Hirschsprung Sammlung besitzt neben dem Skagener Museum die größte Anzahl der Bilder von Peder Severin Krøyer und Marie Krøyer.

P.S.Krøyer ist jetzt ständig in ärztlicher Behandlung. Marie schreibt an C.F. Dahlerup in Skagen: Armer Søren! Er ist sehr, sehr krank, er leidet an Melancholie und hat dauernd Halluzinationen, besonders nachts. Er glaubt, man wolle ihn festhalten ... und er wurde in eine Kopenhagener Klinik eingewiesen. Man weiß nicht genau, woran er erkrankt ist. Es kann die manisch-depressive Psychose sein, die er von seiner Mutter geerbt haben kann. Es kann aber auch die Syphilis sein, man pumpt ihn auf jeden Fall mit Quecksilber voll, damals das Mittel der Wahl. Er wird beinahe auf dem linken Auge blind werden. Aber er malt weiter.

Er vollendet noch sein großes Bild über das Johannisfeuer am Strand von Skagen. Marie ist auch auf dem Bild, sie ist die weißgekleidete Frau, die sich im Hintergrund an ein Boot lehnt. Aber der Mann links neben ihr ist nicht ihr Ehemann. Sie können das hier noch größer sehen. Das ist ihr neuer Lebensgefährte, das ist die Pikanterie an diesem Bild.

Der Mann neben ihr ist der schwedische Komponist Hugo Alfvén. Den hatte sie auf einer Reise nach Sizilien kennengelernt, die sie ohne ihren kranken Mann machte. Sie verliebte sich in ihn und wollte ihn unbedingt heiraten. Obgleich sie wusste, dass er sie von Anfang an betrog, aber sie wollte, dass ihre Kinder einen Vater haben. Sie wird für ihn als Architektin 1910 den Landsitz →Alfvénsgården erschaffen. Sie wird noch einige Achtungserfolge als Malerin und Innenarchitektin haben, indem sie die Wohnungen ihrer reichen schwedischen Freunde mit Möbeln und Tapeten im englischen Arts & Crafts Stil ausstattet.  

Man weiß nicht genau, wieviele Gemälde von ihr erhalten sind, man schätzt, dass es zwanzig sind. Das letzte wird wohl der Markt in einer französischen Stadt sein. Es gibt wenig Bilder von Marie im Internet. Das Bild mit der Pergola in Ravello aus dem Jahre 1890 taucht mehrfach auf. Viel schöner finde ich dieses kleine Bild mit der Wäscheleine, das im Skagen Museum hängt. Es ist irgendwann zwischen 1891 und 1894 gemalt, zu der Zeit, als Marie die Malerei aufgibt, als sie mit ihrer Tochter Vibeke schwanger ist. 

Man hatte Marie Krøyer beinahe vergessen, aber seit der Hirschsprung Ausstellung 2023, die auch nach Skagen wanderte, hat sich das geändert. Der Skagener Ausstellungskatalog wird bei ebay für 499,99 Euro angeboten. Gerade ist bei der Yale University Press das Buch Women Artists in Denmark 1880-1910: In Search of the Modern erschienen. Der deutsche Wikipedia Artikel zu Marie taugt überhaupt nichts, der englische Artikel ist viel, viel besser. Wenn Sie mehr über ihr Leben wissen wollen, dann schauen Sie sich den Film Balladen om Marie Krøyer an, den Bille August 2012 gedreht hat. Schöne Bilder, mit einer Schauspielerin (Birgitte Hjort Sørensen), die schon beinahe die schöne Marie Krøyer ist.


Marie Krøyer ist heute vor fünfundachtzig Jahren in Stockholm gestorben, da dachte ich mir, ich schreibe mal einen kleinen Post über die Künstlerin. Es ist nicht das erste Mal, dass sie in diesem Blog ist. Schauen Sie doch einmal in: NordlichterEufemiaMichael AncherFrühstückSkagen


Freitag, 23. Mai 2025

Pesne + Menzel

Er tänzelt ein wenig, dieser Maler. Er hält viele Pinsel in der Hand, einen im Mund. Es ist eine Skizze auf Karton von Adolph Menzel. Er wird sie für ein anderes Bild noch einmal gebrauchen. Dann verwandelt sich Menzel in den Hofmaler Antoine Pesne, der am 23. Mai 1683 in Paris, geboren wurde, aber die Hälfte seines Lebens in Berlin lebte. Pesne wird der Maler von drei preußischen Königen sein und auch Direktor der Berliner Kunstakademie werden. Er ist berühmt dafür, dass er Friedrich den Großen als Feldherrn gemalt hat. Menzel wird auch dafür berühmt werden, dass er diesen Friedrich immer wieder gemalt hat. 

Weil er Franz Kuglers Geschichte Friedrichs des Großen mit 398 Illustrationen verziert hatte. Wenn wir an den Preußenkönig denken, haben wir wahrscheinlich immer Bilder von Menzel im Sinn. Ob wir da an das berühmte Flötenkonzert denken oder an die Schlacht von Hochkirch. Oder an dieses Bild von der Nacht in Lissa, wenn Friedrich nach der Schlacht von Leuthen die österreichischen Offiziere mit den Worten begrüßt: Bonsoir, Messieurs. Gewiß werden Sie mich hier nicht vermuten. Kann man hier auch noch mit unterkommen? So steht die Geschichte auf jeden Fall bei Franz Kugler. Mein Opa besaß das Werk. Bildhungrig wie ich war, bin ich damit aufgewachsen.

Ich wollte, ich hätte dieses schöne Bild hier früher gesehen. Menzel schließt seine Bilder von Friedrich dem Großen mit dem Bild Kronprinz Friedrich besucht den französischen Maler Antoine Pesne auf dem Malgerüst in Schloss Rheinsberg ab. Wieder so eine vertrackte Perspektive mit der Treppe wie bei Bon soir, Messieurs!, aber diesmal herrscht hier keine nervöse Unruhe, sondern heitere Gelassenheit. Der Konzertmeister Franz Benda, der für Friedrich Flötenkonzerte geschrieben hatte, steht auch auf dem Gerüst und spielt Bratsche (auf Menzels Flötenkonzert ist er auch zu sehen, er ist der zweite von rechts mit einem dunklem Rock). Ein Augenblick der Unbeschwertheit in der Jugend Friedrichs, dessen Figur durch einen Sonnenstrahl beleuchtet wird. Das ist etwas ganz anderes als das nachtdunkle Hochkirch Gemälde, auf dem Friedrich beinahe isoliert von den Seinen auf den Betrachter zureitet. Ein Weg ohne Ausweg. Hier blickt er nach oben auf den Hofmaler Maler Antoine Pesne, hier ist er der Freund der schönen Künste, nicht der einsame Feldherr im Augenblick der Niederlage. Alles Wichtige hat Menzel an den linken Rand des Gemäldes plaziert, den Kronprinzen, der mit seinem Baumeister Knobelsdorff die Treppe hinaufsteigt, und den Maler Antoine Pesne.

Der klebt beinahe unter der Decke, scheint zu tänzeln wie Menzel auf der kleinen Skizze und schäkert mit einem großbusigen Modell, das er noch an die Decke malen wird. Apollo vertreibt die Finsternis wird das Deckengemälde heißen. Vielleicht ist es dieses Gemälde, das Friedrich in seinem Poëme adressé au sieur Antoine Pesne beschreibt:

Quel spectacle étonnant vient de frapper mes yeux!
Oui, Pesne, ton pinceau te place au rang des dieux;
Tout respire, tout rit, tout plaît en ta peinture,
Ton savoir et ton art surpassent la nature,
Et du fond du tableau tes ombres font sortir
L'objet que de clarté ta main sut revêtir.
Tel est l'effet de l'art, tels en sont les prestiges;
Tes dessins, tes portraits sont autant de prodiges.
Quand d'un vaillant héros, des peuples estimé,
Tu nous traces les traits et les yeux animés,
On le voit plein de feu, tel qu'entouré de gloire,
Jadis dans les combats il fixait la victoire.
Quand de la jeune Iris, brillante de santé,
Tu nous montres l'image et la rare beauté,
Je sens pour tes couleurs tout ce qu'à mon jeune âge

Das Bild von Menzel, Gouache auf Papier, ist übrigens klitzeklein, 24 x 32 cm. Aber Kunst kann man nicht in Zentimetern messen, auch große Kunst kann ganz klein sein. Menzel konnte es nicht lassen, ein klein wenig von sich selbst in das Bild zu bringen. Nicht nur durch die Bewegung von Pesne, die dem kleinen Selbstportrait ähnelt. Nein, da ist noch etwas anderes. Der Stuhl, der zwischen dem Gehilfen, der Pesnes Palette reinigt und dem musizierenden Kapellmeister steht, ist Menzels eigener Stuhl: Die Mittelachse ist mit einer schweren pyramidalen Kombination aus Figur und Gegenständen besetzt. Darunter ist ein prächtig gedrechselter barocker Stuhl – unerwartet auf einem Malgerüst. Nur die wenigen Besucher von Menzels Atelier wußten damals: Es ist Menzels eigener Stuhl! Indem er ihn, was durchaus nicht naheliegt, dem Künstler des 18. Jahrhunderts zuordnet, identifiziert er sich mit ihm und wird selbst ›der Maler Friedrichs des Großen‹. Oder anders: Der Stuhl ist noch leer, es fehlt nur noch sein Besitzer, um das Bild eines Glücksmoments der Kunst zu vervollständigen. Dies zu legitimieren, mobilisiert Menzel allen Zauber und alle Subtilität seiner Malerei. 

Sagt uns der Kunsthistoriker Claude Keisch. Und dem sollten wir glauben. Weil er 1995 die große Menzel Ausstellung Adolph Menzel: 1815–1905; das Labyrinth der Wirklichkeit gemacht hat, die auch in Paris und Washington zu sehen war. Das hervorragende Begleitbuch zur Ausstellung kann man antiquarisch noch preiswert finden. 2012 hat Keisch auch noch die Ausstellung So malerisch!: Menzel und Friedrich der Zweite organisiert. Den Katalog kann man auch noch preiswert finden. Wenn man sich in Menzels Welt einlesen will, sollte man sich an Claude Keisch halten. Als ich mich vor siebzig Jahren durch Franz Kugler arbeitete, gab es diese schönen Bücher noch nicht.

Montag, 19. Mai 2025

Schreibfehler


Schreibfehler passieren mir immer wieder. Zum Glück korrigiert mein Freund Georg die immer wieder aus dem Text heraus. Schreibfehler eines Bloggers in einem Post sind nicht so schlimm, in offiziellen Dokumenten sollen sie nicht sein. Dass in dem Wehrpass, den ich vom Kreiswehrersatzamt bekam, Jesus statt Jay stand, das war schon ein schlimmer Fehler. Ich habe keinen neuen Wehrpass bekommen, die haben nur drin radiert, das Jesus ist immer noch ein bisschen zu sehen. Mein Opa besaß diese Briefmarke, die oben rechts auf dem Bild ist. Da steht statt Deutsches Reich etwas drauf, das ein klein wenig anders ist. Nämlich Dfutsches Reich. Opa glaubte immer, dass die Briefmarke sehr wertvoll sei. Das Deutsche Reich war zwar futsch, aber die Briefmarke war nicht wirklich wertvoll. 

Dass Uhrenfirmen mal einen Fehler bei den Zifferblättern machen, ist schon vorgekommen. In dem Post Groschmann dägi finden Sie eine IWC mit einem unglaublichen Zifferblatt. Die Firma Rolex hat mal bei einer Daytona vergessen, dass Wort Daytona drauf zu schreiben. Aber der schönste Schreibfehler ist ganz neu. Er betrifft eine Damenuhr aus der Kollektion Inauguration First Lady von Donald Trump. Die kommt aus der Schweiz von einer Firma, die eine Million Private Label Billiguhren im Jahr herstellt. Eine dieser Uhren hatte sich jemand für 640 Dollar auf der Seite GetTrumpWatches gekauft, um sie seiner Gattin zu schenken. Als die Uhr ankam, musste der Käufer feststellen, dass da nicht Trump sondern Rump draufstand. Das Wort rump bezeichnet im Englischen das Hinterteil. Ja, wenn man Uhren aus der Donald Trump Limited Edition bestellt, dann bekommt man schon etwas ganz Besonderes.

Vor einem Jahr kam Trump, der auch schon Bibeln und Rasierwasser verkauft hat, mit einer Uhr für 100.000 Dollar auf den Markt.  Die goldene Trump 'Victory' Uhr beschrieb der Guardian als This ostentatious gold monstrosity might just be the tackiest thing he – or indeed anyone – has brought out, ever. Neben diesem Monster gab es eine Linie von Trump Uhren, die nur 600 Dollar kosteten. Innen drin tickt ein japanisches Werk, das Seiko NH35, dass Seiko längst an Dritthersteller ausgemustert hatte. Kostet bei Temu und Ali Express 20 Dollar. Für den Namen Trump muss man ein bisschen mehr bezahlen. Auch wenn man nur Trumps Hinterteil bekommt.

Freitag, 16. Mai 2025

Arminius


Ich muss mal eben eine Seite aus meinen beiseite gelegten Bremensien hervorholen, sie führt uns in die 1950er Jahre. Und in den Teutoburger Wald. Es ist ein Kapitel über die Wälder, es hat in dem Manuskript die Kapitelnummer 36 und den Namen silvae. Als ich das schrieb, wusste ich noch nicht, dass ich Blogger werden würde und mir silvae als Namen für den Blog nehmen würde. Ein Teil des Kapitels ist in den Post silvae: Wälder: Lesen gewandert. Ich habe natürlich einen aktuellen Grund, um diese Seite aufzuschlagen. Dazu komme ich gleich noch:

Das Schlimmste was es gibt, ist ein Besuch des Märchenwalds von Melle (in dem Landkreis ist einer von Opas Verwandten mal Landrat gewesen). Meine Eltern wollten mir damit eine Freude machen, war ja auch nett gemeint. Dies ist ein Vorläufer von Disneyland, man hat in einen Wald alle möglichen Gartenzwerge und kleine Knusperhäuschen und Burgen gesetzt, die eine kommerzielle Verhöhnung der Welt der Brüder Grimm darstellen. Das hat nichts mit den Märchen zu tun, die mir Oma Johanna vorliest. Ich habe auch ein Disneybuch von Bambi (ich habe es noch, es ist heute mehr wert als vor sechzig Jahren), das ist ein bisschen so was Ähnliches wie der Märchenwald von Melle. 

Mit Opa zum Hermannsdenkmal zu wandern, führt zwar auch durch den Wald, aber leider eben auch zum Hermannsdenkmal. Opa hat es mit den Denkmälern, Porta Westfalica, Hermannsdenkmal. Und dann diese ewigen Erzählungen von seinen Treffen der Stahlhelmer am Kyffhäuser. Und dann gleich noch das ganze Gedicht aufgesagt. Bei den Zeilen Er hat hinabgenommen Des Reiches Herrlichkeit Und wird einst wiederkommen Mit ihr, zu seiner Zeit hat man das Gefühl, dass Opa das wirklich glaubt. Ich werde dem Hermannsdenkmal noch einmal in den fünfziger Jahren auf einer eintägigen Wanderung mit der Evangelischen Jugend begegnen. Allerdings glücklicherweise auch den Externsteinen, Deutschlands Antwort auf Stonehenge, die sind viel schöner als der Arminius. Und zur Mittagsstunde auf dem Höhenrücken des Teutoburger Waldes hat unser Diakon Klaus Nebelung noch eine Überraschung parat. Richtige Adler. Berge, Täler, Adler. Dies ist die Adlerwarte Berlebeck (vor zwanzig Jahren hieß das hier noch Hitlerhöhe). Die Geierwally ist hier letztes Jahr gedreht worden. Sagt uns nichts, kein Halbwüchsiger geht in den fünfziger Jahren ins Kino, um sich Heimatfilme anzugucken. Wenn wir genug Adler gesehen haben und schon steife Hälse haben und uns dann auch noch den Bezwinger der römischen Legionen angetan haben, trudeln wir den Berg hinunter nach Detmold hinein, wo auf dem Kopfsteinpflaster des Marktes unser Bus schon auf uns wartet.

Den Märchenwald von Melle gibt es nicht mehr, aber man möchte ihn gerne wiederhaben. Die Adlerwarte Berlebeck ist noch da, der Kammweg auf den Hermannshöhen ist heute ein Top-Wander-Trail durch die Urlaubsregion Teutoburger Wald. Hermann ist auch noch da, er sieht seit einigen Tagen etwas anders aus. Der Fußballverein Arminia Bielefeld, der seinen Namen natürlich nach dem Arminius hat, der die Varusschlacht gewann, hat es gerade ins DFB Finale geschafft. Und da hat man dem Helden mal eben ein Arminia Bielefeld Trikot übergezogen. Das hatte man schon mal 1999 gemacht, als die Arminia in die Bundesliga aufgestiegen war. Das Hermannsdenkmal ist mit seiner Gesamthöhe von 53,46 Metern die höchste Statue Deutschlands, da brauchte man schon einen Kran für das Trikot.

Wer dieser Cherusker Arminius wirklich war, ist unter Historikern umstritten. Wo die Varusschlacht stattgefunden hat, ist auch nicht geklärt, die Quellen geben das nicht her. Bei Sueton können wir die Geschichte vom Kaiser Augustus und seinem Feldherrn Varus lesen: Schwere und schimpfliche Niederlagen hat er überhaupt nur zwei und beide in dem einzigen Germanien erlitten, die des Lollius und die des Varus. Bei der Lollianischen war der Schimpf größer als der Verlust, die Varianische dagegen war fast vernichtend für das Reich, indem drei Legionen mit dem Oberbefehlshaber, den Unterfeldherren und sämtlichen Hilfstruppen niedergehauen wurden. Als er diese Nachricht erhalten hatte, ließ er alle Stadtteile mit Soldatenabteilungen besetzen, damit kein Auflauf entstehe, und verlängerte sämtlichen Provinzialstatthaltern ihr Kommando, um durch erfahrene und mit den Einwohnern vertraute Männer die Unterthanen des Reiches in Gehorsam zu halten. Zugleich gelobte er dem besten höchsten Jupiter große Spiele mit der Gelöbnisformel: 'wenn er den Staat wieder zu besserem Glücke gewendet haben würde', wie das im Cimbrischen und Marsischen Kriege gleichfalls geschehen war. Ja, es heißt, seine Niedergeschlagenheit sei so groß gewesen, daß er Monate lang Haupthaar und Bart wachsen ließ und wiederholt den Kopf mit dem Ausrufe gegen die Thüren stieß: 'Quinctilius Varus, gieb die Legionen wieder!' und daß er den Jahrestag der Niederlage stets als einen Klage- und Trauertag begangen hat.

Das Varus, Varus, gib mir meine Legionen wieder ist in unseren Gedächtnis. Und dass Tacitus, den wir im Lateinunterricht lesen mussten, den Arminius als Befreier Germaniens (liberator haud dubie Germaniae) bezeichnet hat, das wissen wir auch alle. Viele kennen auch noch das Lied, das Viktor von Scheffel 1848 in der Satirezeitschrift Fliegende Blätter veröffentlichte: 

Als die Römer frech geworden,
Sim serim sim sim sim sim,
Zogen sie nach Deutschlands Norden,
Sim serim sim sim sim sim,
Vorne mit Trompetenschall,
Te rä tä tä tä te rä,
Ritt der Generalfeldmarschall,
Te rä tä tä tä te rä,
Herr Quintilius Varus,

Die Wissenschaft hatte im 19. Jahrhundert die Germanen entdeckt, Sprachwissenschaftler und Historker beschäftigten sich mit ihnen. Jetzt werden sie vom Kaiserreich vereinnahmt. Schon vorher war man einen Schritt weitergegangen, Germanisten hatten behauptet, dass das hundert Jahre zuvor entdeckte →Nibelungenlied seinen Ursprung in der Arminiusgeschichte habe. Dass →Arminius und Siegfried ein und dieselbe Person seien. Kurz vor seiner Hinrichtung 1820 hatte Karl Ludwig Sand, der Mörder des Schriftstellers August von Kotzebue, gesagt: Will uns die deutsche Kunst einen erhabenen Begriff von Freiheit bildlich geben, so soll sie unsern Hermann, den Erretter des Vaterlandes, darstellen, stark und groß, wie ihn das Nibelungenlied unter den Namen Siegfried nennt, der kein anderer als unser Hermann ist. Diese Bilder sollte man aber aus Granit hauen, der sich in den deutschen Urgebirgen findet; oder sie müßten aus Eisen gegossen werden, worin man es bereits zu einer grossen Vollkommenheit gebracht hat. – Ja, solche Bilder ziemten der deutschen Kunst! Die Arminius-Siegfried Geschichte ist zweihundert Jahre später wieder in Focus und  Spiegel recycelt worden, das macht sie nicht viel wahrer.

Genau auf den Tag fünf Jahre, nachdem man die Franzosen in der Schlacht von Mars-la-Tour geschlagen hatte, wurde das Denkmal durch Kaiser Wilhelm I eingeweiht. Deutschland war gerade geboren, das hier wurde das Nationaldenkmal des neuen Deutschland. Später von den Nationalsozialisten, Hitler und Goebbels machten hier ihre Pflichtbesuche. 1945 benutzen amerikanische Soldaten das Denkmal für Schießübungen. Jetzt bekommt er ein Arminia Bielefeld Trikot. Ich hoffe, dass Arminia das Pokalendspiel gewinnt.

Ich habe es nicht so mit Denkmälern, aber ein schönes Gedicht habe ich zum Schluss noch:

Das ist der Teutoburger Wald,
Den Tacitus beschrieben,
Das ist der klassische Morast,
Wo Varus steckengeblieben.

Hier schlug ihn der Cheruskerfürst,
Der Hermann, der edle Recke;
Die deutsche Nationalität,
Die siegte in diesem Drecke.

Das findet sich in Heinrich Heines Deutschland: Ein Wintermährchen. Da heißt es in der letzten Strophe:

O Hermann, dir verdanken wir das!
Drum wird dir, wie sich gebühret,
Zu Detmold ein Monument gesetzt;
Hab selber subskribieret.


Die letzte Zeile ist wohl ein klein wenig dichterische Übertreibung. Heine wird sich nicht an der Finanzierung des Denkmals beteiligt haben. Er wird die Fertigstellung auch nicht erleben, da werden noch dreißig Jahre vergehen.


Sonntag, 11. Mai 2025

Bildauswahl

Heute wird im Overbeck Museum in Vegesack die Ausstellung „Ist mir eine Ehre!“ – Die Lieblingsbilder unserer Ehrenamtlichen eröffnet. Die Ausstellung geht noch bis zum 10. August. Das Overbeck Museum feiert damit sein 35-jähriges Bestehen. Vorher hatte das Gebäude in der Alten Hafenstraße den Namen KITO. Das ist jetzt kein Tippfehler, es hat nichts mit einer Kita zu tun, hier saß mal eine Verpackungsfirma, die Kisten aus Wellpappe herstellte und die den schönen Namen Kistentod hatte. 

Jetzt ist es ein Museum für die Bilder von Fritz Overbeck und Hermine Overbeck-Rohte und ein Ort für kulturelle Veranstaltungen. Das Packhaus ist um 1800 entstanden, man hat es neuerdings richtig aufgerüscht. Natürlich ist es schön, dass die Bilder von Fritz Overbeck, der ja von Worpswede nach Vegesack gezogen war, einen Platz gefunden haben, an dem sie gut zur Geltung kommen. Es ist viel Licht auf dieser Etage des Speichers, mehr Licht als in manchen Ausstellungsräumen in Worpswede oder Fischerhude. Es ist auch schön, dass aus dem etwas vergammelten Packhaus ein Kulturzentrum geworden ist.

Normalerweise bestimmt die Leitung eines Museums, was an die Wände gehängt wird, aber zum 35. Geburtstag des Museums hat die Direktorin Katja Pourshiraz sich etwas anderes einfallen lassen: Zum 35. Geburtstag des Overbeck-Museums bestimmen unsere Ehrenamtlichen, welche Bilder gezeigt werden. Lieblingsbilder, nahezu Unbekanntes und besondere Schätze – wer schon so viele Stunden ehrenamtlich Aufsicht in den Ausstellungsräumen gemacht hat, der hat zu manch einem Kunstwerk von Fritz Overbeck oder Hermine Overbeck-Rohte eine besondere Beziehung und kann etwas darüber erzählen. Deshalb sind den Bildern kurze Texte unserer Ehrenamtlichen zur Seite gestellt, die erzählen, was dieses Werk für sie persönlich bedeutet. Das kann man so machen, da hat jeder etwas davon. Meine beiden Overbecks sind noch bei mir im Wohnzimmer, aber eines Tages werden sie auch diesem Museum gehören, das habe ich schon ins Testament geschrieben.

Als ich die Sache mit der Bildauswahl durch die sechzig Ehrenamtlichen las, fiel mit eine kleine Geschichte ein, die ich in dem Post Russen hätte erzählen können, aber nicht erzählt habe. 1986 präsentierte der Kieler Kunsthallendirektor Jens Christian Jensen aufsehenerregende Neuerwerbungen: Malerei des 19. Jahrhunderts aus Russland und Polen. Erworben aus der Sammlung Georg Schäfer, zu der Jensen im Ruhestand als Kurator wechselte. Berater war er in Schweinfurt schon lange. Die Kunsthalle Kiel war plötzlich das einzige öffentliche Museum in der Bundesrepublik, das russische Malerei besaß. Das ist ungewöhnlich, von der russischen Malerei des 19. Jahrhunderts weiß man ja meistens nicht so viel, von der russischen Literatur schon. Dieses Bild von Iwan Kramskoj war wahrscheinlich das berühmteste Bild aus der Sammlung russischer Malerei. Das Bild der Dame, die von vielen für Anna Karenina gehalten wurde, hat hier schon den Post la belle inconnue.

Jensen, der erste hauptamtliche Direktor der Kunsthalle, hatte durch seine Tätigkeit das verschlafene Kiel aus der Regionalliga in die Champions League der Kunsthallen gebracht. Seine Nachfolger werden dafür sorgen, dass die Kunsthalle Kiel wieder Kreisklasse wird. Einer dieser Direktoren, der auch den schlechtesten Katalog* der Kunsthalle zu verantworten hat, war darauf aus, immer in der Presse zu sein oder vor den Kameras des Regionalfernsehens aufzutreten. Und so behängte er die Außenwand der Kunsthalle mit 999 türkischen Fahnen und machte eine Ballermann Ausstellung, Bei der Ramona Drews, die Gattin des Königs von Mallorca, ihre Gemälde aufhängen durfte. Durch diese ganzen Remmidemmi Aktionen wurde die ständige Sammlung ein klein wenig vernachlässigt.

Und nun kommt eines Tages eine hochrangige Delegation russischer Kunstwissenschaftler und Direktoren der Eremitage nach Kiel. Die wollen gerne sehen, wie ihre russische Malerei, die es nur hier in Kiel gibt, gehängt worden ist. Ein legitimer Wunsch. Aber der Direktor kann den russischen Gästen die Bilder nicht zeigen. Nicht Iwan Kramskojs elegante Dame und auch nicht Isaak Iljitsch Lewitans schönes Bild Der stille Weg. Er bereite gerade eine ganz sensationell neue Ausstellung vor, sagt er den russischen Gästen. Bei dieser Ausstellung dürfen die Angestellten der Kunsthalle und die Hilfskräfte bestimmen, was an die Wände kommt. Die russische Delegation, die sich ein halbes Jahr zuvor angemeldet hatte, ist etwas konsterniert. Aber da sagt der Leiter der Delegation: Herr Direktor, ich gratuliere Ihnen. Lenin hat einmal gesagt, wenn meine Sekretärin an meinem Schreibtisch alles machen kann, was ich mache, dann ist der Höhepunkt des Kommunismus erreicht. Sie, Herr Direktor, haben jetzt den Höhepunkt des Kommunismus erreicht. Schöner geht Ironie wirklich nicht.

Noch mehr Overbeck in den Posts: Fritz Overbeck, Ich bin nicht sentimental, Grünkohl, Worpswede, Wuddel, Hafenstraße


* post scriptum: Zu dem oben erwähnten Katalog möchte ich noch eine Anmerkung machen: Während beinahe alle deutschen Kunsthallen repräsentative Kataloge ihrer Sammlungen präsentieren können, ist es der Kunsthalle Kiel offensichtlich immer schwer gefallen, etwas Verlässliches auf den Markt zu bringen. So musste Richard Sedlmaier im Vorwort zu dem kleinen Katalog, der 1958 erschien, zugeben, dass seit 1882 kein repräsentativer Katalog der Gemäldegalerie erschienen war. Das von der verdienstvollen Kustodin Lilli Martius erstellte 168-seitige Verzeichnis (48 Abbildungen) war ein erster Versuch im Nachkriegsdeutschland. 1973 folgte unter dem Direktor Jens Christian Jensen ein zweiter Katalog der Gemälde. Bearbeitet vom Kustos Johann Schlick (auf den Vorarbeiten von Lilli Martius beruhend) gab es jetzt auf 239 Seiten kleinformatige schwarz-weiß Abbildungen von (beinahe) allen Gemälden. Diese kunsthistorisch seriösen Vorläufer sind für Dirk Luckow nicht von Interesse. Sein Katalog, in dem immer wieder sein eigener Name genannt wird, aber kaum jemals die Namen seiner Vorgänger vorkommen, ist groß, schwer, bunt und 584 Seiten dick. Dies ist die Disneyland Version eines Katalogs. Mit seriöser Kunstgeschichte hat dies wenig zu tun, mit marktschreierischer Präsentation umso mehr. Hier werden die Highlights der Sammlung grellbunt präsentiert, der Rest der Sammlung wird nicht erwähnt. Unter Jens Christian Jensen spielte die Kunsthalle Kiel ganz oben in der Bundesliga der deutschen Kunsthallen mit. Unter seinen Nachfolgern steht sie auf einem Abstiegsplatz. Dieser Katalog, den amerikanische Touristen in Hawaihemden bestimmt toll finden, dokumentiert die Misere.

Donnerstag, 8. Mai 2025

Bremen, 8. Mai 1945

Heute vor achtzig Jahren war der Zweite Weltkrieg zu Ende. Vor vierzig Jahren sagte der Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer Feierstunde im Plenarsaal des Bundestags: Wir Deutsche begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig. Wir müssen die Maßstäbe allein finden. Schonung unserer Gefühle durch uns selbst oder durch andere hilft nicht weiter. Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit so gut wir es können ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit. Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mußten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen. Sie können die ganze Rede hier lesen. Es lohnt sich auch nach viezig Jahren, das einmal zu tun.

1985 konnten sich viele, die die Schrecken des Krieges und der Verfolgung erfahren hatten, noch genau daran erinnern. Die Geschichten bleiben im Kopf. Wie meine Mutter ihre Schwiegermutter mit Gustav seinem kleinen Laster aus dem Feuersturm von Hamburg herausgeholt hat. Und die ist für die Heldentat ihrer Schwiegertochter gar nicht richtig dankbar gewesen und hat die ganze Autobahn bis Bremen lang nur geheult, wollte immer wieder zurück nach Hamburg. Nach dem, was davon übrig war. Man will immer zurück in die Heimat. Aber viele haben in diesen Tagen ihre Heimat und ihr Zuhause verloren. Viele Väter sind gefallen oder sind Kriegsversehrte wie mein Vater. Viele Familien beklagen Tote. Die erste Liebe meiner Mutter, ein Unteroffizier namens Hans Bünte, gefallen 1940 vor Rotterdam, ihr Cousin Hans vor Leningrad. Vatis Bruder irgendwo in Russland. Tante Margrets Neffe Georg, Hauptmann der Reserve, bei Tscherkassy, kurz nachdem er das Ritterkreuz gekriegt hatte. Omas junger Cousin Ludwig in Nordfinnland, Werners Bruder in Lyon. Sie liegen verstreut über Europa, die Familien wären glücklicher, wenn sie wüssten, wo die Gräber sind.

Wenn meine Oma Johanna den Kinderwagen nicht in den Graben gekippt hätte und hinterher gesprungen wäre, als der englische Tiefflieger die Straße mit dem MG beharkte, wäre ich nicht auf der Welt. Er wollte wahrscheinlich nicht meine Oma und mich treffen, sein Ziel war wohl die Brücke über den Mittellandkanal. Oder wusste der Pilot, dass wenige Kilometer von hier zwei seiner Kameraden, die mit ihrer Spitfire notgelandet waren, von der Dorfbevölkerung umgebracht worden waren? Man vergisst das alles nicht, auch wenn man vieles vergessen wollte. Wir reden von unserem Leiden, aber nicht von unserer Schuld. Der gerade gewählte Bundespräsident Theodor Heuss tat das schon 1949: Wir dürfen nicht vergessen die Nürnberger Gesetze, den Judenstern, den Synagogenbrand, den Abtransport von jüdischen Menschen in die Fremde, ins Unglück, in den Tod. Das sind Tatbestände, die wir nicht vergessen sollen.

Ein gewisser Björn Höcke war damals noch nicht geboren, er war zwölf Jahre alt, als Weizsäcker seine Rede hielt. Heute verkündet der vom Schuldienst beurlaubte Sportlehrer, dass Weizsäckers Rede zum 8. Mai 1945 eine Rede gegen das eigene Volk und nicht für das eigene Volk war. Er sprach in seiner Rede auch von einer dämlichen Bewältigungspolitik, die uns heute angeblich lähmt. Und er hat auch noch gesagt: es sind nur willensstarke Menschen, die Geschichte schreiben, und das wollen wir tun. Liebe Freunde, die Bundespräsidenten dieser Republik, die haben keine Geschichte geschrieben, und sie haben sehr wenig bedeutsame Reden gehalten. 

Und was war mit der Rede, die Theodor Heuss 1952 in Bergen-Belsen gehalten hat? Wer hier als Deutscher spricht, muss sich die innere Freiheit zutrauen, die volle Grausamkeit der Verbrechen, die hier von Deutschen begangen wurden, zu erkennen, hat er gesagt. Und er fügte den für die damalige Zeit unglaublichen Satz hinzu: Wir haben von den Dingen gewusst. Die Höckes und Gaulands dieser Welt werden keine Geschichte schreiben. Nicht mal eine Fußnote. Auch nicht diese Alice Weidel, die uns erzählen will, dass Hitler ein Linker war. Für sie ist der 8. Mai immer noch ein Tag der Niederlage des eigenen Landes. Die AfD spricht heute von deutschem Leid und alliierten Kriegsverbrechen, ein verzweifelter Versuch, die Geschichte umzuschreiben. 

Theodor Heuss hatte die Problematik des Gedenktages früh erkannt: Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind. Es hat ja Jahre gedauert, bis man nicht mehr von einer Niederlage, sondern wie Weizsäcker von einem Tag der Befreiung redete. In seinem Brief an meine Söhne schrieb Heinrich Böll 1984: Ihr werdet die Deutschen daran erkennen können, ob sie den 8. Mai als Tag der Niederlage oder Befreiung bezeichnenDer lange Schatten des Nationalsozialismus hieß das Buch, das der Historiker Reinhard Rürup vor zehn Jahren veröffentlichte, die Höckes und Weidels leben immer noch im Schatten.

Mein Vater trug beim Kriegsende keine Uniform mehr. Die Wehrmacht hatte den Leutnant der Reserve mit sieben Durchschüssen und Granatsplittern im Körper schon etwas früher nach Hause geschickt. Das Eiserne Kreuz hatten sie ihm noch mitgegeben. Als der Krieg wirklich zu Ende war, ist mein Opa von Bad Essen, wo wir untergekommen waren, nach Vegesack marschiert. Er wollte sehen, ob sein Haus in der Weserstraße noch stand. Im Ersten Weltkrieg war er Hauptmann in der Armee seines Kaisers gewesen. Jetzt war er fünfundsechzig und nicht mehr so gut zu Fuß mit seinen Schnürstiefeln. Für die Strecke von mehr als hundertzwanzig Kilometern hat er beinahe eine Woche gebraucht. Irgendwo zwischen Ritterhude und Lesum hat er auf dem Lesumdeich einen Bekannten getroffen und ihn nach der Lage in Vegesack befragt. Der hat ihm gesagt, er solle bloß wieder umkehren, nach Vegesack käme niemand mehr rein. Schon gar nicht in die Weserstraße, die hätten die Amerikaner besetzt. Und den Hof von Redeker hätten sie mit Stacheldraht eingezäunt und zum Gefangenenlager gemacht. Aber ihr Haus steht noch, Herr Lehrer, sagte der Mann, der einmal, wie so viele im Ort, Opas Schüler gewesen war. Mein Opa marschierte nach Bad Essen zurück.

Als die 43. Wessex Division (die zum XXX Corps von General Sir Brian Horrocks gehört) im April 1945 kommt, sind in Bremen alle Weserbrücken gesprengt. Die letzten beiden Brücken hat der Kampfkommandant am 25. April um 11.30 sprengen lassen. Den Tag davor hatte es noch zwei Luftangriffe gegeben. Das waren die Angriffe Nummer 172 und 173 auf die Stadt. Es waren die letzten in diesem Krieg. Am Nachmittag heulten die Luftschutzsirenen noch ein letztes Mal, das 1.233. Mal in diesem Krieg, aber es hatte keinen Angriff mehr gegeben. Als die Große Weserbrücke (die damals Lüderitzbrücke hieß) und die Kaiserbrücke gesprengt werden, hat die 52. Lowland Division schon Hemelingen erreicht und steht da, wo die Borgward Werke sind (wo heute das Daimler Benz Werk ist).

Ich besitze eine Zeichnung von dem Bremer Maler Emil Mrowetz, die er einmal meinem Vater geschenkt hat. Sie ist signiert Zerstörte alte Weserbrücke 1945. Nur das Brückenportal mit den beiden Löwen, die das Bremer Stadtwappen halten, ist unversehrt. Dahinter sind nur noch von den Explosionen der Sprengung aufgebogene Stahlträger zu sehen. Aber die Alte Weserbrücke interessiert den Generalleutnant Brian Horrocks (der in dem Film A Bridge too Far von Edward Fox gespielt wird) wenig. Die Engländer sind schon längst in Hoya über die Weser gekommen, also da unten, wo ich mit der Bundeswehr zwanzig Jahre später Weserübergänge üben darf. Seit Karl dem Großen sind Weserübergänge für Armeen nicht aus der Mode gekommen.

Der Kampfkommandant der Hansestadt, der erst seit drei Wochen in Bremen ist und die Stadt nicht kennt, glaubt aus unerfindlichen Gründen, die Engländer würden bei Vegesack die Fähre über die Weser nehmen. Da sind zwar Engländer, die von Zeit zu Zeit unseren Ort beschießen (und das auch noch über die offizielle →Waffenruhe vom 27. April hinaus), aber die bleiben erst einmal in Lemwerder. Besetzen den Flughafen und sichern sich die letzten Ju 87 Sturzkampfbomber, die die Weserflug da gebaut hatte. Die Masse der englischen Armee hatte längst einen anderen Weg genommen. Die Überschwemmungsgebiete links der Weser zwischen Huchting und Dreye haben die Schotten und Engländer der 3. Division nicht aufhalten können. Am Mittag des 25. April haben sie schon den Flugplatz Neuenlander Feld erreicht. Seit der Landung in der Normandie hat die 3. Division (die Wellington einst begründete) 2.586 Tote und über 12.000 Verwundete zu beklagen. Bei Waterloo waren es weniger.

Zum ersten Mal seit der General Tettenborn Bremen von den Franzosen befreit hat, sind wieder fremde Soldaten auf Bremer Boden. Der Kampfkommandant von Bremen ist in den letzten Kriegswochen ein Generalleutnant namens Fritz Becker, der unter extremem Wirklichkeitsverlust leidet. Er will in seinem Hauptquartier im Haus des Werftdirektors Franz Stapelfeldt (Parkallee 95) Bremen bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone verteidigen. Das hatte der Gauleiter Paul Wegener befohlen, aber der hat sich schon nach Flensburg zu Dönitz abgesetzt. Militär und Nazis sitzen in Bremens feinster Gegend. Das vornehme Schwachhausen ist kaum bombardiert worden. Den Bomben zum Opfer fallen die Arbeiterviertel neben den Werften an der Weser. Von dem Haus in Walle, wo mein Vater und Oma vor dem Krieg gewohnt haben, ist bis auf die Grundmauern nichts übrig geblieben.

Währenddessen radeln Bremer Senatoren mit dem Fahrrad den Engländern entgegen, um die Übergabe der Stadt vorzubereiten. Die Ecke beim Bunker, wo der Bürgerpark an den Stern und die Hollerallee angrenzt, haben die ersten englischen Truppen von der Somerset Light Infantry den Hyde Park Corner genannt. Der Stellvertreter Beckers, ein Generalmajor Werner Siber, der im Bunker gegenüber der Benquestraße sitzt, ergibt sich als erster mit seinem Stab (zwei Fußballmannschaften stark) den Engländern. Der Boden des kleinen Bunkerraums, in dem sie hocken, ist übersät mit leeren Sektflaschen.

Einige deutsche Offiziere und der Präses der Handelskammer Karl Bollmeyer wollen den starrsinnigen General Fritz Becker in der Stapelfeldt Villa erschießen. Aber das verbietet ihnen die Hausherrin, deren Ehemann gerade erst aus der Gestapo-Haft in sein Haus zurückgekehrt ist: Machen Sie das irgendwo, wo Sie wollen, aber nicht in unserem Haus. Es kommt leider nicht dazu. Obwohl die englischen Panzer schon den Sielwall auf und ab fahren, will der Ritterkreuzträger Becker offiziell immer noch nicht kapitulieren. Er ist inzwischen in den Bunker der 8. Flakdivision an der Einmündung der Emmastraße in die Parkallee umgezogen.

Es bleibt ihm dann aber nichts anderes übrig, als sich zu ergeben. Am frühen Morgen des 27. April holt ihn das Wiltshire Regiment aus seinem Bunker. General Fritz Becker wird sich mit dem Hitlergruss in die englische Gefangenschaft verabschieden. Kein Stil. Kein Bremer. Wie die Bundeswehr 1967 auf die bescheuerte Idee kommen konnte, diesem Mann ein Ehrenbegräbnis auszurichten, kann ich bis heute nicht verstehen. Aber es ist die Zeit, in der sich die Armee mit einem konservativen backlash von Baudissins Idealen der Inneren Führung verabschiedet. Der General Brian Horrocks wird in Bremen zum ersten Mal einen Eindruck davon bekommen, welche →Auswirkungen die 173 Bombenangriffe der Alliierten gehabt haben. Dass das Ergebnis so fürchterlich aussieht, hat er sich nicht vorstellen können. Harry Ditton, der britische Korrespondent der News of the World, schrieb in seinem Bericht vom 29. April 1945: Bremen war und ist verschieden von allen anderen deutschen Städten, die wir eingenommen haben. Sein Todeskampf war viel schwerer. Es hatte sich entschieden, sich gegen sein Schicksal zu wehren.

Horrocks' Mitleid hält sich allerdings in Grenzen, wenn er drei Tage später bei der Befreiung des Kriegsgefangenenlagers Sandbostel nördlich von Bremen auf KZ-ähnliche Verhältnisse trifft. Die englische Armee befreit beinahe 50.000 halbverhungerte Gefangene. Nach Sandbostel waren im April auch Häftlinge aus dem →KZ-Außenlager Farge, die dort den U-Boot Bunker und beim Bremer Vulkan die U-Boote bauten, gebracht worden. Von den etwa 9.000 Häftlingen, die Sandbostel erreichten, starben bis zur Befreiung des Lagers etwa 3.000 an Unterernährung, Krankheiten und Erschießungen durch die SS.

Sir Brian Horrocks, der im Ersten Weltkrieg Kriegsgefangener der Deutschen (und der Russen) war, wird in seiner sehr lesenswerten Autobiographie A Full Life über seinen Schock im Lager Sandbostel schreiben. Davon haben die deutschen Generäle Siegfried Rasp vom Korps Ems und Ernst Busch von der Heeresgruppe Nordwest, die sich Horrocks am 3. Mai ergeben, natürlich nichts gewusst. Das ist jetzt eine gefährliche Krankheit, diese Ahnungslosigkeit, die sich unter deutschen Militärs und Politikern geradezu epidemisch ausbreitet. Je mehr Sterne man auf der Schulter hat, desto weniger hat man gewusst. Der Feldmarschall Ernst Busch, einer der treuesten Anhänger Hitlers, wird wenig später in englischer Gefangenschaft an gebrochenem Herzen sterben.

Horrocks ist dann mit seinem XXX Corps von Sandbostel nach Cuxhaven vorgestoßen. Er hätte Hamburg einnehmen können, aber das darf er nicht, das will Montgomery mit seiner 21st Army Group selbst erobern. Irgendwie schien Horrocks sich da oben im Land Wursten zu langweilen. Er ist von Cuxhaven aus nach Helgoland gefahren, um sich den traurigen Rest der Insel nach dem Bombardement der Royal Air Force vom 18. April 1945 anzugucken (das Photo ist aus dem Jahre 1952, als die Engländer die Insel zurückgaben). Da die Royal Navy Cuxhaven noch nicht eingenommen hatte und kein englisches Kriegsschiff zur Verfügung stand, fuhr er mit einem deutschen Schnellboot, das bei Lürssen in Vegesack gebaut worden war. Ein Jahrzehnt später durfte Lürssen die Dinger dann wieder für die Bundesmarine bauen.

Da man für den Ausflug von Horrocks keine englische Kriegsflagge auftreiben konnte, geschah das Ganze unter deutscher Flagge. Die letzte Aktion der deutschen Kriegsmarine. Und dann muss sich der deutsche Kapitänleutnant noch von einem englischen General sagen lassen, dass die vier Begleitboote keine exakte Formation halten könnten (auf der Rückfahrt konnten sie es). Nach dieser letzten Fahrt unter deutscher Flagge durfte die deutsche Marine Minen räumen. Da hatten sie zwar englische Flaggen, durften aber noch ihre alten blauen Marineuniformen tragen. Allerdings ohne das Hakenkreuz.

Zur Überraschung der Bremer blieben die Engländer nicht in Bremen. Denn am 27. April, dem Tag, an dem in Bremen der Krieg offiziell zu Ende war, kommen auch die ersten Amerikaner an. Die Amerikaner wollten die Stadt (Bremerhaven als Port of Embarcation inklusive) als Nachschubbasis für ihre Truppen in Deutschland haben. Am Montag, dem 30. April (dem Tag, an dem sich Hitler erschoss), musizierte noch eine schottische Militärkapelle mit ihren Dudelsäcken auf dem Markt, am nächsten Tag wurden aber schon die ersten amerikanischen Flaggen an offiziellen Gebäuden gesehen. Und das Bremer Rathaus wird zu einer Bierhalle für die amerikanische Armee: GI Joe's Number 1 (die Vegesacker Strandlust wird GI Joe's Number 2).

Mit dem Einzug der Amerikaner wurde die Stadt zur Amerikanischen Enklave, die wenigen Autos, die den Krieg überlebt hatten, bekamen 1946 die Autonummer AE. Meine Mutter hatte ihr kleines Auto, auf das sie so stolz war, bei Kriegsbeginn auf der Bürgerweide, wo heute der Bremer Freimarkt stattfindet, abstellen müssen. Sie bekam eine gestempelte Quittung, aber den Wagen hat sie nie wiedergesehen.

Alles um Bremen herum war unter englischer Verwaltung und hieß jetzt Britisch Niedersachsen (Autonummer BN). Also Lemwerder zum Beispiel, wo die Yachtwerft von Abeking & Rasmussen war. Als ein amerikanischer Offizier, der begeisterter Segler war, 1945 entdeckte, was da auf der anderen Weserseite war, hat er die ganze Werft erstmal mit Off Limits und Out of Bounds Schildern zugepflastert. Und alle Yachten für recreational purposes beschlagnahmt. Die Engländer, die das gleiche vorhatten, kamen einen Tag zu spät. Die hatten natürlich auch jemanden, der ein Exemplar von Uffa Fox’ Buch über Segelboote besaß. Die Amerikaner werden übrigens eines Tages alle beschlagnahmten Boote zurückgeben. Bis auf eins. Angeblich von Engländern geklaut.

Obgleich die Engländer eigentlich schon genügend Segelboote besaßen. General Horrocks hatte nämlich bemerkt, dass alle Segelyachtbesitzer ihre Boote in den kleinen Nebenflüssen der Weser versteckt hatten, die jetzt alle unter englisches Hoheitsgebiet fielen. Er hat alle requiriert, die Hälfte davon musste er allerdings willy nilly später an die Royal Navy abgeben. Die wollten auch segeln. In Kiel war das ähnlich, die Engländer richteten im Kieler Yacht Club ihre erste Kommandantur ein und tauften den Club in British Kiel Yacht Club um, und beschlagnahmten alle Segelyachten. Hermann Görings Yacht Flamingo (auch bei Abeking & Rasmussen gebaut) werden sie erst 2016 bei ihrem Abzug von der Förde zurückgeben.

Meine Mutter hat es den amerikanischen Besatzern nie verziehen, dass sie das Meißner Porzellan geklaut und das Klavier aus dem Fenster geworfen haben. Der Rahmen des Klaviers ist zwar geschweißt worden, aber es klang danach immer etwas schräg. Aber unser Haus in der Weserstraße hatte außer kleineren Bombenschäden am Dach den Krieg überstanden, und als eines Tages die amerikanischen Besatzer das Haus räumten, hatten wir und der Rest der Familie wieder eine eigene Bleibe. Wenn auch ohne das Meißner Porzellan. Hunderttausende waren nicht so glücklich wie wir.

Am 8. Mai 1945 ist der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen. Für den Bremer Lokalhistoriker Herbert Schwarzwälder ist das in einem Ausblick betitelten Kapitel seiner vierbändigen Geschichte der Freien Hansestadt Bremen keine Befreiung gewesen. Bei aller Faktenhuberei, die sein Werk charakterisiert, ist sein Band IV Bremen in der NS-Zeit (1933-1945) doch eine zweifelhafte und letztlich klägliche Sache. Sehr viel besser ist da das Buch Bremen im Dritten Reich: Anpassung - Widerstand - Verfolgung von →Inge Marßolek und René Ott. Keine Geschichte der Gauleiter wie bei Schwarzwälder, sondern eine Geschichte von unten. Die Historiker haben es versäumt, rechtzeitig alles aufzuschreiben. So in der Art von Tom Harrissons Mass Observation in England.

Meine Jugend war das Nachkriegsdeutschland, waren Ruinen, gerettete Photoalben und viele Erzählungen. Alle erzählten vom Krieg. Wenige von der Zeit vorher. Was wäre das für ein Material gewesen, wenn ein Historiker das damals aufgeschrieben hätte! Später in der Oberschule hatte dieser Krieg, dessen Auswirkungen wir alle noch kannten, beinahe nicht stattgefunden. Da gab es den Punischen Krieg, da lasen wir Caesars De Bello Gallico, aber das Kriegsende in Bremen war kein Thema des Unterrichts. Viele Lehrer erzählten uns in den fünfziger Jahren ihren Krieg, sie mussten den Schrecken abarbeiten, dem sie in ihren besten Jahren ausgeliefert waren. Aber niemand sprach von den siebzigtausend Zwangsarbeitern, die die →U-Boote beim Bremer Vulkan und den U-Boot Bunker in Farge gebaut hatten, die an Unterernährung, Entkräftung und Misshandlung gestorben waren. In einem kleinen Birkenwäldchen bei Eggestedt, das wie eine Landzunge in die Äcker hineinreichte, sind manche von ihnen beinahe anonym begraben. Mit Grabkreuzen in kyrillischer Schrift. Die Geschichte ist nicht nur in Büchern zu finden, sie schreibt sich auch in die Natur ein. Da ist sie nur schwer zu lesen.

Meine Cousine Hannelore hat mir vor Jahren ein kleines Büchlein geschenkt, wofür ich ihr ewig dankbar bin. Es heißt Kriegsende 1945: Vegesack und umzu und enthält Erinnerungen, die von den Bewohnern des Ortes aufgeschrieben worden waren. Ich habe beinahe alle, die hier schrieben, noch gekannt. Manches davon kann man nicht glauben, weil es nicht wahr ist. Wie zum Beispiel der Direktor des Bremer Vulkans, der vormalige Wehrwirtschaftsführer Robert Kabelac, der sich hier persilrein wäscht. Aber das meiste ist völlig ehrlich. Unverfälscht und unredigiert, so wie jeder dachte und es erlebt hatte. Ich wollte, es gäbe mehr von solchen Büchern. Man wünschte sich auch im Internet mehr solcher Texte wie diesen →hier oder →diesen. Aber stattdessen findet man im Internet den Krieg, das Militär und die Nazis verherrlichende Seiten bis zum Abwinken. Was Walter Kempowski mit seinem Echolot angestoßen hat, war schon die richtige Idee. Was →Guido Knopp im ZDF serviert hat, sicherlich die falsche. Es ist neuerdings chic geworden, von Erinnerungskultur zu reden. Ich finde das ein fürchterliches Wort. Wir sollten einfach nicht vergessen. Punkt, Ausrufezeichen. Oder, wie es in Kiplings Recessional heißt: Lord God of Hosts, be with us yet, Lest we forget—lest we forget!