Freitag, 18. August 2023

ein Viertelpfund China am Arm

Also, ich hätte diese Uhr nicht gebraucht, aber ich wollte mal eine richtig große Uhr haben. Meine alte gefälschte Rolex, die mir mein Uhrmacher vor Jahrzehnten geschenkt hat, ist leider kaputt. Die habe ich immer mal einen Tag getragen, nur um mir zu überlegen, weshalb man solche Uhren trägt. Ich könnte natürlich die Doxa Sub 300 tragen, aber die ist mir dann doch zu schwer beim Tippen. Dieses neue Teil hier hat den Phantasienamen Parnis. Ist aus Edelstahl, 40 Millimeter groß, hat eine verschraubte Krone, eine Keramiklünette, Schraubboden und Saphirglas. Angeblich ist sie 200 Meter wasserdicht, steht auf dem Zifferblatt. In ihr tickt ein Automatikwerk, ein chinesischer Klon eines ETA Werks, wahrscheinlich ein Seagull ST-25 der Firma Tianjin. Oder ein japanisches Miyota (Citizen) Werk, das ist nicht so klar. Dafür schraube ich den Boden nicht auf, um zu gucken. Mir gefällt der rote Minutenzeiger, den hat meine Zodiac Sea Wolf auch. Die Uhr kommt aus China. Viele Uhren können so ähnlich wie diese aussehen, aber andere Markennamen wie Pagani Design, San Martin, Bliger, Corgeut, Bersigar oder Steeldive haben. Wahrscheinlich kommen die alle aus derselben Produktionsstätte in der Uhrenhochburg Shenzhen. Dort werden 42% der Weltproduktion an Uhren hergestellt. Man kann diese Uhren bei Amazon oder der chinesischen Firma AliExpress kaufen, die die Uhr in vierzehn Tagen portofrei liefert. Ob man darauf Zoll bezahlen muss, oder ob der Zoll die Uhren vernichtet, weil es alles Fälschungen sind, das weiß ich nicht. Die Uhren kosten um die 150 Euro, ich habe für meine weit weniger als die Hälfte bezahlt.

Die Chinesen vermeiden das Wort Fälschung; auch das Wort Nachtauslage, das früher mal Fälschungen bezeichnete, hat keine Konjunktur mehr. Das neue Modewort heißt Hommage, eine etwas zynische Umwertung der eigentlichen Wortbedeutung. Man baut in Shenzhen beinahe echte Rolex Uhren, schreibt aber das Wort Rolex nicht aufs Zifferblatt. Alle Rolex Modelle sind im Angebot, von der GMT bis zur Daytona. Die chinesischen Uhren, die häufig japanische Uhrwerke wie das Seiko NH35 haben, sind natürlich keine echte Konkurrenz für Rolex. Der Schweizer Massenproduzent verkauft nach wie vor eine Million Uhren im Jahr. Sehr viele nach China. In Rolex Uhren sind keine chinesischen Teile, in anderen Schweizer Markenuhren aber schon. Uhren, die Namen von Designern wie Hugo Boss, Armani oder Diesel haben, kommen sowieso immer aus China oder Hongkong. Swiss Made darf sich nur nennen, wenn sechzig Prozent der Wertschöpfung und die Endmontage in der Schweiz anfallen. Aber der Begriff ist dehnbar, ebenso wie der Made in Italy Begriff. Für Edelstahlarmbänder gilt die Swiss Made Regel nicht, die können ganz aus China kommen, um Swiss Made zu sein. Ich weiß nicht, wer den Begriff Swiss Made in China erfunden hat, aber der beschreibt die Lage. Der größte Schweizer Uhrenhersteller, die Swatch Group, hatte von 1996 bis 2005 eine Firma in Shenzhen. Offenbar ist ihnen China zu teuer geworden, sie sind jetzt in Thailand.

Die Schweiz war vor der Quarzkrise einmal das Maß der Dinge in der Uhrenwelt. Historisch betrachtet ist sie das allerdings noch nicht so lange gewesen. Als Eduard Favre-Perret 1876 im offiziellen Auftrag der Schweizer Uhrenindustrie die Ausstellung zur 100-Jahrsfeier der Unabhängigkeitserklärung in Philadelphia besucht, kann er die Taschenuhren der Firma Waltham nur in den höchsten Tönen loben. Nach unbestätigten Angaben soll die Schweizer Delegation kreidebleich aus dem Saal gewankt sein, in dem Waltham seine Tagesproduktion von 2.000 Uhren präsentierte. Favre-Perret wird einen aufrüttelnden, warnenden Bericht an die Schweizer Industrie verfassen, in dem er sagt, dass die durchschnittliche amerikanische Taschenuhr besser sei als 50.000 Schweizer Uhren.

Die Schweizer Uhr hatte in den USA in dieser Zeit sowieso einen schlechten Ruf (große Namen wie Vacheron & Constantin, die seit 1830 in New York repräsentiert sind, natürlich ausgenommen), man macht viel Geld mit Produktpiraterie. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass das, was heute die Chinesen machen, die Grundlage der Schweiz als Uhrennation gewesen ist. Im 18. Jahrhundert hatte man Londoner Uhren gefälscht, im 19. Jahrhundert fälscht man amerikanische Uhren. Manche dieser Fälschungen amerikanischer Uhren werden allerdings auch im gegenseitigen Einverständnis produziert, so entstehen billige Zylinderwerke mit Schwanenhalsfeinregulierung (immerhin eine amerikanische Erfindung), mit imitierten Kompensationsunruhen und imitierten Rubinen in imitierten Chatons. Darauf wird in der amerikanischen  Werbung ganz offen hingewiesen, und für einen Dollar und 50 Cents kann man auch nicht mehr erwarten. Die Welt will betrogen sein. Amerikanische Publikationen für Taschenuhrsammler enthalten da ganze Kapitel mit dem Titel How to identify a Swiss fake. Die amerikanische  Uhrenindustrie gibt es nicht mehr. Firmen wie Waltham und Hamilton existieren nur noch dem Namen nach, sie sitzen heute in der Schweiz.

In die Schweiz kaufen sich chinesische Firmen gerne ein, die China Haidian erwarb in den letzten Jahren die Firmen Eterna, Corum und Rotary. Es ist noch nicht ganz klar, was sie damit wollen. Gewinne werfen diese Firmen nicht ab. Viele Firmen lassen in China Uhren produzieren, weil es billig ist. Selbst die japanischen Giganten Seiko und Citizen lassen ihre Quarzwerke in China produzieren. Vierzig Prozent der chinesischen Uhrenexporte gehen auf japanische Hersteller zurück, steht in der Neuen Zürcher. Vielleicht ist ja auch ein bisschen Japan in meiner Parnis. Erstmal läuft die Uhr, die nach viel mehr aussieht, sehr gut; ich trage sie noch eine Woche, dann kommt wieder eine Schweizer Uhr an den Arm. Also so eine, in der garantiert nichts Chinesisches ist.

Dienstag, 15. August 2023

die Schlei


In dem Post die Bilder im Wohnzimmer hatte ich geschrieben, dass ich nicht sicher sei, ob das auf dem Bild die Schlei sei, wie Volker das vermutet hatte. Aber ich bekam eine Mail von meinem Freund Friedhard, der da oben wohnt, und der sagte, es könnte die Schlei sein. Wusste auch ziemlich genau wo. Fügte dem aber noch ein könnte hinzu. Dieses schöne Bild von der Schlei nach einem Gewitter von Gerhart Bettermann hängt in Flensburg. Das hätte ich für einen Hunni natürlich auch gekauft, aber ich bin mit meinem Bild zufrieden. Das schöne Bild, wahrscheinlich Bettermanns bestes Werk, war schon 2012 hier im Blog zu sehen, weil es da einen Post Bettermann gab.

Die Schlei, die die Dänen manchmal auch Slesvig Fjord nennen, ist ein vierzig Kilometer langer Nebenarm der Ostsee, er trennt die Landschaften Angeln und Schwansen. Und den Kreis Schleswig-Flensburg vom Kreis Rendsburg-Eckernförde. Dieses Angeln kennen wir von den Angelsachsen, die England besiedelt haben. Nach Tacitus haben die Angeln hier oben gewohnt, aber so ganz sicher ist man da nicht. Die Sachsen haben aber nicht im heutigen Sachsen gewohnt, da sind sich die Historiker sicher. Die Landschaft Angeln kennen ich von kunsthistorischen Exkursionen, weil die da eine große Zahl von romanischen Feldsteinkirchen aus der Zeit um 1200 haben. Die häufig ganz schlicht und einfach sind, wie hier die Kirche von Brodersby. 

In ihrer kargen Anmut ähneln die Kirchen den dänischen Kirchen in Jütland. Sie haben nichts von der barocken Pracht süddeutscher Kirchen. Diese Exkursionen mit Professor Kamphausen waren wunderbar. In Süderbrarup gab es einen Halt des Universitätsbusses, wir besichtigten eine Kneipe, nur um eine kleine sowjetische Flagge auf dem Stammtisch anzugucken. Die Angeler Bauern verkauften nämlich Angeler Kühe direkt an die Sowjets. Das hatte zwar mit dem Thema Angeler Feldsteinkirchen nichts zu tun, aber Kamphausen ließ diese netten kleinen Dinge am Rande nie aus. 

Die Landschaft um die Schlei kennt jeder in Deutschland, auch wenn er noch nie da war. Weil es die Serie Der Landarzt gab, beinahe dreihundert Folgen, ein Vierteljahrhundert lang. Habe ich nie gesehen. Dass es die Serie gab, weiß ich nur von meinem Uhrmacher. Bei dem waren Leute von dem Team erschienen, das gerade eine Folge drehte, und wollten eine schöne, eindrucksvolle Uhr geliehen bekommen. Die sollte am Arm eines Schauspielers in Großaufnahme erscheinen. Mein Uhrmacher lieh ihnen die Longines, die er gerade restauriert hatte. Als er sie zurückbekam, war die Uhr Schrott, die hatten sie bei den Dreharbeiten auf den Fliesenboden fallen lassen.

Dies wird heute kein enzyklopädischer Artikel zum Thema Schlei, aber drei Dinge möchte ich noch erwähnen: Die Lindaunisbrücke aus dem Jahre 1927 ist seit März gesperrt. Wenn ich da drüber fuhr, hatte ich immer ein bisschen Angst, dass mir ein Zug begegnete, weil dies eine Brücke für Eisenbahn und Autos ist. Und für Radfahrer. Und dann sollte ich noch erwähnen, dass Haithabu, das hier schon einen langen Post hat, ganz in der Nähe ist. Und den Schriftsteller Jochen Missfeldt sollte ich nicht vergesen. Weil der in Angeln wohnt, wo auch manche seiner Romane spielen. Er wird in diesem Blog schon in dem Post Theodor Storm erwähnt, weil er eine Storm Biographie geschrieben hat. Missfeldt war Starfighter Pilot gewesen, früh in Pension gegangen, weil dass bei der Luftwaffe so üblich ist. Dann hat er Musikwissenschaft, Philosophie und Volkskunde in München und Kiel studiert und dann angefangen zu schreiben. Wenn Sie ihn lesen wollen, dann kann ich den Roman Solsbüll empfehlen.

Samstag, 12. August 2023

die Bilder im Wohnzimmer


Irgendwie funktioniert das mit den Photos von einem Handy nicht so, wie ich mir das vorstelle, immer gibt es diese stürzenden Linien. Leute, die professionell Architektur photograhieren, tun das natürlich nicht mit einem Handy. Die haben eine Linhof Technika oder eine Kamera mit einem tilt-shift Objektiv; so etwas ist sehr teuer, aber man vermeidet damit die stürzenden Linien. Dies hier ist ein Handyphoto, ein klein wenig schief ist es ja doch geworden. Das Bild hängt bei mir vor einer Bücherwand, man kann links und rechts vom Rahmen noch Bücher sehen. Ich habe kaum noch freie Wände, um Bilder aufzuhängen, überall sind Bücher. Das Bild habe ich bei meinem Hinterhofhöker gekauft, bei dem ich auch den Hans Matthison-Hansen gekauft habe. Er hatte das Bild in Kommission, es hatte einen festen Preis. Hundert Euro wollte die Besitzerin dafür haben. Ich hatte mich sofort in das Bild verliebt, ich zahlte die hundert Euro und nahm es mit. Ich weiß nichts über den Maler, ich weiß auch nicht, wo das ist. Volker sagte, es könnte an der Schlei sein. Aber wachsen an der Schlei solche Bäume?

Beinahe alle Bilder in meiner Wohnung sind von Malern, deren Namen ich nicht kenne. Dass dieses Bild hier von Antje Marczinowski ist, das weiß ich. Ich habe es in einer Austellung gekauft. Weil es ein bisschen wie ein Hopper aussieht. Bei einer Handvoll Bilder kenne ich die Maler. Ich habe zwei Overbecks und einen Willi Vogel geerbt, und Heike hat mir den Mogens Kragh Pedersen geschenkt. Den Schweden Gustav Berlin mit dem  alten Rathaus von Skanörs habe ich schon einmal erwähnt. Und meinen ehemaligen Studenten Hansjörg Schneider, der mir am Ende seines Studiums ein Bild schenkte, habe ich auch schon erwähnt. Aber der Rest der Bilder bleibt namenlos. Es sind viele Schweden und Dänen dabei. Was wohl daran liegt, dass man vor Jahrzehnten in Dänemark sehr preiswert schöne Ölgemälde kaufen konnte. Ich hätte mal einen echten Harald Duwe für hundert Mark kriegen können, aber das war ein Portrait von Klaus Matthiesen. Wer hängt sich sich den Mann mit der Schifferkrause ins Wohnzimmer? Und die Geschichte steht schon auch schon in dem Post Hannelies Taschau.

Dieses Bild hing bei Hans Fander im Wohnzimmer, er hatte es selbst gemalt. Ich hielt es für sein bestes Bild. Das wusste er, deshalb hat er eine kleine Kopie davon anfertigen lassen. Auf magnetischem Metall, damit ich es mir an den Kühlschrank kleben kann. Da klebt es nun, aber ich nehme es immer mal ab, um die Nikolaikirche und die Howaldt Kräne zu bewundern. Das Bild und meine kleine Kopie sind viel, viel besser als diese Internet Abbildung. Bilder sind meistens besser als ihre Abbildung. Wenn irgendwann mal jemand vorbeikommt, der ein neues Luxushandy hat, das auch die stürzenden Linien vermeidet, dann zwinge ich ihn, alle meine Bilder zu photographieren. Und dann bekommt jedes einen Post. Auch die selbstgemalten. Eins davon ist schon hier zu sehen, hat aber leider stürzende Linien.

Sonntag, 6. August 2023

der blaue Koffer

Ich habe vor Monaten geschrieben, dass ich jetzt Krieg und Frieden zum dritten Mal lese, und das in der Übersetzung von Barbara Conrad. Ich lese ja noch neben dem Schreiben, aber vieles bleibt liegen. Was mir ein schlechtes Gewissen macht. Ich bin von Lesern gefragt worden, ob ich nicht mal etwas über Walter Kappacher schreiben könne. Das wollte ich auch, und er wird immerhin in die richtigen Männer schon mal erwähnt. Woraus sie folgern können, dass ich Kappachers Roman Der Fliegenpalast gelesen habe. Vor fünf Jahren habe ich in dem Post Lesedefizite geschrieben:

     Ich komme mit der Lektüre von der Strudlhofstiege nicht voran. In der Zeit, in der ich hundert Seiten von Heimito von Doderer lese, schaffe ich drei Romane von Joseph Roth. Manche Österreicher sind sperrig. Den Mann ohne Eigenschaften habe ich letztens noch einmal zu lesen versucht, ging nicht. Dagegen war Brochs Tod des Vergil, den ich noch einmal las, ein Klacks. Aber jetzt habe ich etwas Neues entdeckt: Walter Kappacher. Der ist in diesem Jahr achtzig geworden und schreibt seit beinah einem halben Jahrhundert. Ist an mir vorbeigelaufen, ist mir peinlich. Aber im neuen Jahr, da schreibe ich über ihn. Das habe ich mir fest vorgenommen.

Habe ich wieder nicht getan. Weil immer wieder irgendetwas dazwischen kommt. Aber ich möchte aus der Strudlhofstiege das schöne Gedicht zitieren, das dem Roman vorangestellt ist:

Wenn die Blätter auf den Stufen liegen 
herbstlich atmet aus den alten Stiegen 
was vor Zeiten über sie gegangen.
Mond darin sich zweie dicht umfangen 
hielten, leichte Schuh und schwere Tritte, 
die bemooste Vase in der Mitte 
überdauert Jahre zwischen Kriegen.
Viel ist hingesunken uns zur Trauer
und das Schöne zeigt die kleinste Dauer.


Nein, es kommt immer wieder etwas dazwischen. Also zum Beispiel so ein schräges Buch wie Altweibersommer, schräge Bücher sind bei mir immer gut aufgehoben. Selbst ein Ekel wie Céline hat in seinen Romanen große Momente (und hier im Blog zwei Posts: deux histoires d'amour und Louis-Ferdinand Céline). Vor einem halben Jahr hat mir Alban Nikolai Herbst einen Kommentar zu dem Post amour fou geschickt und mich darauf aufmerksam gemacht, dass Gerd-Peter Eigners unveröffentlichter Roman Der blaue Koffer: Ein Werdegang jetzt erschienen ist: Wie gut, daß es diesen Ihren Text gibt, den ich soeben erst gefunden habe. Ein kurzer Hinweis, der Sie, hoffe ich, interessieren wird: Gerd-Peter Eigners nachgelassener ich nenne ihn einmal Werdensroman "Der blaue Koffer" ist. herausgegeben von Christoph Haacker und mir, soeben im Arco Verlag erschienen. Unbekannter weise grüßt ANH.

Dass ein berühmter Mann wie Alban Nikolai Herbst meinen Blog liest, ehrt mich natürlich. Alban Nicolai Herbst hatte nach Eigners Tod in seinem Blog eine sehr schöne Würdigung veröffentlicht. Dass Der blaue Koffer erschienen war, wusste ich schon, aber die 32 € waren mir zu teuer. Ich dachte, ich warte noch, der Preis wird sicher fallen. Es ist ja traurig, dass Gerd-Peter Eigner kein Erfolgsautor ist. Hans Christoph Buch sprach in seiner Rezension von einer gewissen Sperrigkeit des Stils, den hat Eigner beinahe immer. Außer in Brandig. Mit dem Warten war das richtig, weil ich den Roman jetzt für zwölf Euro bekommen habe.

Doch das bedeutet wieder sechshundert Seiten lesen. Vierundsiebzig Jahre eines Lebens, das ihn aus dem Flüchtlingslager in Schlicktown nach Bremen, Paris, Kreta und Italien führte. Er hat sich in der Welt herumgetrieben, war einmal Gelegenheitsarbeiter in Les Halles in Paris. Mit dem Herumtreiben hat er das nicht so gesehen, er hat sich als Seßhafter in verschiedenen Ländern und Orten bezeichnet. Ich habe nicht alles von Eigner gelesen. Brandig habe ich damals aus einem Grabbelkasten gefischt, das war derselbe Grabbelkasten, in dem auch Irina Liebmann lag. Manchmal habe ich das Gefühl. dass ich meine ganze Bildung nur den Grabbelkästen verdanke. Brandig halte ich für einen genialen Roman, das habe ich wohl schon in dem Post amour fou deutlich gemacht. Ich beschloss damals, an dem Autor dranzubleiben. Was nicht immer leicht war. Wegen der Sperrigkeit des Stils. Es gab im Internet einmal tolle Seiten über Gerd-Peter Eigner, aber eines Tages waren die plötzlich alle verschwunden. Sie sind jetzt in der Way Back Machine von Internet Archive wieder aufgetaucht. An dieser Stelle sind auch die Erzählungen von Hans Fander gerettet, ich bin immer dankbar, dass es im Internet solche Seiten gibt.

Ich lasse den blauen Koffer noch eine Zeit ungeöffnet und lese erst einmal in Krieg und Frieden weiter. Das gibt Ruhe und Sicherheit. Und Geborgenheit in einer Welt, die ich durch zweimalige Lektüre schon kenne. Der Schriftsteller Gerd-Peter Eigner hatte 1971 angefangen zu schreiben, sein letztes Buch Der blaue Koffer ist ein unvollendetes Werk. Wenn ich eine Empfehlung geben sollte, wie man sich dem Autor nähern soll, dann würde ich sagen, lesen Sie Brandig. Worüber ein Rezensent schrieb: Wer Gerd-Peter Eigners Roman 'Brandig', der in diesem Herbst bei Hanser erschienen ist, nicht lesen will, muß sich von mir auf den Kopf zusagen lassen, daß er eine der wesentlichsten Neuerscheinungen des Jahres 1985 verpaßt und verpassen will, also nichts von Literatur versteht. Die den Roman in den höchsten Tönen lobenden Rezensionen finden Sie hier rechts auf der Seite zum Anklicken. Wenn Ihnen die Geschichte einer amour fou gefallen hat, dann lesen Sie alles, was auf den Seiten der Way Back Machine steht. 

Gerd-Peter Eigner ist ein in Deutschland – leider – relativ unbekannter Autor. Und das war – leider – schon zu Lebzeiten Eigners der Fall. Was auch daran liegen mochte, dass Eigner ein schwieriger Autor war. Vor allem aber liegt es daran, weil es eine Literatur ist, die aufgrund ihres Formbewusstseins nicht einfach und leicht zugänglich ist. Das schreckt ab. Es bleibt zu hoffen, dass »Der blaue Koffer« zur Wiederentdeckung Eigners beiträgt, sagt Lars Hartmann in einer schönen Besprechung von Der blaue Koffer. Eigner hat Literaturpreise bekommen, 2009 den Eichendorff Preis, 2010 den Nicolas Born Preis und 1979 einen Aufenthalt in der Villa Massimo. Er hat in den führenden literarischen Organen exzellente Kritiken für sein Werk bekommen, aber er entzog sich dem Literaturbetrieb. War nie im Rampenlicht, war in keinen Talkshows. Schriftsteller werden heute im Fernsehen gemacht, wir leben in einer seichten Zeit. Ildikó von Kürthys Werk ist literarisch von geringem Wert, aber ihre Auflagen gehen in die Millionen. Das wird Eigner nie erreichen, seine Romane werden bei ebay zu sehr kleinen Preisen angeboten. Was natürlich eine Chance für den Leser ist, diesen Autor zu entdecken. Ich kann da noch Lichterfahrt mit Gesualdo und Die italienische Begeisterung empfehlen.

Verwahrloser Wenn sie ihn fragten wer bist du gewesen antwortete er der der ich bin der mir Unbekannte der mir ein Leben lang erzählt hat sein Leben der nicht aufhört sein Leben der nicht stockt und wissen läßt wo er stolperte irrte stürzte auf die Schnauze fiel sich die Nase blutig schlug sich erbrach und im Erdkreis den er unter sich begrub verbiß ausriß das Gras und den Sand fraß und sich erhob und im Wanken zertrat die Angst den Wurm den er zum Himmel geschissen hatte im Sturz dem Aufruhr seines Gedärms Der Wanderer der Fliehende nie Fliegende nie Kriechende der Wegtaucher unter den Brücken die sie ihm bauten der Brandstifter kein Brecher kein Rächer ein Gezüchtigter ein Gezeichneter vielleicht der Spieler Verspieler der der sich aufbäumt im Bett der Gewißheit ein Schlafloser und Ordnungsliebender Verwahrloser der der er war

Das steht in dem Gedichtband Mammut, über den Alban Nikolai Herbst natürlich auch geschrieben hat, den gibt es leider nicht preiswert. Ich habe aber in dem Post amour fou daraus das Gedicht Geliebte zitiert.

Donnerstag, 3. August 2023

Adapter


Mein Fernseher zickte rum, irgendetwas stimmte mit der Lautstärke nicht. Mal war der Ton lauter, mal leiser. Wenn man Horst Lichter sieht, ist das eigentlich egal. Aber wenn man mal auf arte einen guten Film sehen will (was bei dem grauenhaft schlechten Programm seit den Corona Tagen selten vorkommt), dann stört das schon. Mein Fernseher ist schon ziemlich alt, ein großes Röhrengerät der Firma Metz. HD kann er schon, alles andere noch nicht. Was LED, LCD und OLED bedeuten, ist ihm fremd. Mir auch. Der Fernseher ist auch schon ein paar Mal repariert worden, immer von derselben Firma, bei der ich ihn gekauft habe. Deren Monteure kenne ich alle seit Jahren, die haben mir schon ihr halbes Leben erzählt. Das mit der flatterigen Lautstärke war neu. Brauchte ich einen neuen Fernseher? Lohnte sich eine Reparatur? Ich guckte mir die Preisliste für Metz Fernseher an. Etwas abschreckend in den Preisen. Ich könnte mir natürlich bei MediaMarkt oder einem ähnlichen Laden einen neuen preiswerten Fernseher mit Flachbildschirm kaufen, aber ich liebe meinen großen alten Kasten. Die Flachbildschirme haben keinen so guten Klang, nur bei Loewe soll das anders sein. Made in Germany ist teuer. Die Metz Geräte haben immer einen guten Klang, wahrscheinlich auch bei den Flachbildschirmen. Gut, meiner im Augenblick nun allerdings nicht. 

Mein Fernseher steht auf dem Boden, da kann sich etwas lockern, wenn man dran vorbeigeht. Ich zog den Adapter heraus, der meinen Fernseher mit dem Technisat Empfänger verbindet. Steckte ihn wieder hinein, erstklassiger Ton. Dass ich diesen Adapter habe, verdanke ich mir selbst und dem Internet. Ich hatte mir, als das Digitalfernsehen eingeführt wurde, einen Technisat DVB T2-Receiver bestellt, weil der gute Testberichte hatte. Und mein Händler das Gerät auch empfahl. Aber das ließ sich nicht an die Scart Buchse des Fernsehers anschließen; der Monteur installierte ein billiges Gerät, das einen Scart Anschluss hatte. Es war wirklich billig, nichts funktionierte richtig, jeden Tag waren die Programme an einer anderen Stelle. Das Teil hatte bei Amazon hunderte schlechter Bewertungen bekommen, die Firma hatte versprochen, ein neues fehlerfreies Programm aufzuspielen. Was offenbar nie geschah.

Ich dachte einige Zeit nach, und überlegte mir, dass es doch irgendeinen Adapter geben müsste, der das eine System mit dem anderen verbinden kann. Scart, was früher toll war, ist offenbar nicht mehr in. Und siehe da, es gab einen Adapter, der ist hier auf dem Bild. Es hat mich fünf Minuten im Internet gekostet. Und das kleine Zaubergerät kostete auch nur acht Euro. Ich rief die Firma an und sagte, dass es zu dem Digital Empfänger von Technisat einen Klinke-auf Scart Adapter gäbe. Sie hatten noch nie etwas davon gehört. Ob ich ihnen die Internetseite zuschicken könne? Tat ich. Zwei Tage später kam der Monteur mit dem Technisat Gerät und dem Adapter. Stöpselte die drei Klinken in die Klinkenbuchsen, und dann den Adapter in die Scartbuchse des Fernsehers, und die TV Welt war wieder in Ordnung. Das Ganze wurde nicht berechnet, und ich erfuhr, dass die Firma das schrottige Gerät, das mich vier Tage lang genervt hatte, aus dem Angebot genommen hatte. Eigentlich hätten Sie mir noch ein Honorar zahlen müssen, weil sie von mir etwas gelernt haben. Dafür, dass ich von Elektrik und Elektronik überhaupt nichts verstehe, fand ich mich ziemlich schlau. Wenn mein Metz eines Tages seinen Geist aufgibt und nicht mehr repariert werden kann, kaufe ich mir wieder bei denen einen neuen. Und erinnere sie an den Adapter, dann kriege ich den Fernseher bestimmt billiger.

Sonntag, 30. Juli 2023

Martin Walser ✝

Ich muss gestehen, ich mochte ihn. Er war so herrlich unangepasst. Legte sich ständig mit den Fuzzies vom Feuilleton an. Statt ihnen wie Harold Pinter zu sagen, dass Literaturkritiker wie einbeinige Weitspringer sind, die es aber immer wieder versuchen. Martin Walser hatte seine eigene Meinung, die manchmal überhaupt nicht politically correct war. Nicht so weichgespült, stromlinienförmig, teflonartig, wie neuerdings Autoren daherkommen. In seinen Tagebüchern von 1979 bis 1981 findet sich der Satz: Wenn einer schreibt, bis er stirbt, wenn er sich unmöglich benimmt, benimmt er sich richtig. Er hat sich daran gehalten, mit dem Schreiben und dem Benehmen. An das Ende eines Aufsatzes zu Robert Walser hat er einen Satz von Robert Walser gestellt, den er sicher für sich beanspruchte: Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich. 

Dass er jemanden wie Reich-Ranicki in einen Roman hineingeschrieben hat und dort sterben lässt, fand ich ziemlich albern, auch wenn er noch so sehr unter dessen Angriffen gelitten hat, wie man in seinen Tagebüchern nachlesen kann. Der Roman Tod eines Kritikers war noch nicht auf dem Markt, da urteilte Reich-Ranicki: Walser hat noch nie so ein erbärmliches Buch geschrieben. Warum den einbeinigen Weitspringer Reich-Ranicki aufwerten? Ich habe den ja an hier schon einmal beleidigt, und ich stehe dazu. Selbst wenn mir das manche Leser persönlich übelgenommen haben. You can't win them all. Walser hatte als Autor viele gegen sich, die FAZ  und die Bild Zeitung. Wahrscheinlich hätte ihm der Satz gefallen, den Flaubert 1872 an Turgenjev schrieb: Ich habe immer versucht, in einem Elfenbeinturm zu leben; doch eine Flut von Scheiße schlägt an seine Mauern, so dass sie einzustürzen drohen.

Dass Walser einmal Ernst Jünger (von Basti Schweinsteiger ganz zu schweigen) gut fand, hat mich überrascht. Na ja, er war eben unberechenbar. Niemals everybody's darling. Was der Engländer Jeremy Clarkson für die Welt der Autos ist, ist Dr Walser für die Welt der Literatur. Und sie haben eben richtig gelesen, Martin Walser hat einen Doktortitel. Er hat seine Doktorarbeit über Franz Kafka geschrieben, die er bei der Hölderlin Koryphäe Friedrich Beißner 1951 einreichte. Dem hat er auch 1970 seine Rede Hölderlin zu entsprechen gewidmet. Im Abdruck in der Zeit findet sich noch der Satz: Meinem Lehrer, dem Hölderlin-Forscher Friedrich Beißner, gewidmet. Ich habe die Rede hier im Volltext.

Er ist nicht bei Kafka geblieben: Als ich, um meine Mutter nicht zu enttäuschen, eine Dissertation schreiben sollte, blieb mir nichts anderes übrig, als über den Autor zu schreiben, der mich während meiner Studentenjahre gehindert hatte, andere Autoren wirklich zu lesen: Franz Kafka. Aber als ich über ihn schreiben wollte, stellte sich heraus, daß ich ihn nicht verstanden hatte. Mit diesem charmanten Geständnis beginnt der sehr lesenswerte kleine Band Des Lesers Selbstverständnis: Ein Bericht und eine Behauptung. Der macht jedem Leser Mut, man kann auch ohne Kafka durchs Leben kommen. Ich hatte einmal eine schwere Kafka Phase, aber ich habe sie schnell überwunden. Sie hat mich nicht gehindert, andere Autoren wirklich zu lesenNachdem ich in Hamburg Walter H. Sokels Vorlesung über Kafka, Musil und Broch gehört hatte, habe ich meine schöne Vorlesungsmitschrift sorgfältig weggelegt, das war's. Ich habe später noch Klaus Wagenbach über Kafka gelesen, aber wenn ich eine Top Ten Liste der Literatur aufstellen sollte, Kafka wäre da nicht drauf. Aber so einfach wie ich hat Walser den unseligen Einfluss von Kafka nicht abschütteln können, noch sein erstes Werk Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten erinnerte alle Rezensenten an Kafka. Ein Kafka Schüler kämpft sich frei, schrieb Hans Egon Holthusen. Glücklicherweise für mich als Leser hat Walser dann aber irgendwann den Einfluss Kafkas abgestreift.

Martin Walser ist im Alter von sechundneunzig Jahren gestorben, das ist ein langes, erfülltes Leben. Ich habe einen Blick ins Bücherregal geworfen, wo Martin Walser friedlich und einträchtig neben Robert Walser steht. Er hat ja auch über seinen Namensvetter geschrieben und zum hundertsten Geburtstag von Robert Walser in Zürich eine Rede mit dem Titel Der Unerbittlichkeitsstil gehalten. Das weiß ich, weil ich die Schallplatte habe, die Suhrkamp 1978 herausgebracht hat. Die Rede (auch in dem Band Liebeserklärungen abgedruckt) provozierte offensichtlich keinen Skandal. Manche seiner Reden schon. Man überlegte es sich zweimal, ob man ihn einladen sollte, pflegeleicht war er ja nicht. Was war dem Stiftungsrat, der Walser 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen hat, eingefallen, als man den Herrn Dr Schirrmacher für die Laudatio auswählte? Schirrmacher, der Walser, wie sein Vorgänger bei der FAZ Reich-Ranicki, immer wieder attackiert hat, hat wie Walser über Kafka promoviert. Allerdings hat sein Doktortitel einen sehr, sehr faden Beigeschmack. Die Dissertation war zuerst eine Magisterarbeit und wurde von Frank Schirrmacher in kürzester Zeit - also in der Zeit, in der Stendhal La Chartreuse de Parme geschrieben hat - zur Dissertation umgeschrieben. Und an einer anderen Uni eingereicht. Seriöse Universitäten würden dieses Verfahren nicht akzeptieren.

Die Rede Walsers geriet in der Presse zum Skandal, erschien als so etwas wie die Jenninger Rede oder das Gedicht Was gesagt werden muss von Günter Grass. Weil er gesagt hat: Das fällt mir ein, weil ich jetzt wieder vor Kühnheit zittere, wenn ich sage: Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets. Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft? Am besten beschrieben hat die Rede und die nachfolgende Debatte Jan Philipp Reemtsma in der TAZ, es lohnt sich, das zu lesen. Reemtsma zitiert da auch aus einem Gespräch von Walser mit Ignatz Bubis, die Sätze: Wissen Sie, was Sie einmal gesagt haben, Sie haben gesagt, der Walser will seinen Seelenfrieden. Hätten seine Vorfahren dafür gesorgt, dass die Juden nicht umgebracht wurden, hätte er seinen. Herr Bubis, das sage ich Ihnen: Ich will meinen Seelenfrieden, verstehen Sie. Und wie ich ihn kriege, das ist in mir, das ist mein Gewissenshaushalt. Und da lasse ich mir von niemandem, auch nicht von Ihnen, dreinreden. Oder ich pfeife drauf, dann schenke ich es Ihnen

Ich habe zentimetermäßig mehr Bücher von Martin Walser als von Robert Walser, was wohl daran liegt, dass Martin Walser mehr geschrieben hat. Beängstigend viel. Da war er wie sein amerikanischer Kollege John Updike. Aber ich muss natürlich auch sagen, wo ich eben den Zollstock aus der Hand gelegt habe, dass man Robert Walser nicht nach Zentimetern messen kann. Martin Walser wahrscheinlich auch nicht, nicht alles, was er schrieb, ist wirklich gut. Robert Walser hat aber definitiv den besseren Wikipedia Artikel. Der Martin Walser Artikel zeichnet sich dadurch aus, dass er wenig über den Schriftsteller Walser sagt, aber alles über die öffentliche Person MW. Ja, wir haben schon unsere Schwierigkeiten mit einem Schriftsteller wie Walser. Statt ihn zu lesen und über sein Werk zu reden, stellen wir doch erst einmal solche Verdächtigungen in den Raum wie: DKP, Antisemit, Nazi. Wird die Rezeption eines Schriftstellers heute schon von der Bild Zeitung orchestriert? Die Literaturkritik ist hierzulande ja leider auf keinem hohen Niveau. Das Erstaunliche ist, dass Luschen wie Raddatz, Reich-Ranicki, Karasek und Schirrmacher bei uns für Koryphäen der Literaturkritik gehalten wurden. Es ist ja eine Tragödie für den Kulturteil der FAZ gewesen, dass sie einen so hervoragenden Mann wie Karl Heinz Bohrer hat gehen lassen und statt seiner Reich-Ranicki und dann Schirrmacher einstellte.

Ich besitze nicht nur viele Romane von Martin Walser (und sein Theaterstück Das Sofa), ich mag auch den Literaturkritiker Martin Walser. Weil er so vernünftig ist. Und Eigenschaften hat, die man sonst eher bei anglo-amerikanischen Kritikern findet: Sachkenntnis, common sense und Humor. Er ist einer der ganz wenigen gewesen, der schon früh die Qualität des Werks von Albert Vigoleis Thelen erkannt hat. Walsers kleine Schrift Des Lesers Selbstverständnis (auch in dem Band Zauber und Gegenzauber enthalten) kann ich uneingeschränkt zur Lektüre empfehlen, ich habe sie hier im Volltext. Walser schreibt da, dass er über seine Wirkung als Schriftsteller überrascht war: Inzwischen bin ich Adressat von Schülerpost und erfahre so, daß im Deutschunterricht Schülerinnen und Schüler darin geübt werden, die Bedeutung von Büchern zu entdecken, die ich geschrieben habe. Der Lehrer weiß offenbar die Bedeutung, darf sie aber den Schülern nicht sagen. Ich weiß, meinen die Schüler, die Bedeutung. Findige Schüler rufen mich abends an oder schreiben mir.

Ebenso zu empfehlen ist die wunderbare Beschreibung seiner Entdeckung von Hölderlin in einem zerfledderten Bändchen auf dem Dachboden, die Hölderlin auf dem Dachboden heißt (in dem Suhrkamp Band Erfahrungen und Leseerfahrungen). Er schreibt da über Holderlins Gedicht HeimkunftDas ist wahrscheinlich die Wirkung gewesen: das Gedicht als Baedeker, und dann die Entdeckung, daß die Dinge Schatten werfen, zurück in die Vergangenheit und irgendwohin, wo man lediglich mit Ahnungen tasten kann, heute weiß man, daß es die Zukunft war. Auch die drei Seiten über Leslie Fiedler (Mythen, Milch und Mut) sind nicht zu verachten, und ich wäre dankbar gewesen, wenn ich schon vor einem halben Jahrhundert Walsers Leseerfahrungen mit Marcel Proust entdeckt hätte. Wo sich solch ein Satz findet: Mir ist in einer solchen Situation einmal eingefallen, daß ich, wenn Proust ein Industrieartikel wäre, zu dem Slogan raten würde: Proust-Leser sind im Vorteil. 

Der Bodensee war seine Heimat, den hat er in die Literatur hinein geschrieben. Auf die Frage, was ihm der See bedeutete, in dem er bis ins hohe Alter schwamm, hat er geantwortet: Lebenslänglich. Wie eine Strafe, aber das Gegenteil. Aber lebenslänglich. Über seine Heimat hat er immer wieder geschrieben, Heimat, das ist sicher der schönste Name für Zurückgebliebenheit, sagt er 1968 in seinem Essay Heimatkunde. Die Journalistin und Schriftstellerin Susanne Klingenstein, die den Bodensee in ihrer Jugend kennengelernt hatte, hat Walser auf einer Lesereise begleitet. Und dann das Buch Wege mit Martin Walser: Zauber und Wirklichkeit veröffentlicht. Über die Bodenseelandschaft hat sie in einem Interview gesagt: Die Intensität, mit der man hier lebt. Wie stark die Menschen mit dem Land und der Sprache verbunden sind. Wie stark die Landschaft Literatur geworden ist. Als der Kunsthistoriker Kurt Badt, der in Bodman lebte, 1940 ins Exil ging, schrieb er aus dem Gedächtnis eine Kulturgeschichte des Bodenseeraums, um sein Heimweh zu bezwingen. So stark wirkt der See. Martin Walser hat aus einem Lebensgefühl große Literatur gemacht, wie Proust, wie Faulkner, und das hat mich völlig in Bann geschlagen. Dass sie den Kunsthistoriker Kurt Badt erwähnt, der keine Stelle an einer deutschen Universität bekam und Obstbauer am Bodensee wurde, bevor er nach London ins Exil ging, finde ich sehr interessant. Über den hätte Walser ja einmal schreiben können, denn Badts im Exil geschriebenes Buch Mir bleibt die Stelle lieb, wo ich gelebt: Erinnerungen an den Bodensee ist vielleicht die erste literarische Liebeserklärung an die Seelenlandschaft Bodensee.

Er war der letzte deutsche Großschriftsteller, mit ihm geht die literarische Welt der alten Bundesrepublik endgültig unter, sagt die Welt. Das Wort groß haben beinahe alle Nachrufe im Feuilleton benutzt, aber sie meinen damit nicht großartig, sondern die Zahl der Bücher. Das Wort Großschriftsteller besagt wenig, Karl May war ein Großschriftsteller. Und selbst Balzac war nicht immer großartig. Ich habe nicht alles von Walser gelesen, vielleicht habe ich etwas verpasst. Aber einen wirklich großen Roman suche in in meinem Bücherregal vergeblich. Also so etwas wie Die Rote von Andersch oder Ein weites Feld von Grass. Als ich Ende der sechziger Jahre Ehen in Philippsburg las, merkte ich mir den Namen des Autors, hatte aber nicht das Gefühl, dass hier eine Revolution der deutschen Literatur bevorstand. Ehebruchsromane gibt es genug, und an Flauberts Madame Bovary, Tolstois Anna Karenina und Fontanes Effi Briest kommt Walser nicht heran. Ich schätze Walsers Tagebücher, seine Essays zur Literatur, alles Autobiographische, aber über die Qualität der Romane bin ich mir nicht sicher. Obgleich ich Brandung gelungen fand. Aber ich bin eine Minderheitsmeinung, ich bin nicht Reich-Ranicki. Glücklicherweise nicht. Wenn ich mit Sprache zu tun habe, bin ich beschäftigt mit der Verwaltung des Nichts. Meine Arbeit: Etwas so schön sagen, wie es nicht ist, so hat Walser einmal sein Schreiben charakterisiert. Das lassen wir mal so stehen.

Freitag, 28. Juli 2023

Norbert Schwontkowski


Ich weiß nicht, warum der Rainer Gröschl hier noch nie im Blog aufgetaucht ist. Eine Freundin hatte uns miteinander bekannt gemacht, dann hatte ich ihn aus den Augen verloren. Viele Jahre später sprach mich jemand im Supermarkt von der Seite an und sagte: Sie sind doch Jay, der Anglist. Ich drehte mich um, es war Rainer Gröschl, mir fiel sofort die Begegnung von damals wieder ein. Wir redeten vor der Salattheke eine halbe Stunde miteinander. Dass Rainer Gröschl Maler war, das wusste ich noch, aber jetzt erfuhr ich, dass er auch eine Galerie aufgemacht hatte. Ich stehe mittlerweile bei ihm auf der Adressliste und erfahre immer, was es gerade Neues gibt. Und das Neueste war dieses hier, diese Birke ist aus der gerade laufenden Ausstellung, die Verbeugung heißt. Die Birke hat mich ungeheuer fasziniert.

Der Maler Norbert Schwontkowski hat seltsame Dinge gemalt, es ist eine gegenständliche Malerei mit seltsamen, undefinierbaren Räumen, die immer ein wenig geheimnisvoll sind. Immer ist ein wenig Surrealismus in seinen Bildern. Manchmal ähneln seine Himmel dem Himmel von Richard Oelzes Bild Erwartung. Schwontkowski war als Künstler immer anerkannt, aber jetzt zehn Jahre nach seinem Tod scheinen die Preise zu explodieren. 

Das Auktionshaus Ketterer nennt ihn den großen Poeten der zeitgenössischen figurativen Malerei, die müssen so etwas schreiben, an Poeten der Malerei kann man etwas verdienen. Dieses Bild heißt Am Meer, wahrscheinlich es die moderne Version von Caspar David Friedrichs Mönch am Meer. Norbert Schwontkowski kam aus Bremen, genauer gesagt aus Blumenthal. Den Nachbarort kenne ich, weil meine Oma da wohnte. Und Tante Tilla mit meiner Cousine Hannelore. Und mein Vater hatte da mal seine Praxis, als die Amerikaner noch in unserem Haus waren. Schwontkowski hätte ich kennen können, habe ihn aber nie gekannt. Der einzige Maler aus Blumenthal, den ich kannte, war Willi Vogel. Der hat hier schon einen vielgelesenen Post. 

Aber zwischen dem Amateurmaler Willi Vogel, den ein Kritiker mal wohlwollend als den letzten Worpsweder bezeichnet hat, und Norbert Schwontkowski liegen Welten. Schwontkowski hat an den Kunsthochschulen von Bremen und Hamburg studiert. Mein Freund Uwe, der Kunstprofessor in Bremen war, hat ihn wahrscheinlich gekannt. Die erste Einzelausstellung hatte der junge Maler 1973 in der Kunstschau Böttcherstraße im Paula Becker-Modersohn Haus. Ein Jahr später war er schon in der Kunsthalle Bremen vertreten. Wo er 2004 eine große Ausstellung mit dem Titel Kino hatte, dies hier ist das Cover des Katalogs. Das war, sagen die Kritiker, sein großer Durchbruch, jetzt nahm man ihn auch außerhalb Deutschlands wahr. Galerien wie die Berliner Contemporary Fine Arts und die New Yorker Mitchell-Innes & Nash nahmen seine Bilder in ihr Angebot. 

Die Kunsthalle Bremen widmete ihm vor drei Jahren eine Gedenkausstellung mit dem Titel Some of my Secrets. Wenn Sie diese Seite anklicken, gibt es da auch einen kurzen Film über den Künstler zu sehen. Die Bremer Ausstellung wanderte weiter zu den Brandenburgischen Kunstsammlungen in Cottbus und zu der Kunsthalle Erfurt. Dieses Bild heißt Hochwasser. Hat sich der Maler an das Hochwasser der Weser von 1962 erinnert? Das kann er in Blumenthal ja noch erlebt haben.

Schwontkowski hatte immer Sammler, einer war der Proust Experte Reiner Speck, der auch schmales Buch über den Maler verfasst hat. Der wichtigste Förderer in Schwontkowskis Heimatstadt Bremen war Udo Seinsoth, der ein Antiquariat und eine Galerie hatte. Den habe ich gekannt, der taucht in diesem Blog schon in dem Post Uli Becker auf, weil er eine Festschrift für den Dichter Rolf Dieter Brinkmann herausgegeben hat. Die Bremer Weserburg besitzt seit 2019 über zweihundert Werke von Schwontkowski aus der Sammlung Brigitte und Udo Seinsoth. Damit haben sie wahrscheinlich die größte Sammlung des Künstlers, die jetzt mit ständig wechselnden Exponaten gezeigt wird. 2019 wurde auch ein Teil der Sammlung im Worpsweder Barkenhof unter dem Titel visuel poetry gezeigt.

Ein Element seiner Bilder, das sich nicht überall findet, ist Schwontkowskis subtiler Humor. Die Süddeutsche begann ihre Besprechung der Bremer Ausstellung im Jahre 2020 mit den Worten Ein Weiser mit Humor. Ich finde diese Darstellung des Papstes, der einsam in einer eher unheimlichen Landschaft neben seinem Papamobil sitzt, unnachahmlich. Es ist ein Bild eines gläubigen Katholiken; bevor Schwontkowski zu malen behann, wollte er Pfarrer werden. Ein Gemälde von Fra Angelico hat ihn dazu gebracht, Maler zu werden: Ich habe die Bilder früher immer gesehen, aber ich habe sie nicht erkennen können. Irgendwann, da war ich ja schon älter, da hatte ich das Gefühl, es geht ein Lichtschalter an; als ich Fra Angelico gesehen habe, da dachte ich, ich kann alles, ich begreife es, jetzt weiß ich es.

Dieses Bild (Unser kosmisches Leben) zierte den Hamburger Schwontkowski Katalogs von 2013, ein farbiges Wimmelbild von Wörtern und Begriffen. Blind Man's Faith hieß die Hamburger Ausstellung. Ebenso rätselhaft war ein anderes Bild in der Ausstellung Wie die Herde zusammenhalten, wie den Tieren die Wolle nehmen, das einen scheinbar kopflosen Schäfer vor einer Herde von Schafen zeigt, die alle mit den Namen von Malern wie Bosch, Bruegel Goya, Giotto und Vermeer beschriftet sind.  Kurz nach der Ausstellung ist Schwontkowski im Alter von vierundsechzig Jahren gestorben.

Die Ausstellung von Rainer Gröschl bringt Bilder von Norbert Schwontkowski zusammen mit Bildern von seiner Schülerin Miwa Ogasawara, die viel von ihrem Lehrer gelernt hat. Die malerische Welt der in Hamburg lebenden Japanerin ist meistens grau, Schwontkowski kann auch farbig. Dieses Bild hier ist noch einmal ein Schwontkowski, es wurde bei Van Ham für 38.700 Euro verkauft, aber es gibt auch schon Bilder des Malers im sechstelligen Bereich. Die Ausstellung Verbeugung wäre am 30. Juli zuende gewesen, aber Rainer Gröschl hat sie noch eine Woche verlängert. Jetzt ist am 6. August Schluss, da gibt es um 16 Uhr als Finissage noch ein Gespräch mit Miwa Ogasawara  und dem Kunstammler Thomas Kersig, der auch der Ehrenvorsitzende des Stifterkreises der Kunsthalle Kiel ist.

Die Galerie RAINER GRÖSCHL ist in der Holtenauer Straße 59 24105 Kiel Öffnungszeiten: Fr. + Sa. 12:00 bis 20:00 Uhr Sonntag 11:00 bis 15:00 Uhr