Freitag, 4. Juli 2025

Wunderland + Untergrund


In dem deutschen Wikipedia Artikel für den 4. Juli kann man lesen: 1865: Lewis Carrolls Kinderbuch Alice im Wunderland erscheint erstmals im Druck. Steht da, stimmt aber nicht, die Erstausgabe des Macmillan Verlags erschien am 26. November 1865. Wie kommt die Wikipedia auf den 4. Juli 1865? Sie haben da leider etwas verwechselt, so etwas sollte einem Lexikon nicht passieren. Der 4. Juli hat schon eine Bedeutung, aber es ist der 4. Juli des Jahres 1862. Da macht nämlich der Oxforder Professor Charles Lutwidge Dodgson (den wir als Lewis Carroll kennen) eine Bootsfahrt auf der Themse mit den Töchtern seines Kollegen Henry Liddell. Und erzählt ihnen eine phantastische Geschichte, die die zehnjährige Alice Liddell so begeistert, dass sie ihn bittet, die Geschichte aufzuschreiben. Das wird er tun, 
Alice's Adventures in Wonderland wird ein Klassiker der Literatur, der in diesem Jahr seinen 160. Geburtstag feiert. Aber eben nicht am 4. Juli, dem amerikanischen Nationalfeiertag. Wenn Sie zu diesem Tag etwas lesen wollen, dann klicken Sie diesen Post an. Oder lassen Sie es lieber. Das Amerika der Gründerväter hat mit Donald Trumps Amerika nichts mehr zu tun. Der 4. Juli wird für Trump ein schwerer Tag, weil er es in all den Jahren immer noch nicht gelernt hat, die Nationalhymne zu singen.

In der Folge The Soul of Genius der Inspector Lewis Saga hat ein Professor das originale Manuskript von The Hunting of the Snark ersteigert. Als es ihm geliefert wird, nehmen es Inspector Lewis und Sergeant Hathaway entgegen, da der Professor gerade ermordet worden ist. Hathaway, der in Cambridge studiert hat, weiß alles über das Gedicht, Lewis so gut wie nichts. Ich eigentlich auch nicht, aber ich kann Ihnen das Gedicht hier von Jeremy Irons vorgelesen anbieten. Wir können hier sehen, dass das Werk von Lewis Carroll schon in die Populäre Kultur gewandert ist, wo es in Comics, Graphic Novels und Filmen (sogar einem Porno Musical) ein Eigenleben führt. Auch bei Walt Disney ist Alice schon gelandet. Und natürlich in der Popmusik. Und damit fange ich heute mal an:

One pill makes you larger, and one pill makes you small
And the ones that mother gives you, don't do anything at all

Go ask Alice, when she's ten feet tall

And if you go chasing rabbits, and you know you're going to fall
Tell 'em a hookah-smoking caterpillar has given you the call

And call Alice, when she was just small

When the men on the chessboard get up and tell you where to go
And you've just had some kind of mushroom, and your mind is moving low

Go ask Alice, I think she'll know

When logic and proportion have fallen sloppy dead
And the white knight is talking backwards
And the red queen's off with her head
Remember what the dormouse said
Feed your head, feed your head

Erinnern Sie sich noch daran? Ging einem nicht mehr aus dem Kopf, Grace Slick und Jefferson Airplane mit dem White Rabbit. Bis heute nicht vergessen. Es war damals die Zeit der Drogen, die angeblich das Bewusstsein erweiterten. Was zuerst eine Sache für die Dichter gewesen war - ich denke da an Henri Michaux und Aldous Huxley (die mit Meskalin experimentierten) - war jetzt etwas für jedermann. Ich kann da nicht mitreden, ich lehnte dankend jeden angebotenen Joint ab. Pfeifentabak und Whisky reichten mir. Einen kleinen psychedelischen Trip hatte ich aber doch einmal. Mein Hausarzt, ein Freund meiner Eltern, hatte mir Butazolidin wegen einer Sportverletzung verschrieben. Es gab keinen Beipackzettel, die Ärzte behandelten ihre Familien damals untereinander kostenlos. Und meistens mit Warenproben. Ich konnte also nicht lesen, dass man zu diesem Zeug keinen Whisky trinken sollte. Ich sah in der Nacht nur noch rotierende gelbe Kreise, Pizzascheiben des Teufels. Irgendwie fallen mir dazu immer Noel Harrisons The Windmills of Your Mind und Grace Slicks White Rabbit ein.

Ich glaube, dass das Butazolidin heute nur noch bei Pferden verwendet wird, macht aus lahmen Gäulen Rennpferde. Ich habe einmal gelesen, dass Prince Philip es aus dem Pferdestall entwendete, um seine gichtigen Finger damit zu kurieren. Ich weiß nicht, ob er auch Whisky dazu getrunken hat. Meine persönlichen LSD Geschichten sind hier auch schon zu Ende. Bis auf diesen kleinen Zettel, den mir unser witziger amerikanischer Lektor Jack Daugherty einmal vor Jahrzehnten zusteckte. National LSD Day: Mind, how you go! steht darauf, ich habe den Zettel noch immer. Ich nehme an, Jack wollte mich testen, denn der kleine Zettel war in Wirklichkeit ein Gedicht. National LSD Day war der Titel, Mind, how you go! die einzige Gedichtzeile. Man beachte bitte das Komma zwischen mind und how - das war der Gag dieses Einzeilers, den Roger McGough geschrieben hatte. Der Dichter aus Liverpool, der mir einmal ein Buch signierte, ist in diesem Blog mehrfach erwähnt worden, lesen Sie doch einmal die Posts Kathedralen, Pilzköpfe und Delmore Schwartz

Aber kommen wir zurück zu der kleinen Alice: 'Begin at the beginning,' the King said gravely, 'and go on till you come to the end: then stop.' Ich werde beim Ende aufhören, es wird Ihnen nicht gefallen. Und ich habe das One pill makes you larger, and one pill makes you small von Grace Slick nicht vergessen: and she had never forgotten that, if you drink much from a bottle marked "poison," it is almost certain to disagree with you, sooner or later. However, this bottle was not marked " poison" so Alice ventured to taste it and finding it very nice, (it had, in fact, a sort of mixed flavor of cherry-tart, custard, pine-apple, roast turkey, toffy, and hot buttered toast,) she very soon finished it off. "What a curious feeling ! " said Alice, " I must be shutting up like a telescope." And so it was indeed: she was now only ten inches high, and her face brightened up at the thought that she was now the right size for going through the little door into that lovely garden. 

Am 4. Juli 1862 unternahm der Mathematiker und Theologe Charles Lutwidge Dodgson mit seinem Freund, dem Theologen Robinson Duckworth, und drei kleinen Mädchen namens Lorina Charlotte, Alice und Edith Liddell eine Bootspartie auf der Themse. Von Oxford nach Godstow, wenige Kilometer. Der Himmel war bedeckt, aber Jahrezehnte danach erinnerten sich alle an einen golden afternoon. Der Nachmittag war die Geburtsstunde von Alice's Adventures in Wonderland, weil Dodgson anfing, den Gören etwas zu erzählen.

Bootsfahrten mit einem Ruderboot auf Englands Flüssen haben schon allerlei englische Literatur hervorgebracht: Three Men in a Boat von Jerome K. Jerome, The Wind in the Willows von Kenneth Grahame oder Five on a Treasure Island von Enid Blyton. Diese kleine Bootstour der beiden unverheirateten Theologen mit den drei minderjährigen Mädchen bringt uns drei Jahre später (rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft von 1865) das Buch des einen der beiden Ruderer, der sich nun Lewis Carroll nennt. Und die Bootsfahrt auch in einem Gedicht verewigt hat:

A boat beneath a sunny sky,
Lingering onward dreamily
In an evening of July--

Children three that nestle near,
Eager eye and willing ear,
Pleased a simple tale to hear--

Long has paled that sunny sky:
Echoes fade and memories die.
Autumn frosts have slain July.

Still she haunts me, phantomwise,
Alice moving under skies
Never seen by waking eyes.

Children yet, the tale to hear,
Eager eye and willing ear,
Lovingly shall nestle near.

In a Wonderland they lie,
Dreaming as the days go by,
Dreaming as the summers die:

Ever drifting down the stream--
Lingering in the golden gleam--
Life, what is it but a dream?

Wenn Sie genau hinschauen ist es ein Akrostichon, die Anfangsbuchstaben der einzelnen Verse ergeben den Namen Alice Pleasance Liddell. Chief Inspector Morse (der hier einen Post hat) hätte seine Freude an so etwas gehabt. Allerdings finden sich in der gesamten Serie nur zweimal Anspielungen auf Alice in Wonderland, in Cherubim & Seraphim und Driven to Distraction. Bei Inspector Lewis spielt das Werk von Lewis Carroll nicht nur in The Soul of Genius, sondern auch in Allegory of Love, eine größere Rolle.

Die zehnjährige Alice Liddell möchte nach diesem Nachmittag die Geschichte, die Dodgson erzählte, aufgeschrieben haben. Es wird eins der berühmtesten Kinderbücher aller Zeiten. Aber ist es wirklich ein Kinderbuch? Für Lutwidge Dodgson ist es beinahe ein religiöses Buch, so sagt er in seinem VorwortThose for whom a child's mind is a sealed book, and who see no divinity in a child's smile, would read such words in vain: while for any one that has ever loved one true child, no words are needed. 

For he will have known the awe that falls on one in the presence of a spirit fresh from GOD's hands, on whom no shadow of sin, and but the outermost fringe of the shadow of sorrow, has yet fallen: he will have felt the bitter contrast between the haunting selfishness that spoils his best deeds and the life that is but an overflowing love--for I think a child's first attitude to the world is a simple love for all living things: and he will have learned that the best work a man can do is when he works for love's sake only, with no thought of name, or gain, or earthly reward.

Die Zeichnung (oben) von E. Gertrude Thomson mit den drei nackten Mädchen zu seinen Three Sunsets and Other Poems von 1898 hat Dodgson sicher gefallen, zeigt sie doch perfekt dieses verlogene süßliche Kinderbild der Viktorianer. Dodgson schrieb damals an Gertrude Thomson: I confess I do not admire naked boys in pictures. They always seem... to need clothes, whereas one hardly sees why the lovely forms of girls should ever be covered up. Deshalb hat er die Schwester von Alice auch genau so photographiert. Man weiß nicht ganz genau, ob das Photo, das man unlängst in einem französischen Museum fand, wirklich echt ist, aber es spricht vieles dafür. Ah, happy he who owns that tenderest joy, The heart-love of a child! schreibt Carroll in einem GedichtFeed your head.

Darf man ein Kind so photographieren, wie Dodgson das 1858 tut?... watch the way she measures a man with agile studio eyes, with dimpled depravity. Adult emotions of love and grief glissade across the mask of childhood, a childhood that is only skin-deep. It is clever, but it cannot last. Her admirers – middle-aged men and clergymen – respond to her dubious coquetry, to the sight of her well-shaped and desirable little body, packed with enormous vitality, only because the safety curtain of story and dialogue drops between their intelligence and their desire. Das schreibt kein Kommentator dieses lasziven Photos, das schreibt Graham Greene über Shirley Temple.

Diese Filmkritik durfte nicht gedruckt werden (lesen Sie hier mehr dazu), Graham Greene verlässt sicherheitshalber das Land. Der Lord Chief Justice sagt am Ende der Verhandlung: This libel is simply a gross outrage, and I will take to see that suitable attention is directed to it. So etwas darf nicht sein. Shirley Temple als inszeniertes Sexobjekt schon, aber man darf es nicht sagen. Von den viktorianischen Gemälden mit nackten Frauen eines William Etty, den Photographien von Lewis Carroll, der Werbung von Pears Soap (hier im Bild) bis zu Christine Keeler versuchen die Engländer immer einen Schein von Anständigkeit für ihre Schmuddelphantasien zu wahren.

Der Sommer des Jahres 1862 bringt noch ein weiteres literarisches Produkt unseres Oxford Mathematikers hervor, nämlich den Song über Miss Arabella Jones:

'Tis a melancholy song and it will not keep you long,
Tho I specs it will work upon your feelings very strong,
For the agonising moans of Miss Arabella Jones
Were warranted to melt the hearts of any paving stones.
Simon Smith was tall and slim, and she doted upon him,

Die Engländer haben den Nonsens als Literaturgattung etabliert, neben Lewis Carroll ist da noch Edward Lear, der einst der jungen Königin Victoria Zeichenunterricht gegeben hat. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Denn die tiefere Bedeutung hat Alice's Adventures in Wonderland durchaus, hinter beinahe allem steckt eine andere Bedeutung, Wortspiele, Parodien, ein philosophischer Scherz. Das weiß der Sergeant Hathaway, wenn er das Manuskript von The Hunting of the Snark in der Hand hält. Der Inspector Lewis weiß das nicht, der normale Leser meistens auch nicht. Wenn man die Annotated Alice von Martin Gardner (die Alice's Adventures in Wonderland und Through the Looking-Glass mit den originalen Illustrationen von John Tenniel enthält) liest, dann weiß man alles. Da steckt ein halbes Jahrhundert Forschung drin. Man kommt aber bei dem extensiven Nebentext der Fußnoten kaum noch zur Lektüre des Originals. Mind, where you go.

Im Jahre 1921schrieb der englische Schriftsteller J.B. Priestley: Alice in Wonderland and Through the Looking-Glass are, I understand, to be published for the first time in German. When I first learned this important fact, it surprised me for a moment, for I had thought that both these classics had by this time passed into all civilized tongues; but after some little reflection, I soon realized that if they had been popular in Germany, we should have known about it. It is not difficult to imagine what will happen when the Alice books are well known there, for we know what happened to Shakespeare. A cloud of commentators will gather, and a thousand solemn Teutons will sit down to write huge volumes of comment and criticism; they will contrast and compare the characters (there will even be a short chapter on Bill the Lizard), and will offer numerous conflicting interpretations of the jokes. After that, Freud and Jung and their followers will inevitably arrive upon the scene, and they will give us appalling volumes on Sexualtheorie of Alice in Wonderland, on the Assoziationsfähigkeit und Assoziationsstudien of Jabberwocky, on the inner meaning of the conflict between Tweedledum and Tweedledee from the psychoanalytische und psychopathologische points of view. Das wird alles kommen, da kennt Priestley den deutschen faustischen Geist, der alles ergründen will, schon recht gut. Ich mache mir das mit der Rezeption des Werkes einfach und verweise auf das Buch Lewis Carroll - Alice in Wonderland and Through the Looking- Glass von Eberhard Kreutzer. Da steht alles drin, was man wissen will.

Wenn Charles Lutwidge Dodgson am 4. Juli 1862 im Boot die Geschichte von der kleinen Alice erzählt, die sich langweilte - so wie Alice Liddell sich gerade langweilt - dann heißt das nicht, dass er das ganze Buch schon im Kopf hat. Er wird drei Jahre dafür brauchen. Aber das Konzept zu dem Ganzen, das gewinnt er während einer Eisenbahnfahrt nach London. Er wollte die Weltausstellung mit ihrer Wunderwelt besuchen. Er liebte die Eisenbahn. Schon als Elfjähriger hatte er für seine Geschwister ein Eisenbahnspiel ersonnen, das von seinen vielen Geschwistern nach den von ihm festgelegten Regeln gespielt wurde (das Manuskript dazu liegt heute in Harvard). Es ist immer Lutwidge, der die Regeln festlegt, nach denen die Kinder spielen. So beherrscht er sie. Wie er Alice mit seinen Erzählungen beherrschen will - der Zauberer, der Kinder fängt.

Aber, um einen Filmtitel der fünfziger Jahre zu zitieren, sie tanzte nur einen Sommer, da brach der Dean von Christ Church Henry George Liddell die Beziehungen zu Dodgson ab. Hatte er die pädophilen Gelüste seines theologischen Kollegen erraten? Wir werden es nie erfahren, die Erben von Dodgson haben alle Seiten seines Tagebuchs aus dieser Zeit vernichtet. Wir wissen auch, dass Alices Mutter alle Briefe von Dodgson an die kleine Alice beseitigt hat.

I charm in vain; for never again, 
All keenly as my glance I bend, 
Will Memory, goddess coy, 
Embody for my joy 
Departed days, nor let me gaze 
On thee, my fairy friend!


Was immer geschehen ist, die Katze lässt das Mausen nicht. Seit Ende der 1860er Jahre baut er sein Photostudio in seinem College aus, er legt auch Listen seiner Opfer an. Einhundert und sieben Namen stehen darin. Don Giovanni hatte ein wenig mehr: Ma in Ispagna son già mille e tre, aber das waren richtige Frauen, keine Kinder. 1867 macht Dodgson seine erste Nacktaufnahme: Mrs. L. brought Beatrice, and I took a photograph of the two; and several of Beatrice alone, 'sans habilement [sic ]. Beatrice ist Beatrice Hatch, die jetzt sein bevorzugtes Modell wird. Und dann ist da noch ihre Schwester Evelyn, von der er dieses schöne, geschmackvolle Photo macht. 

Bevor Lewis Carroll (hier mit den Kindern seines Freundes George MacDonald) kleine Mädchen photographiert, fragt er die Eltern um Erlaubnis. Mrs Mayhew schreibt ihm, er dürfe ihre drei Töchter photographieren. Aber nicht nackt, nur im Badeanzug. Carroll antwortet: The permission to go as far as bathing drawers is very charming… I can make some charming groups of Ethel and Janet in bathing drawers, though I cannot exaggerate how much better they would look without. Dreitausend Photos soll er gemacht haben, tausend davon sind erhalten. Nicht wenige von ihnen zeigen nackte Mädchen, I cannot exaggerate how much better they would look without. 

An seine kleine Freundin Alice schreibt er, als die heiratet: I have had scores of child-friends since your time: but they have been quite a different thing. Alice nahm 1880 den wohlhabenden Reginald Hargreaves, der ein bedeutender Cricketspieler war, zum Mann. Als ihr drittes Kind geboren wurde (hier Alice Hargreaves mit einer Enkelin), bat sie Dodgson, der Taufpate zu sein. Er lehnte ab. Sie nannte ihren Sohn Caryl, das klingt doch beinahe wie Carroll.

Mabel Amy Burton, die er 1877 als Achtjährige kennenlernte, erinnerte sich As a small child I much disliked strangers, but the personality of this gentleman attracted me and I chatted away with him quite freely. Sie sprach nach seinem Tod von einem irreparable loss in the hearts of many who had been his child-friends. Der irreparable Schaden ist noch größer. Vielleicht sollte man Alice in Wonderland in Malice in Wonderland umbenennen. Auf den Gag war Dodgson selbst auch schon gekommen, so schreibt er 1867 in einem Brief an Agnes Argyle: Dear Miss Dolly, I have a message for you from a friend of mine, Mr. Lewis Carroll, who is a queer sort of creature, rather too fond of talking nonsense. He told me you had once asked him to write another book like one you had read - I forget the name - I think it was about “Malice.” 2015 (da stand der größte Teil dieses Post hier schon einmal) ist nicht nur das Jahr von 150 Jahren Alice, es ist auch das Jahr, in dem dieses Photo vom Reverend Charles Lutwidge Dodgson und der kleinen Alice auftauchte. Muss man noch mehr sagen? Mind, where you go.

Lesen Sie auch:  Charles Lutwidge DodgsonAlicePenelope Boothby

Mittwoch, 2. Juli 2025

Wimbledon


Das Tennisturnier von Wimbledon ist im Gange, und passend dafür hatte der Stern eine 10-seitige Titelstory über Boris Becker. Ich weiß nicht, welche Uhr er da auf dem Photo mit seiner dritten Frau am Arm hat. Die IWC, für die er mal (ebenso wie Jan Ullrich) Markenbotschafter war, ist es auf jeden Fall nicht mehr. Seine IWC Uhren sind alle 2019 bei der Zwangsversteigerung verhökert worden. Viele Tennisspieler wie Roger Federer tragen ja Rolex, und Rolex hat auch ein Modell mit einem Wimbleton Dial im Angebot. Hat dicke grüne römische Zahlen, das Grün soll an den Rasen von Wimbledon erinnern. Sieht furchtbar aus. Man ist bei Rolex stolz, dass sie die Spielzeit messen dürfen: Eine ikonische Kulisse, in der die Rasenplätze jeden Tag auf genau acht Millimeter geschnitten werden und die Spieler eine tadellos weiße Kleidung tragen. Jahr für Jahr werden in Wimbledon zeitlose Rituale gepflegt. Wimbledon ist Schauplatz von Begegnungen der größten Spieler, wobei jedes Match, jede Stille und jeder Grashalm Geschichte schreiben. Die Geschichte des einzigen Grand Slam-Turniers, das auf Gras gespielt wird. Eine Geschichte, die Rolex seit 1978 als offizieller Zeitgeber von Wimbledon miterzählt. Dies Photo ist aber nicht aus Wimbledon, der All England Lawn Tennis and Croquet Club achtet darauf, dass es kaum Werbung auf dem Platz gibt. Im Stadion Roland Garros ist das anders.

Auf dem Weg zu Centre Court passieren die Spieler diese Stelle, wo man lesen kann: If you can meet with Triumph and Disaster / And treat those two impostors just the same. Ob Bumm Bumm Boris das verstanden hat, als er da zum ersten Mal durchging, um auf dem ikonischen Platz zu spielen, auf dem jeder Grashalm Geschichte schreibt? Triumph und Desaster kann jeder auf dem Platz erleben, in Wimbledon oder auf jedem Tennisplatz der Welt. Aber woher kommen diese Zeilen?

Die Zeilen über Triumph und Desaster finden sich in Rudyard Kinplings Gedicht If—, das zum Erstaunen von Kipling sehr berühmt geworden ist: 

If you can keep your head when all about you
Are losing theirs and blaming it on you,
If you can trust yourself when all men doubt you,
But make allowance for their doubting too;
If you can wait and not be tired by waiting,
Or being lied about, don't deal in lies,
Or being hated, don't give way to hating,
And yet don't look too good, nor talk too wise:

If you can dream—and not make dreams your master;
If you can think—and not make thoughts your aim;
If you can meet with Triumph and Disaster
And treat those two impostors just the same;
If you can bear to hear the truth you've spoken
Twisted by knaves to make a trap for fools,
Or watch the things you gave your life to, broken,
And stoop and build 'em up with worn-out tools:

If you can make one heap of all your winnings
And risk it on one turn of pitch-and-toss,
And lose, and start again at your beginnings
And never breathe a word about your loss;
If you can force your heart and nerve and sinew
To serve your turn long after they are gone,
And so hold on when there is nothing in you
Except the Will which says to them: 'Hold on!'

If you can talk with crowds and keep your virtue,
Or walk with Kings—nor lose the common touch,
If neither foes nor loving friends can hurt you,
If all men count with you, but none too much;
If you can fill the unforgiving minute
With sixty seconds' worth of distance run,
Yours is the Earth and everything that's in it,
And—which is more—you'll be a Man, my son!


Ich bin mir nicht sicher, ob das Gedicht (das man sich auch als Sweatshirt kaufen kann) wirklich großartig ist. Oder ob es nur eine Sammlung von spätviktorianischen Plattitüden zum Thema der stiff upper lip der Engländer ist. Da ist das Gedicht im Ton nicht so verschieden von dem Gedicht Vitaï Lampada von Henry Newbolt. Redet so ein Vater mit seinem Sohn? Als Grabschrift für seinen ältesten Sohn, der im Ersten Weltkrieg fiel, hatte Kipling gedichtet: If any question why we died, / Tell them, because our fathers lied. Das ist etwas anderes als dieser Text. T. S. Eliot hielt das Gedicht für große Lyrik und nahm es 1941 in seine Sammlung A Choice of Kipling's Verse auf. Und bei einer Umfrage der BBC war es 1996 das beliebteste Gedicht Englands, some words stay with you forever. Als Pablo Neruda gesehen hatte, dass der Duke of Alba in seinem Palast eine gerahmte Kopie des Gedichts neben seinem Bett an der Wand hängen hatte, sagte er: that pedestrian and sanctimonious poetry, precursor of the Reader's Digest, whose intellectual level seems to me no higher than that of the Duke of Alba's boots. Das gefällt mir.

Es hat zu dem Gedicht, von dem Kipling sagte, dass es in siebenundzwanzig Sprachen übersetzt worden sei, eine Vielzahl von Parodien gegeben. Ich zitiere mal die von Elizabeth Lincoln Otis aus dem Jahre 1931 (With apologies to Mr. Rudyard Kipling). Das ist eigentlich viel netter, weil es hier nicht mehr um viktorianische Machos, sondern um junge Frauen geht:

If you can dress to make yourself attractive,
Yet not make puffs and curls your chief delight;
If you can swim and row, be strong and active,
But of the gentler graces lose not sight;
If you can dance without a craze for dancing,
Play without giving play too strong a hold,
Enjoy the love of friends without romancing,
Care for the weak, the friendless and the old;

If you can master French and Greek and Latin,
And not acquire, as well, a priggish mien,
If you can feel the touch of silk and satin
Without despising calico and jean;
If you can ply a saw and use a hammer,
Can do a man's work when the need occurs,
Can sing when asked, without excuse or stammer,
Can rise above unfriendly snubs and slurs;
If you can make good bread as well as fudges,
Can sew with skill and have an eye for dust,
If you can be a friend and hold no grudges,
A girl whom all will love because they must;

If sometime you should meet and love another
And make a home with faith and peace enshrined,
And you its soul—a loyal wife and mother—
You 'll work out pretty nearly to my mind
The plan that 's been developed through the ages,
And win the best that life can have in store,
You 'll be, my girl, the model for the sages—
A woman whom the world will bow before.

Ich habe hier noch Kiplings Gedicht, gelesen von Michael Caine und gesungen von Joni Mitchell. Und Maya Mo, die ich nicht kenne, liest uns das Gedicht von Elizabeth Lincoln Otis vor. Noch mehr Tennis in den Posts: Tennis, Thomas Hobbes, Weiße Socken, Sommermode, Flanellhosen. Noch mehr Kipling in den Posts: The White Man's Burden, Rudyard Kipling, Somewhere East of Suez, Mandalay

Sonntag, 29. Juni 2025

The Misfits


Heute vor neunundsechzig Jahren heirateten Marilyn Monroe und Arthur Miller, die standesamtliche Trauung dauerte vier Minuten. Aber dann folgte noch eine große jüdische Hochzeit. Die Schauspielerin, die am Anfang des Jahres den Namen Marilyn Monroe angenommen hatte, war jetzt nicht mehr Norma Jeane Mortenson. Vielleicht war sie es noch immer. Der Dramatiker Miller, der für das Theaterstück Death of a Salesman den Pulitzer Preis bekommen hatte, lernte Norma Jean 1951 bei den Dreharbeiten des Elia Kazan Films As Young as You Feel kennen. Damals war er noch verheiratet, aber er war von ihr hingerissen: The sight of her was something like pain, and I knew that I must flee or walk into a doom beyond all knowing. With all her radiance she was surrounded by a darkness that perplexed me. Auch Marilyn war hin und weg: It was like running into a tree. You know, like a cool drink when you’ve had a fever. Sie werden sich nach der ersten Begegnung jahrelang Briefe schreiben. Zur Hochzeit hatte er Marilyn einen goldenen Ring geschenkt, in den A. to M., June 1956. Now is forever eingraviert war.

Die Ehe von Marilyn und dem Schriftsteller hat nicht forever gehalten. Als Marilyn 1961 The Misfits drehte, war die Ehe schon am Ende. Das Drehbuch zu dem Film hatte Arthur Miller nach einer alten Kurzgeschichte geschrieben, er war bei den Dreharbeiten des Films jeden Tag dabei. War auch bereit, für seine Frau einen neuen Text zu schreiben. Dies war sein letzter Versuch, seine Ehe zu retten. Miller lernte bei den Dreharbeiten die Photographin Inge Morath kennen, die schöne Photos wie dieses hier von Marilyn machte. Nach dem Tod von Marilyn heiratete Miller die Photographin, sie hatten zwei Kinder. Die Kinderwünsche von Marilyn waren unerfüllt geblieben.

The Misfits war der letzte Film von Marilyn, es war auch der letzte Film von Clark Gable. John Hustons Film, in dem Marilyn nicht mehr das kleine dumme Blondchen war, sondern eine richtige Frau spielen durfte, fiel beim Publikum und bei den Kritikern durch. Leslie Halliwell höhnte in Leslie Halliwell's Film Guide: a solemn, unattractive pretentious film which seldom stops wallowing in self-pity. Roger Angell, der Fiction Editor des →New Yorker seit den frühen 1950er Jahren, der eigentlich lieber über Baseball schrieb, war noch bösartiger:

It must be clear by now that all my severe doubts about “The Misfits” center on Arthur Miller’s screenplay, which seems to me obtrusively symbolic and so sentimental as to be unintelligent. Let it be admitted that hearts of pure gold (which are what all the principals in the story own) are difficult for a dramatist to set beating with a thud that sounds human, but this is a handicap Mr. Miller has chosen for himself. I wish he had not attempted to pose his valid dramatic questions about the survival of personal goodness in an increasingly cynical and unlovely society in the person of a fallen child and three true-blue buckaroos under a big desert sky, for this romanticism makes his answers false and fundamentally uninteresting. 

What must ensue is some embarrassingly high-flown dialogue (“We’re all blind bombardiers,” says the guilt-smitten former pilot. “I can’t make a landing and I can’t get up to God”) and a landscape peopled with caricatures. When, at the end of the picture, Mr. Gable’s rueful cowboy, the last of the Western giants, ropes and wrestles down the last free stallion and then cuts it loose, we realize with disappointment that we have been on the Plains of Allegory all along and that the drumming of hooves does not obscure the clack of the author’s typewriter.

Mit der Zeit hat sich die Meinung der Kritiker über diesen Spätwestern gewandelt, der Film gilt heute als ein amerikanischer Klassiker. Es ist eigentlich ein schöner kleiner Film, ein trauriger Film. Vor wenigen Jahren ist eine →Szene aufgetaucht, die im Film nicht zu sehen war, da ist Marilyn ein klein wenig nackt. 

Angeblich wäre das, wenn die Szene im Film geblieben wäre, die erste nackte Frau in einem amerikanischen Spielfilm gewesen. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Als Arthur Miller in den fünfziger Jahren zum ersten Mal das Wort lifestyle hörte, gab er ihm keine so großen Überlebenschancen. Er musste zugeben, dass er sich geirrt hatte, das steht so in seiner Autobiographie Timebends. Marilyn und er hatten verschiedene lifestyles, daran ist die Ehe gescheitert. Nach der Scheidung haben sie sich nur ein einziges Mal wiedergesehen. Der Filmtitel The Misfits passte schon für die beiden.


Freitag, 27. Juni 2025

Reprise


Vor fünfzehn Jahren zählte Google meine Leser noch nicht; ich hatte mit denen abgemacht, dass sie mich erst ab dem 1.Juli 2010 offiziell wahrnahmen. Als ich im Januar anfing, wusste ich ja nicht, was werden würde. Würde ich bei diesem Bloggen bleiben oder die Autobiographie zu Ende schreiben? Den Post am 27. Juni 2010 schrieb ich in einem Stück, in einem Tag. Es hätte ein Lexikonartikel in einem Filmlexikon sein können. Mit Melville kannte ich mich aus. Meine Blogadresse hat mit dem loomings den Namen des ersten Kapitels von Moby-Dick. Ich war einen Tag Blogger, da gab es hier schon den ersten Post zu Herman Melville. Es war ein kurzer Post, ich wusste noch nicht, wieviel man als Blogger pro Tag schreiben durfte, ich stelle ihn mal heute noch einmal hier hin:

Der kleine Pip ist der einzige, für den das erkaltete Herz von Kapitän Ahab noch letzte menschliche Gefühle zeigt. Die Mannschaft der Pequod hält Pip für wahnsinnig. Es wäre besser, wenn sie Ahab für wahnsinnig halten würden. Der kleine Pip ist wahnsinnig, seit er über Bord gefallen ist und man ihn allein im Pazifik treiben ließ. Der kleine Pip hat in der Tiefe des Ozeans die Füße Gottes gesehen, wie sie den Webstuhl der Welt treten. Und er hat davon erzählt, deshalb hält man ihn für verrückt: So man's sanity is heaven's sense; and wandering from all mortal reason, man comes at last to that celestial thought, which, to reason, is absurd and frantic; and weal or woe, feels then uncompromised, indifferent as his God. Melville hat seltsame Dinge aus der Bibel herausgelesen. Das hat seine wenigen zeitgenössischen Leser wahrscheinlich mehr verstört als seine komplizierte Syntax.

Ich habe dann längere Posts geschrieben, ich war im Januar 2010 ja noch am Üben, aber irgendwie finde ich diesen Post in seiner Kürze perfekt. Wenige Zeilen, die viel sagen. Der Walfang war mir seit der Kindheit vertraut, nicht nur, weil wir Walkiefer am Utkiek stehen hatten. Die Häuser in unserer Straße hatten beinahe alle Kapitänen gehört (unser Haus auch), von denen viele im 19. Jahrhundert gutes Geld mit dem Walfang gemacht haben. Vieles davon war im Heimatmuseum gelandet. 

Wenn mein Opa dort sonntags die Aufsicht hatte, schloss er das Heimatmuseum um 9 Uhr auf, schloss es aber gleich wieder zu. Und während er unten in den Zimmern, in denen der Nachlass des Afrikaforschers Gerhard Rohlfs aufbewahrt wurde, irgendeiner Tätigkeit nachging, hatte ich eine Stunde Zeit, alle Utensilien zu studieren, die der Walfang in den Ort gebracht hatte. Ich kannte alle Bilder, die an den Wänden hingen und habe jede Harpune des Museums in der Hand gehabt. Melvilles Roman Moby-Dick las ich mit achtzehn, beim ersten Mal in der Übersetzung von Fritz Güttinger. Ich wusste damals nicht, dass ich den Roman noch viele Male lesen würde, weil ich fünfzehn Jahre später der literaturwissenschaftliche Berater für eine Moby-Dick Ausstellung sein würde. Ich stelle heute noch einmal als Reprise den Post über John Hustons Film Moby-Dick hier ein, den 2010 nur wenige gelesen hatten:

Heute vor 54 Jahren hatte John Hustons Moby-Dick Verfilmung Premiere. Fiel, trotz des künstlerischen Aufwandes bei Kritik und Publikum, glatt durch. Man lobte Orson Welles's Auftritt als Father Mapple, aber Gregory Pecks Ahab konnte keinen begeistern. Am wenigsten Leslie A. Fiedler, den wilden Mann der amerikanischen Literaturkritik. Gregory Peck hätte besser den Wal gespielt, höhnte er in seinem Buch Waiting for the End. Fiedler ist ein Mann der wunderbar gewagten Formulierungen, wie jeder weiß, der einmal sein fetziges Buch Love and Death in the American Novel gelesen hat. Fiedler hat auch einmal in einem Vortrag gesagt, dass die einzige überzeugende Frauenfigur in der amerikanischen Literatur der weiße Wal in Melvilles Roman Moby-Dick sei. Er hatte auch kein gutes Wort für John Barrymore übrig, der in den Moby-Dick Verfilmungen von 1926 und 1930 (die von 1930 ist eigentlich nur ein Tonfilm Remake der Version von 1926) den Kapitän Ahab als einen leicht irren John Barrymore gespielt hatte.

Enttäuschte Liebe hat in diesem Film Kapitän Ahab zur Jagd nach dem Wal gebracht, diesen love interest finden wir im Buch ja nun gar nicht, aber Barrymore hatte für seine jeweilige Geliebte das Drehbuch umschreiben lassen. Wer interessiert sich schon für Herman Melville, wenn sich die ganze Welt der Traumfabrik Hollywood nur für John Barrymore interessiert? Dabei hatte sich John Huston mit dem Film große Mühe gegeben, er ist auch einer der wenigen amerikanischen Regisseure, der kommerzielle Interessen (zum Leidwesen der Studios) gegenüber der Originaltreue bei einer Literaturverfilmung zurückstellte. Die junge Journalistin Lillian Ross vom New Yorker hatte Hustons  Dreharbeiten von The Red Badge of Courage begleitet und darüber im New Yorker geschrieben. Die Reportage ist später in Buchform unter dem Titel Picture erschienen.

Es ist eins der besten Bücher, die über eine Literaturverfilmung geschrieben worden sind (man kann es heute noch kaufen und die deutsche Übersetzung Film gibt es bei Amazon ab 0,47 €). Und man merkt bei Ross (die zwei Jahre zuvor im New Yorker die Macho Attitüden von Hemingway demontiert hatte) auf jeder Seite, wie Huston gegen das Studio um den Originaltext kämpft. Huston wird (wie jeder Leser von Moby-Dick) gewusst haben, dass Moby-Dick unverfilmbar ist, aber er hat versucht, das Unmögliche möglich zu machen. Sein Film ist nicht nur eine einfache Abenteuergeschichte. Dafür hat schon sein Drehbuchautor gesorgt, kein Hollywood Profi, sondern Ray Bradbury, der gerade Fahrenheit 451 geschrieben hatte. Und auch für die Filmmusik hatte Huston auf jemanden gesetzt, der nichts mit Hollywood zu tun hatte. Der englische Komponist Philip Sainton schrieb die Musik, die ein wenig an Debussy, Delius und Korngold erinnert. Das Label Marco Polo hat 1998 die Filmmusik auf einer CD herausgebracht. Die Dreharbeiten des Films dauerten drei Jahre, fünfzig Prozent waren Außenaufnahmen in Irland, vor der Küste von Wales und vor Madeira (alles, was im Roman im Pazifik spielt, wurde dort gedreht). Die andere Hälfte wurde in den Elstree Studios in London gedreht. Nichts in Amerika. John Huston, der seit 1947 die Hexenjagd der HUAC Komitees bekämpft hat, ist jetzt irischer Staatsbürger.

Huston hatte sich vor den Dreharbeiten alte kolorierte Stiche und Lithographien aus dem 19. Jahrhundert angesehen. Und er wollte seinen Film trotz der satten Farben von Technicolor bewusst in diesem Stil haben. Sein Kameramann hielt sich an diese Anweisungen, und so gibt es in diesem Film immer eine gewisse Unschärfe und Farben, die eher milchig wirken.

Huston hatte vorher schon mit Ähnlichem experimentiert, bei Moulin Rouge hatte er einen Schwarzweißfilm über den Farbfilm kopiert, was im Ergebnis an eine malerische Technik erinnerte. Und auch in Moby-Dick haben die Bilder häufig etwas Malerisches, einen trüben Lichtschimmer und eine glanzlose Gischt mit der die pessimistische Grundstimmung Melvilles mit einer schleierlosen Kälte, aber nicht ohne den Schimmer düsterer eschatologischer Romantik gezeigt wird (auf jeden Fall so im Verständnis des anonymen Rezensenten, der im ersten Heft der neuen Zeitschrift Filmkritik 1957 den Artikel Melville zum Gruß schrieb). Oswald Morris, der mit Huston schon Moulin Rouge gedreht hatte (und noch in vielen Filmen sein Kameramann sein wird), hat das Filmmaterial beim Entwickeln nachbehandelt, bis er diese milchigen Pastelltöne hinbekommen hat.

Eigentlich hätte man das Ganze auch gleich in Schwarzweiß drehen können. Ray Bradbury war mit seiner Familie nach Irland zu Huston gezogen. Er hatte Huston in Kalifornien kennengelernt, und er hatte einmal als junger Autor auf die Frage Wann schreibst Du denn mal ein Drehbuch? die scherzhafte Antwort gegeben Wenn John Huston mich anruft. Nun hatte John Huston angerufen. Bradbury war nicht zuhause gewesen, weil er mit seinem Freund Ray Harryhausen in den Antiquariaten von Venice herumstöberte, auf der Suche nach Büchern über Monster. Wir sind in den frühen fünfziger Jahren, da gibt es noch nicht so viele Bücher über Monster. Das hat sich heute geändert. Und alles, was Ray Harryhausen für die Welt der filmischen Monster erfunden hat, braucht man heute nicht mehr. Ich habe Ray Harryhausen einmal kennengelernt und ihn mit einer kleinen Einleitung dem Publikum vorgestellt. Dafür durfte ich dann auch bei seinem Vortrag neben ihm sitzen und hatte einen Logenplatz, als er ein kleines hochkompliziertes Monster nach dem anderen aus seinem Koffer holte. Die kleine mechanische Eule, die in Clash of the Titans (1981) durchs Bild saust, ich habe sie in der Hand gehabt. Das war ein netter Abend. Warum Bradbury Huston seinen Freund Harryhausen nicht als Trickfilmspezialisten empfohlen hat, weiß ich nicht. Die beiden Rays sind heute immer noch Kumpel (sie werden in diesem Jahr beide neunzig Jahre alt).

Aber als John Huston zum zweiten Mal anrief, war Bradbury zuhause. Musste allerdings zugeben, dass er den Roman noch nie gelesen hatte. Von dem Abend an hat er für das nächste Jahr nichts anderes mehr getan, eines Tages guckte er morgens in den Spiegel und sagte: I am Herman Melville. Und schrieb den Rest des Drehbuchs. Hat er in einem Interview gesagt, aber er hat viele widersprüchliche Dinge über seine Zusammenarbeit mit Huston gesagt. In dem Interview mit Sight & Sound 1974 hat er auch gesagt, dass Gregory Peck eine Fehlbesetzung war.

Gut, wir haben ihn ja alle lieber als Captain Hornblower (links), aber war er wirklich so falsch als Ahab? Ist Patrick Stewart vom Raumschiff Enterprise 1998 besser? In dieser Verfilmung durfte der Ahab von 1956 den Father Mapple spielen. Bradbury lenkt mit solchen Sätzen davon ab, dass sein Drehbuch den Text von Moby-Dick an entscheidenden Stellen elementar verändert hat (der Filmkritiker Brandon French fand das in Lost at Sea katastrophal). Ich glaube manchmal, dass Peck gegen Bradburys Text noch etwas von Melvilles Ahab zu retten versuchte. Aber es steht fest, dass Huston Peck nicht gewollt hat, den hatte ihm das Studio (Warner Bros.) aufgedrückt, damit wenigstens ein bekannter amerikanischer Schauspieler im Film war. Wäre der Film besser geworden, wenn er länger geworden wäre? Sergei Bondartschuk nimmt sich für Krieg und Frieden 484 Minuten Zeit, Moby-Dick ist (bei gleicher Länge des Romans) nur 116 Minuten lang. Es wird niemandem gelingen, Prousts Suche nach der verlorenen Zeit zu verfilmen. Obgleich Raoul Ruiz Le temps retrouvé (1999) sicher als gelungen zu bezeichnen ist.

Nach einem halben Jahrhundert ist man als Kritiker gegenüber dem Film sicherlich milder gestimmt. Man hat mittlerweile so viele schlechte Filme gesehen, dass einem Moby-Dick jetzt schon wieder gut vorkommt. Als Melville den Roman schrieb, hatte der Walfang als Amerikas nationale Industrie längst seinen Höhepunkt hinter sich. Und heute hat der Walfang einen ganz anderen Stellenwert als 1851. Niemand würde ein Epos über einen japanischen Walfänger schreiben, der hinter einer Kanone auf einem japanischen Walfangschiff steht. Das Abenteuer, das den jungen Melville auf der Acushnet begeisterte, ist dem unsinnigen mechanisierten Morden gewichen. Kein faustischer Ahab versucht mehr, the whiteness of the whale zu ergründen.

Ray Bradbury lässt in seinem Drehbuch Moby Dick sterben, aber in Melvilles Roman stirbt er nicht. Moby Dick wird niemals sterben, wird immer ein Rätsel und ein Geheimnis bleiben. Ebenso wie der Roman immer ein Rätsel bleiben wird, so oft man ihn auch liest. Hustons Film hat große Momente, so fehlerhaft er ist. Er kann auch Zuschauer dazu bringen, einmal den Roman zu lesen.


John Hustons Film ist als DVD leicht erreichbar, es gibt ihn oben auch zum Anklicken. Mit guten Moby-Dick Ausgaben sieht es schon schwieriger aus. Da die Ausgabe von Mansfield und Vincent (Hendricks House 1952) nicht mehr erreichbar ist, steht die von Harold Beaver kommentierte Penguin Ausgabe (über 300 Seiten Kommentar!) bei mir an zweiter Stelle der Empfehlungen. Gefolgt von der Norton Critical Edition, die Harrison Hayford und Hershel Parker herausgegeben habe. Im Internet gibt es einen ganz vorzüglichen Power Moby-Dick. Bei deutschen Übersetzungen überwiegen die schlechten und schlimmen Texte. Meine Lieblingsübersetzung bleibt die bei Manesse erschienene Übersetzung von Fritz Güttinger. Es hat im letzten Jahrzehnt zwei deutsche Neuübersetzungen gegeben, wobei die von  Daniel Göske herausgegebene Übersetzung von Matthias Jendis die lesbarste ist. Die von Friedhelm Rathjen bei Zweitausendeins erschienene Übersetzung hat den Vorteil, dass das Buch die schönen Illustrationen von Rockwell Kent enthält. Allerdings haben sich prominente Kritiker vernichtend über Rathjens Übersetzung geäußert. Ich auch. Die beste und lesbarste neuere Biographie zu Melville ist von Andrew Delbanco (Knopf 2005), die es inzwischen glücklicherweise auch schon in einer deutschen Übersetzung gibt. Man kann natürlich auch Moby-Dick lesen und dabei die Songs of the Humpback Whale hören. Was aber sicher gar nicht geht, ist das hier unten:











Das eindrucksvolle Filmplakat im ersten Absatz dieses Posts ist von dem Meister der Plakatkunst der fünfziger Jahre Hans Otto Wendt, es soll bei ebay 2.999,99 Euro kosten. Für eine Erstausgabe des Romans sind schon 125.000 Dollar bezahlt worden. Soviel Geld hat Melville für seine Werke niemals erhalten, er hat gerade mal zehntausend Dollar an Honoraren in seinem Leben bekommen.

Noch mehr Melville in diesem Blog in diesen Posts: Vierzig Jahre, The Whale, Herman Melville, kein Melville am 1. August, Moby-Dick, Fritz Güttinger, Herman Melville, Donald Trump und ich, Neuerscheinungen, weiße Wale, mein Melville, Emoji Dick, Rudolf Sühnel, scrimshaw, suchen und finden, Clarel, Capitaine Achab, tüddelig im Kopf, Herman Melville: Birthday, Uwe Nettelbecks Melville, Sanford E. Marovitz ✝, orientalisch, Gregory Peck, Studienfreunde

Dienstag, 24. Juni 2025

die Stimme im Hintergrund

Colin Dexter hatte Klassische Philologie in Cambridge studiert und war Lehrer geworden. Als er 1966 langsam taub wurde, nahm er einen Verwaltungsposten an der Universität Oxford an, den er bis zu seiner Pensionierung 1988 innehatte. 1972 begann er aus Langeweile im Urlaub einen Kriminalroman zu schreiben, der als Last Bus to Woodstock im nächsten Jahr erschien. In dem Roman begegnen wird dem Chief Inspector Endeavour Morse zum ersten Mal. Wie der Musik und Kreuzworträtsel liebende Inspektor Morse und sein Sergeant Lewis zu ihren Namen kamen, hat uns Dexter (hier auf dem Bild hat er gerade den Order of the British Empire bekommen) verraten. Er bewunderte den Bankier Sir Christopher Jeremy Morse, der wie Dexter und Inspektor Morse ein großer Liebhaber des Kreuzworträtsels war: Inspector Morse is named after Sir Jeremy Morse, who I got to know in the 1950s when he started doing the Ximenes crossword in The Observer. And Dorothy Taylor wrote the The Observer’s Everyman crossword for years under the name Mrs B Lewis. So that’s the origin of Morse’s bagman. 

Colin Dexters dreizehn Morse Romane waren die Basis für drei Fernsehserien, in denen Dexter häufig (wie Alfred Hitchcock) einen kleinen Cameo Auftritt hatte. Die Serien hießen Inspector Morse (33 Folgen), Lewis (auch 33 Folgen) und Endeavour (35 Folgen). Im Jahr 2000 plazierte das British Film Institute Morse auf Platz 42 der 100 Greatest British Television Programmes. 2018 benannten die Leser der Radio Times Morse als the greatest British crime drama of all time. In Deutschland ist Morse nie gelaufen, angeblich mal sieben Folgen in der DDR. Von Lewis konnte man alle Folgen im ZDF sehen. Endeavour war als Der junge Inspektor Morse bei ZDFneo, aber ich weiß nicht, ob dort alle Folgen gesendet wurden.

Der Chief Inspector Morse hat in Oxford Klassische Philologie studiert, fährt einen roten Jaguar und liebt die Musik. Er singt im Chor und kann Klavierspielen, manchmal fährt er nach Bayreuth, weil er ein Wagner Fan ist. Und so ist diese Serie voller Musik. Die Filmmusik mit der Titelmelodie ist von dem Australier Barrington Somers Pheloung, der auch die Musik für Lewis geschrieben hat. Aber es ist auch viel Klassik in den Folgen, viele Opernarien. Vor Jahren versuchte ich herauszufinden, wer das Signora, Ascolta aus Turandot in der Folge The Death of the Self sang. Inzwischen weiß ich das, ich habe es sogar auf CD der Essential Inspector Morse Collection. Es ist die Stimme der schottischen Sängerin Janis Kelly, die dreißig Jahre an der English National Opera sang und jetzt Professorin am Royal College of Music in London ist. 

Hier sehen wir Morse neben der Opernsängerin Nicole Burgess, gespielt von Frances Barber. Wie sind in Italien, und obgleich hunderte von Stellen im Internet behaupten, dass dies die Villa Rotonda ist, ist sie es nicht. Wenn Sie den langen Post Palladio gelesen haben, dann wissen Sie natürlich, dass es die Rocca Pisana von Vincenzo Scamozzi ist. Frances Barber sieht richtig überzeugend aus, wenn sie das Signora, Ascolta singt (Sie können das hier ab der 43. Minute sehen), aber die Schauspielerin hat den Part nicht wirklich gesungen. Es war wieder einmal die Stimme von Janis Kelly. Das hatte ich vor zehn Jahren herausgefunden, als ich den Post Endeavour schrieb.

Inzwischen weiß ich mehr, viel mehr. inzwischen weiß ich, dass Janis Kellys Stimme in ganz vielen Folgen der Morse Saga zu hören ist. Auch hier in der ersten Folge von Endeavour. Da hat sich der junge Detective Constable Morse in die Opernsängerin Rosalind Stromming verliebt, die sich allerdings am Ende als die Mörderin entpuppt. Rosalind Stromming wird von Flora Montgomery gespielt, aber beide singen nicht. Das ist wieder Janis Kelly. Sie singt in dem Film auch Mozarts Soave Sia Il Vento, aber Miah Persson gefällt mir in der Glyndebourne Inszenierung besser. Die habe ich ganz oben bei meinen Lesezeichen. Neben den Goldberg Variationen von Tatiana Nikolayeva, der Schönen Müllerin und Mozarts Contessa Perdono. Und der digital bearbeiteten Version von Jennifer WarnesLights of Lousianne. Die lief früher bei dem teuersten HiFi Händler hier im Ort immer als Test CD für die exklusivsten Burmester Komponenten. 

Dass ich inzwischen weiß, in welchen Folgen von Morse Janis Kelly singt, verdanke ich einem Mann namens Chris Sullivan. Der hat im Internet eine  Seite, auf der alles, aber wirklich alles, steht, was man zu Morse, Lewis & Co wissen kann. Die Namen der Schauspieler, alle literarischen Anspielungen in der Folge, alle Musiktitel, Photos von allen Drehorten. Das ist wirklich unglaublich. Und es gibt das Ganze auch in Buchform. Auf dieser Seite finden Sie alle ihre Arien, die Janis Kelly in den Morse Folgen gesungen hat. Auch Promised Land, die Folge, die in Australien spielt, ist dabei. Janis Kelly singt da Hab’mir’s Gelobt aus dem Rosenkavalier, die Qualität der CD ist aber nicht gut.

Was natürlich nicht auf dieser Seite steht, sind all die Rollen für die Sopranstimme, die sie in den letzten Jahrzehnten auf der Opernbühne gesungen hat. Sie war die Despina in einem originellen Opernfilm von Cosi Fan Tutte, der hauptsächlich am Strand spielt. Sie hat 2011 in New York die Pat Nixon (das müssen Sie anklicken) in der Oper Nixon in China von John Adams gesungen. Die The New York Times hatte das Wort wonderful für sie. Zwei Jahre zuvor war sie als Régine Saint Laurent in der experimentellen Oper Prima Donna von Rufus Wainwright zu sehen. Diese Oper fällt ein wenig aus dem Repertoire einer Sängerin heraus, ich habe hier einen Dokumentarfilm zu der Oper. Die Arbeit mit Wainwright hat ihr offenbar gefallen, denn sie ist mit ihm zusammen noch mehrfach aufgetreten: bei der ✺Weihnachtsfeier 2009 in der Royal Albert Hall, in ✺L´amico Fritz und mit ✺Last Rose of Summer. Kritiker haben Janis Kelly als ein Chamäleon beschrieben, und das ist sie wohl auch. 

Wenn ich schon wieder einmal über den Chief Inspektor Morse schreibe, dann liegt das daran, dass ich mich gerade durch 59 Stunden Morse durcharbeite. Ich habe immer noch kein Fernsehen. Soll aber kommen.