Mittwoch, 24. April 2024

Min Modersprak


Der Dichter Klaus Groth war von Anfang an in diesem Blog. Er gehörte gewissermaßen zu meinem Heimatort, weil er in den Sommermonaten häufig in unserer Straße wohnte. Seine Schwiegereltern hatten dort eine Villa. Es ist auch viel Plattdeutsch in meinem Blog. Mein Opa sprach das Platt aus dem Osnabrücker Land, mein Vater sprach das Platt der Gegend, aus der Klaus Groth kam. Ich bin noch mit der Sprache aufgewachsen, und in weit über fünfzig Posts kommt das Plattdeutsche vor. Wenn das bisher an Ihnen vorbeigelaufen sein sollte, dann empfehle ich Ihnen die Lektüre des Posts Mandalay, in dem sich eine wunderbare plattdeutsche Übersetzung von Kiplings berühmten Gedicht findet. So sehr ich das Plattdeutsche mag, es ist nicht meine Muttersprache. Aber es war die Muttersprache von Klaus Groth, und der soll er heute an seinem Geburtstag mal wieder in den Blog kommen. Mit seinem Gedicht Min Modersprak:

Min Modersprak, wa klingst du schön!
Wa büst du mi vertrut!
Weer ok min Hart as Stahl un Steen,
du drevst den Stolt herut.

Du bögst min stiwe Nack so licht
as Moder mit ern Arm,
du fichelst mi umt Angesicht –
un still is alle Larm.

Ik föhl mi as en lüttjet Kind,
de ganze Welt is weg.
Du pust mi as en Vaerjahrswind
de kranke Boss torecht.

Min Obbe folt mi noch de Hann'
un seggt to mi: »Nu be!«
Un »Vaderunser« fang ik an,
as ik wul fröher de.

Un föhl so deep: dat ward verstan,
so sprickt dat Hart sik ut.
Un Rau vunn Himmel weiht mi an,
un allns is wedder gut!

Min Modersprak, so slicht un recht,
du ole frame Red!
Wenn blot en Mund »min Vader« seggt,
so klingt mi't as en Bed.

So herrli klingt mi keen Musik
un singt keen Nachdigal;
mi lopt je glik in Ogenblick
de hellen Thran hendal.

Ich suchte bei YouTube jemanden, der das Gedicht vorträgt, fand aber nur Leute, die das Gedicht sangen. Das ist erstaunlich. Hören Sie doch hier einmal hinein. Gibt es sogar als Chor, irgendwie ist das ziemlich komisch. Natürlich gibt es Lieder von Groth, zum Beispiel, die, die Johannes Brahms vertont hat, Aber Min Modersprak ist vom Dichter bestimmt nicht für einen gemischten Chor bestimmt gewesen. Und da ich bei Chören bin, möchte ich noch anmerken, dass die Geschichte Chorprobe, die ich am 7. März erwähnte, endlich fertig geworden ist. Die schöne Buchhändlerin wird hier irgendwann im Mai stehen.

Das Gedicht Min Modersprak findet sich in Klaus Groth: Quickborn: Volksleben in plattdeutschen Gedichten ditmarscher Mundart; mit einer wortgetreuen Übersetzung und einem Vorwort für hochdeutsche Leser. - unter Autorität des Verfassers herausgegebene 5. verm. u. verb. Aufl., 1. mit e. Übers. Hamburg: Perthes-Besser & Mauke, 1856. Aus dem Titel geht nicht hervor ob die wortgetreue Übersetzung von Klaus Groth stammt. Aber ich habe sie natürlich für Sie:

Meine Muttersprache

Meine Muttersprache, wie klingst du schön!
wie bist du mir vertraut!
Wär´ auch mein Herz aus Stahl und Stein,
du triebst den Stolz heraus.

Du beugst meinen starren Nacken so leicht,
wie Mutter mit ihrem Arm,
du kosest mir ums Angesicht
und still ist aller Lärm.

Ich fühle mich wie ein kleines Kind,
Die ganze Welt ist fort.
Du hauchst mir wie ein Frühlingswind
Die kranke Brust gesund.

Mein Opa faltet mir noch die Hände
Und sagt zu mir: Nun bete!
Und 'Vaterunser' fang ich an
Wie ichs wohl früher tat.

Und fühle tief: Das wird verstanden.
So spricht das Herz sich aus,
Und Ruhe vom Himmel weht mich an,
Und alles ist wieder gut.

O Muttersprache, schlicht und recht,
Du alte sanfte Rede! 
Wenn bloß ein Mund 'min Vader' ! sagt , 
So klingt mir's wie Gebet. 

So herrlich klingt mir keine Musik , 
Singt keine Nachtigall, 
Mir fließen ja sogleich  
Die hellen Tränen nieder.

Dienstag, 23. April 2024

Robert Desnos


Am 23. April 1965 wurde in Paris der Peugeot 204 vorgestellt, das erste Auto von Peugeot mit Frontantrieb (und Scheibenbremsen). Ich kenne den Wagen, ich hatte einen, das steht schon in dem Post Traumwagen. Als ich mir einen neuen 204 kaufen wollte, gab es das Modell nicht mehr. Da habe ich mir meinen ersten Golf gekauft. Der hatte zwar auch ein Schiebedach, aber er besaß natürlich nicht die Armaturen von Jaeger-LeCoultre, die der Peugeot hatte. Mein Gedicht kommt heute von dem Franzosen Robert Desnos, einem Dichter der Avantgarde. Er war ein Vertreter des Surrealismus. Hier ist er mit anderen Surrealisten (André Breton und Paul Éluard sind auch dabei) bei einem Jahrmarktbesuch, Desnos ist der zweite von links. Er liebte Sprachspielereien. Wie in diesem Gedicht über die Ameise:

Une fourmi de dix-huit mètres
avec un chapeau sur la tête
ça n'existe pas, ça n'existe pas.
Une fourmi traînant un char
plein de pingouins et de canards
ça n'existe pas, ça n'existe pas.
Une fourmi parlant français
parlant latin et javanais
ça n'existe pas, ça n'existe pas.
eh ! et pourquoi pas !


Juliette Gréco hat das gesungen, sogar auf deutsch. Das war auf der Platte, die der Twen 1965 herausgebracht hatte. Die habe ich immer noch. Robert Desnos, dessen geistige Väter Baudelaire und Rimbaud waren, kann auch andere Dinge als die Sache mit der Ameise und die vielen wortspielerschen Kindergedichte. 

Wenn Desnos nicht dichtete, nicht für das Radio und den Film arbeitete, schrieb er Werbesprüche, so etwas bringt Geld, Gedichte bringen nicht so viel. Mehr als hundert Werbesprüche hat er für Cinzano, Nivea und für die Seifenfirma Cadum verfasst. Und auch für die Automobile von Peugeot. Deren erfolgreichstes Modell war damals der Peugeot 201. Desnos war der Meinung, dass seine Kindergedichte das Einzige wären, was von ihm überleben würde: Ce que j'écris ici ou ailleurs n'intéressera sans doute que quelques curieux espacés au long des années. Tous les vingt-cinq ou trente ans on exhumera dans quelques publications confidentielles mon nom et quelques extraits, toujours les mêmes. Les poèmes pour enfants auront survécu un peu plus longtemps que le reste. J'appartiendrai au chapitre de la curiosité limitée. Es ist mehr von ihm geblieben, nicht nur die Ameise und die Kindergedichte. In der französischen Wikipedia hat er einen erstklassigen Artikel, so etwas wünschte man sich auch im deutschen Teil der Wikipedia.

Mit dem Einmarsch der Deutschen geht es mit dem Surrealismus zu Ende, von dem hatte sich Desnos längst getrennt. Breton emigriert in die USA, Éluard und Desnos gehen in die Résistance. Im Februar 1944 wird Desnos von der Gestapo verhaftet und kommt in das Lager Royallieu, ein Sammellager für Deportationen. Dann folgen die Stationen Auschwitz, Buchenwald und Flossenbürg. Von dort kommt er in das Lager Flöha in Sachsen, wo er für die dort ansässige Tarnfirma Fortuna G.m.b.H. mit sechshundert anderen Häftlingen Flugzeugteile für die Messerschmidt Bomber herstellen muss. Da denkt er wahrscheinlich nicht mehr an das Pappflugzeug auf dem Jahrmarkt, in dem er mit den anderen Surrealisten posierte. Obgleich ihn sein Lebensmut und seine Kreativität nie verlassen hat, er schreibt noch im KZ Gedichte. Und er erfindet seltsame Dinge, um den Mithäftlingen das Leben zu erleichtern. Aber er infiziert sich mit Typhus und stirbt am 8. Juni in Theresienstadt, wenige Wochen nach der Befreiung des Konzentrationslagers. Jusqu’à la mort, Robert Desnos a lutté pour ce qu’il avait à dire et pour l’idée de la liberté, qui tout au long de ses poèmes, court comme un feu terrible, claque comme un drapeau parmi les images les plus neuves, les plus violentes aussi. La poésie de Desnos, c’est la poésie du courage. Il a toutes les audaces possibles de pensée et d’expression. Il va vers l’amour, vers la vie, vers la mort sans jamais douter, wird Paul Éluard nach dem Krieg sagen.

In seinem Gedichtband Contrée, in dem seine Gedichte aus der Zeit von 1942 und 1943 gesammelt sind, findet sich das Gedicht L’épitaphe, das, im Ton von François Villon geschrieben, seinen Tod schon vorwegnimmt:

L’épitaphe

J’ai vécu dans ces temps et depuis mille années
Je suis mort. Je vivais, non déchu mais traqué.
Toute noblesse humaine étant emprisonnée
J’étais libre parmi les esclaves masqués.

J’ai vécu dans ces temps et pourtant j’étais libre.
Je regardais le fleuve et la terre et le ciel
Tourner autour de moi, garder leur équilibre
Et les saisons fournir leurs oiseaux et leur miel.

Vous qui vivez qu’avez-vous fait de ces fortunes?
Regrettez-vous les temps où je me débattais?
Avez-vous cultivé pour des moissons communes?
Avez-vous enrichi la ville où j’habitais?

Vivants, ne craignez rien de moi, car je suis mort.
Rien ne survit de mon esprit ni de mon corps.


Paul Celan hat das Gedicht ins Deutsche übersetzt:

Ich bin der Tote, der durch jene Zeiten schritt.
Vor tausend Jahren. Aufrecht und gejagt.
Das Menschliche, von Mauern war’s umrangt.
Vermummte Sklaven rings – ich lebte mit.

In jenen Zeiten lebt ich – lebt ich frei.
Mein Auge sah die Erde, es sah zum Himmel auf,
Ich sah, wie alles kreischte, ich sah den Wasserlauf.
Die Blüte gab den Honig, der Vogel zog vorbei.

Mit alledem, ihr Menschen, was fingt ihr damit an?
Die Zeit, in der ich’s schwer hatt’, tragt ihr sie noch im Sinn?
Sät ihr die Saat gemeinsam und erntet jedermann?
Ist sie durch euch jetzt schöner, die Stadt, aus der ich bin?

Ihr Lebenden, ich leb nicht, ihr braucht nicht bang zu sein.
Mein Leib, er lebt nicht weiter, mein Geist nicht, nichts, was mein.


Ich weiß nicht, warum ich immer, wenn ich so etwas lese, an Björn Höcke denken muss.

Montag, 22. April 2024

Washington-on-the-Brazos


Am 21. April 1836 war die Schlacht von San Jacinto, bei der die Texaner die zahlenmäßig überlegene mexikanische Armee des Generals Santa Anna in kürzester Zeit vernichtend schlugen. Am 22. April nahmen sie Santa Anna gefangen. Texas wurde eine freie Republik, zur USA gehörten sie nocht nicht. Dieser Teil der amerikanischen Geschichte steht hier schon in den Posts Alamo, The Yellow Rose of Texas und Donald TrumpAn dem Post hängen zahlreiche Links zu all den anderen Posts, die etwas mit Texas zu tun haben. 

Ich habe heute ein kleines patriotisches Gedicht von einem Mann namens Noah T. Byars. Der war Schmied in Washington, das damals zu dem mexikanischen Bundesstaat Estado Libre y Soberano de Coahuila y Tejas gehörte. Im Unterschied zu dem Washington on the Potomac hatte man den kleinen Ort Washington-on-the-Brazos genannt. Als Antonio López de Santa Anna im Herbst 1835 die föderale Verfassung Mexicos außer Kraft setzte, schrieb Byars diese Verse:

To Arms 

Boys, rub your steels and pick your flints, 
Methinks I hear some friendly hints
That we from Texas shall be driven-
Our lands to Spanish soldiers given. 
To arms, to arms, to arms!

Then Santa Anna soon shall know
Where all his martial law shall go
It shall not in the Sabine flow.
Nor line the banks of the Colorado.
To arms, to arms, to arms!

Instead of that he shall take his stand
Beyond the banks of the Rio Grande;
His martial law we will put down
We'll live at home and live in town.

Huzza, huzza, huzza

Das Haus hier ist ein Nachbau des Hauses, das Noah T. Byars gerade bezogen hatte. Hier treffen sich in den bitterkalten Märztagen des Jahres 1836 achtundfünfzig Texaner, um ihre Verfassung zu schreiben und zu beschliessen. Noah. T. Byars (der manchmal auch Byers geschrieben wird) wird von Sam Houston zum Waffenmeister der kleinen texanischen Armee ernannt. Erst einmal beschlägt er Houstons Pferd mit neuen Hufeisen. Aber er wird auch seinen Teil dazu beitragen, dass Houston die Schlacht von San Jacinto gewinnt. Nach der Schlacht wird ihn der texanische Kongress für vier Jahre zum sergeant-at-arms ernennen. Amerika braucht diese kleinen Helden.

Sie sind mir lieber als dieser Mann, der im Wahlkampf in San Antonio sagte: This will be a huge rally. I love San Antonio. It's a great historic city. People in San Antonio love me. I will use this event to outline my vision to forever stop illegal immigrants from coming into this country and to forever rid our country of illegal immigrants once and for all. Und fügte noch hinzu: We need to guarantee American soil will never be invaded again by Mexicans, Guatemalans, Puerto Ricans, Hondurans, or any other type of brown colored people. It is time to Make America White Again and Remember the Alamo! Hat er wirklich gewusst, was er da redete?

Sonntag, 21. April 2024

sinkender Himmel


Den französischen Literatur- und Kunsthistoriker Hippolyte Taine habe ich durch eine Vorlesung im Philosophenturm der Uni Hamburg kennengelernt. Es war die beste Vorlesung, die ich im Fach Anglistik in meinem Studium gehört habe. Der Dozent war noch ein junger Mann, frisch habilitiert. Es war seine erste Vorlesung, er hatte alles hineingepackt, was er wusste. Und er wusste viel. Ich habe den Dozenten Jahrzehnte später bei einem Kongress getroffen und ihm meine Hochachtung ausgesprochen. Das steht schon in dem Post Studienberatung. Und Hippolyte Taine, der heute vor hundertsechsundneunzig Jahren geboren wurde, hat hier natürlich auch schon einen Post. Er hat furchtbar viel geschrieben, nicht nur eine vierbändige Geschichte der englischen Literatur, die damals in der Vorlesung erwähnt wurde. Er hat aber keine Gedichte geschrieben.

Dafür habe ich jemand anderen, einen Dichter, der auch etwas mit Hippolyte Taine zu tun hat. Es ist Stefan Zweig. 1936 beschrieb er im englischen Exil sein Leben und seinen Werdegang: I was born in Vienna on November 28, 1881, and later I studied philosophy. But my real studies began with my extensive travels throughout Europe, America, and India, and my inner education through friendship with important leaders of my generation - Verhaeren, Romain Rolland, Freud, and Rilke. Kein Wort hat er für Hippolyte Taine übrig, das ist erstaunlich, denn er hatte 1904 mit einer 138-seitigen Arbeit über Taine promoviert. Den er offenbar nicht als wichtigen Einfluss auf sein Leben betrachtete. Es ist dies wohl die einzige Sache, die ich meinen Eltern zuliebe tue und dem eigenen Ich zum Trotz, hatte er im März 1903 an Hermann Hesse geschrieben. Zweigs erste Ehefrau Friderike schrieb 1948: Es ist bedauerlich, daß diese ausgezeichnete Arbeit nie veröffentlicht wurde. Andere, denen die Themen nicht so reich zuflossen wie ihm, hätten sie zu einem Buch gemacht. Alles, was wir über Stefan Zweig und Hippolyte Taine wissen können, steht 1992 in der Magisterarbeit von Natascha Weschenbach, die bei Fischer auch die Briefe Zweigs herausgegeben hat. Meiner Meinung nach hätte sie für ihre Arbeit einen Doktortitel bekommen müssen, ich kenne Dissertationen, in denen weniger drin steht. 

Stefan Zweig ist in diesem Blog schon in den Posts Stendhal BiographienPaul Hazard, immortel, John Quincy Adams und Born to be bad erwähnt worden, aber ein Gedicht von ihm gab es noch nicht. Aber heute gibt es eins, das schöne Sinkender Himmel aus dem Gedichtband Die frühen Kränze:

Du Herz, das immer die Sterne begehrte,
Für jeden Wunsch verschenkt sich ein Traum.
Sieh, schon neigt sich der abendverklärte
Himmel zu dir, und du faßt es kaum.

Neigt sich und neigt sich. Und in sein Sinken
Hebt die Erde verschreckt ihr Gesicht,
Und wie mit purpurnen Lippen trinken
Die Höhen das letzte löschende Licht.

Alle Bäume schon müssen ihn fühlen,
Steil greift ihr Schmerz in den Abend empor,
Und mit den zitternden Armen wühlen
Sie sich in den samtenen Sternenflor.

Und tiefer rauschen die Wolkenfernen.
Schon streifen sie dich, wie ein Kuß, wie ein Kleid,
Und wiegen nun sanft mit den silbernen Sternen
Dein Herz in die nahe Unendlichkeit.


Samstag, 20. April 2024

Forget Me Not


Heute vor zweihundertsechzig Jahren wurde Rudolph Ackermann in Stollberg in Sachsen geboren. Er wird wie sein Vater Sattler und Wagenbauer sein. Nicht in Stollberg. In Paris und London. Aber er bleibt nicht in dem Luxuskutschen Geschäft, obgleich er berühmte Kunden hat. Er macht noch etwas ganz anderes, was ihn noch berühmter macht. 1795 eröffnet er am Strand einen Laden, in dem man Bücher und Briefpapier, Farben und Drucke, Radierungen und Gemälde kaufen kann. Man kann hier auch Bücher leihen. Der Laden wird zu einem kulturellen Zentrum von London. Weil da auch noch eine Zeichenschule und eine Druckerei angeschlossen sind. 

Ackermann steigt ganz groß in das Lithographiegeschäft ein. Bekannte Künstler wie Thomas Rowlandson arbeiten für ihn. Seit 1809 erscheint Ackermanns Repository of arts, literature, commerce, manufactures, fashions, and politics, allgemein Ackermann's Repository oder schlicht Ackerman's genannt. Es ist der Vorläufer der Illustrierten und der Magazine. Ein Journal, in dem man alles finden konnte, natürlich auch die Mode der Regency Zeit. Die eleganten Damen und Herren des age of elegance - die Dandies natürlich eingeschlossen - konnten sich hier ihre Anregungen für die Inszenierung ihres Lebens holen. Nicht nur durch die Illustrationen der zeitgemäßen Mode, auch die englische Möbelkunst war hier reichhaltig repräsentiert. Wenn man sich mit der Welt des Regency beschäftigt, von Jane Austen bis Beau Brummell, wird man um das Studium von Ackerman's Repository nicht herumkommen. Und natürlich hat Rudolph Ackermann in diesem Blog längst einen Post.

1822 bringt Ackermann ein Jahrbuch auf den Markt, das Forget me not; A Christmas and New Year’s Present for 1823 (hier im Volltext) heißt. Voll mit Geschichten und Gedichten, Sir Walter Scott und Mary Shelley finden sich hier, verziert mit Kupferstichen von Mitgliedern der Royal Academy. Diese Forget me Not Jahrbücher erscheinen von 1822 bis 1846. Man findet erstaunliche Dinge darin. Im ersten Jahrbuch gibt es zum Beispiel eine Übersetzung von Kleists Die Verlobung in St Domingo. Und ich nehme mir aus dem ersten Band auch ein kleines Gedicht, mit dem der Monat April in dem Buch anfängt:

Now, April's varying month appears, 
With sunny smiles and show'ry tears, 
When pregnant nature gives their birth 
To the first fruits of teeming earth, 
And does the growing Spring prepare 
To deck with charms the early year 
Then beckons eager May to come, 
And shower around its fragrant bloom.

Freitag, 19. April 2024

Friederike


Haben die beiden so ausgesehen, Goethe und seine Friederike? Dies ist ein Holzstich von Eugen Klimsch aus dem Jahr 1890, die Kolorierung ist später erfolgt. Ich komme auf die beiden, weil Friederike Elisabeth Brion wahrscheinlich an einem 19. April geboren wurde. Sie war neunzehn, als sie Goethe traf. Nach der Liebesaffaire, die vielleicht anderthalb Jahre dauerte, hat er sie schnöde verlassen. Der Goethe Biograph Nicholas Boyle schreibt dazu: Man muß sagen, daß die ganze Episode Goethe wenig Ehre macht. Der lange Aufenthalt in Sesenheim im Mai und Juni sowie der Umstand, daß er und Friederike mit ziemlicher Sicherheit bei dieser wie vielleicht schon bei früheren Gelegenheiten längere Zeit allein gelassen wurden, lassen vermuten, dass man ihn, süddeutscher Gepflogenheit entsprechend, zu diesem Zeitpunkt als den Verlobten Friederikes betrachtete. (...) Unter diesen Umständen bedeutete der Bruch mit Friederike eine schwerwiegende Kompromittierung ihrer gesellschaftlichen Stellung – von ihren Gefühlen ganz zu schweigen. Nicholas Boyles Goethe Biographie ist auf drei Bände geplant, die ersten beiden Bände erschienen 1991 und 2000. Den dritten Band hat er immer noch nicht fertig. Ob ich den Band noch zu lesen bekomme?

Hier hat Goethe gerade die Familie des elsässischen Pfarrers Brion kennengelernt, und da kommt sie zur Tür herein. Blond und schlank, Goethe ist hin und weg: In diesem Augenblick trat sie wirklich in die Türe; und da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern auf. […] Schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorge geben könnte; der Strohhut hing am Arm, und so hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmut und Lieblichkeit zu sehn und zu erkennen.

Theo Stemmler sagt in einem Interview dazu: Ich will mal so sagen: Goethe war ein Augenmensch. Deshalb darf ich das Visuelle erstmal in den Vordergrund stellen. Er besucht die Familie des Landpfarrers Brion, eines Freundes von Weyland, und spannend ist der Auftritt dann der Familie. Sukzessive treten wie auf einer Bühne auf: Der Vater, die Mutter, die ältere Schwester – später kommt auch der junge Sohn, der Christian, hinzu. So. Aber Spannung geriert er, nochmals – wie in einem Theaterstück, indem er ganz zum Schluss erst Friederike auftreten lässt, und das ist schon grandios, der Eindruck, den er vermittelt. Visuell. Sie ist ein überirdisch schönes Wesen. Ich sage es ein bisschen sarkastisch auch in meinem Buch: streng deutsch. Lange blonde Zöpfe, blaue Augen und so weiter. 

Theo Stemmler ist ein emeritierter Anglistikprofessor, der gerade das Buch Goethe und Friederike. Wahrheit und Dichtung veröffentlicht hat. Er war schon mal hier in diesem Blog, weil er auch ein Buch über Tennis geschrieben hat. Er hat witzige Dinge geschrieben, auch eine Geschichte des Fußballspiels. Jetzt nimmt er sich die Liebesaffaire des einundzwanzigjährigen Jurastudenten Goethe noch einmal vor: Von den zahllosen Interpretationen, Analysen und so weiter, wollte ich Goethe befreien, zurück zu den Originaltexten, die wir ja zur Verfügung haben. Wir haben seine Briefe. Wir haben seine Gedichte, wir haben ‚Dichtung und Wahrheit‘, wir haben Dokumente. Also mit anderen Worten: Ich wollte einfach Goethe mal sozusagen nackt präsentieren, fern von aller philologischen Ausdeutung

Gab es Sex? Nein, sagt der Psychoanalytiker Kurt Eisler in seiner 1.538 Seiten langen Studie Goethe: Eine psycholanalytische Studie zu dem Thema: Wenn Goethe in späteren Jahren absichtlich oder unabsichtlich den Mythos seiner ausgiebigen genitalen Erfahrungen kultivierte, muß er über etwas in seinem Sexualleben tief beschämt gewesen sein. Erst im Alter von neununddreißig Jahren hätte Goethe in Italien richtigen Sex gehabt. Wie immer die Liebesaffaire in der Wirklichkeit war, Friedrike hat ihn zum Dichten gebracht: Unter diesen Umgebungen trat unversehens die Lust, zu dichten, die ich lange nicht gefühlt hatte, wieder hervor. Ich legte für Friederiken manche Lieder bekannten Melodien unter. Sie hätten ein artiges Bändchen gegeben; wenige davon sind übriggeblieben, man wird sie leicht aus meinen übrigen herausfinden. Das sind die Gedichte, die man heute die Sesenheimer Lieder nennt. Und eins davon, Willkommen und Abschied, gibt es heute hier:

Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!
Es war getan fast eh gedacht.
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und an den Bergen hing die Nacht;
Schon stand im Nebelkleid die Eiche,
Ein aufgetürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.

Der Mond von einem Wolkenhügel
Sah kläglich aus dem Duft hervor,
Die Winde schwangen leise Flügel,
Umsausten schauerlich mein Ohr;
Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,
Doch frisch und fröhlich war mein Mut:
In meinen Adern welches Feuer!
In meinem Herzen welche Glut!

Dich sah ich, und die milde Freude
Floß von dem süßen Blick auf mich;
Ganz war mein Herz an deiner Seite
Und jeder Atemzug für dich.
Ein rosenfarbnes Frühlingswetter
Umgab das liebliche Gesicht,
Und Zärtlichkeit für mich – ihr Götter!
Ich hofft es, ich verdient es nicht!

Doch ach, schon mit der Morgensonne
Verengt der Abschied mir das Herz:
In deinen Küssen welche Wonne!
In deinem Auge welcher Schmerz!
Ich ging, du standst und sahst zur Erden,
Und sahst mir nach mit nassem Blick:
Und doch, welch Glück! geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!

Donnerstag, 18. April 2024

Daniel JeanRichard

Die Uhr, die ich zurzeit am Arm trage, ist ziemlich selten. Es gibt kein einziges Bild meiner Uhr im Internet. Nur eins von dem Uhrwerk, das in ihr tickt. Sie ist über sechzig Jahre alt und hat ein Edelstahlgehäuse. Mit einer Gehäusenummer auf dem Schraubboden. Wenn Uhren eine Gehäusenummer besitzen, dann sind sie etwas Besseres. Wenn dann auch noch Genève auf dem Zifferblatt steht, dann ist es bestimmt eine Qualitätsuhr. Das Genève steht nicht nur auf dem Zifferblatt, es steht auch auf dem Rotor des Automatikwerks. Das ist ein berühmtes Werk. Der Felsa Bidynator war das erste Automatikwerk, das in beide Richtung aufzog. Die Firma Felsa wurde sofort von Rolex verklagt, die sich schon Anfang der 1930er Jahre die von Aegler gebaute Rotorautomatik für ihre bubblebacks patentieren ließ. Aber Rolex musste sich von den Richtern belehren lassen, dass eine Automatik, die in zwei Richtungen aufzieht, etwas ganz anderes ist, als eine Automatik, die nur in einer Richtung wirkt.

Die Firma JeanRichard, die meine Armbanduhr gebaut hat, trägt einen berühmten Namen. Es gibt sie nicht mehr, aber es gibt seit 1988 wieder JeanRichard Uhren, weil die Firma Girard-Perregaux den Namen gekauft hat. Der Name JeanRichard ist deshalb von Bedeutung, weil Daniel JeanRichard vielleicht der Vater der ganzen schweizer Uhrenindustrie gewesen ist. Er lebte von 1672 bis 1741, man nannte ihn sein Leben lang Bressel, weil er aus dem Ort Les Bressels kam. Und er soll als junger Mann in einer Nacht die Taschenuhr eines durchreisenden Engländers repariert haben. Er hat sich alle Teile gut gemerkt, hatte sich eine Zeichnung gemacht und beschlossen, diese Uhr nachzubauen. Er wird anderthalb Jahre dafür brauchen. Ein Jahr für das Anfertigen der Werkzeuge, ein halbes Jahr fur die Uhr.

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts verlegte JeanRichard, der eigentlich Goldschmied war, sein Atelier nach Le Locle, wo heute ein Denkmal für ihn steht. Eine Sonderbriefmarke der schweizer Post hat es für ihn auch einmal gegeben. Sein Atelier bestand bis 1750, aber JeanRichard hatte für viele im Kanton Neuenburg den Anstoß gegeben, Uhrmacher zu werden. Er will nicht mit den Uhrmachern im calvinistischen Genf konkurrieren, die goldene Schmuckuhren bauen. Er will preiswerte Taschenuhren herstellen, und er hat auch schon neue Produktionsmethoden in Sicht. Deshalb ist er in einem Buch, das Swiss Pioneers of Industry and Technology heißt.

Kurz nach seinem Tod zählt man im Kanton Neuenburg schon achtzig Uhrmacher, vorher gab es da niemanden außer ihm. Hundert Jahre später sind fünfzehn Prozent der Einwohner von Neuenburg Uhrmacher. JeanRichards Firma ist von seinen fünf Söhnen unter dem Namen Daniel JeanRichard et Fils weitergeführt worden. Bei dieser JeanRichard Uhr aus dem Jahr 1950 hat die Legende über die Wirklichkeit gesiegt. Da ist nämlich unter dem Firmennamen ein kleiner Amboss zu sehen, weil JeanRichard ein Hufschmied gewesen sein soll. Diese Mär kommt im 19. Jahrhundert auf. Aber ein Hufschmied war er wohl nie. Es gibt über sein Leben mehr Legenden als Fakten, die besten Informationen findet man auf dieser Internetseite.

Auch wenn das Atelier von Daniel JeanRichard 1750 schließt, hat es immer wieder Firmen gegeben, die den Namen JeanRichard getragen haben. Wie die Firma, die meinen Flohmarktfund gebaut hat. Wahrscheinlich war das die 1915 gegründete Firma Eduard JeanRichard. Die Uhr ist erste Qualität, steht einer Omega in nichts nach. Wir können an dem Werk oben sehen, dass es sogar eine Art von Schwanenhals Feinregulierung für den Rücker besitzt, das ist schon etwas Besonderes. Der Gehäuseboden ist innen perliert, die Platine des Werks hat auch eine Perlage, so etwas war noch gute schweizer Qualität. 

Was der junge Daniel JeanRichard auf dem Denkmal in Le Locle in der Hand hält, sieht aus wie zwei Hälften eines Tennisballs. Aber so kugelig haben englische Spindeltaschenuhren um 1700 wirklich ausgesehen. Ich habe so etwas schon mehrfach in der Hand gehabt und immer wieder gestaunt, dass die Uhren noch liefen, wenn man sie aufzog. Bedenken Sie aber beim Aufziehen, dass man die linksherum aufziehen muss. Sind Engländer, die haben auch Linksverkehr.

Ich habe heute ein schönes Uhrengedicht, das schlicht The Watch heißt. Es ist von der Amerikanerin Danusha Laméris, einer Dichterin, die schon zahlreiche Preise gewonnen hat. Das Gedicht ist in dem Band Best American Poetry 2017 abgedruckt. Diese Anthologie wurde von Natasha Trethewey herausgegeben, die einmal den Pulitzer Preis gewonnen hatte und Poet Laureate der Vereinigten Staaten war. Es bedeutet für eine Dichterin wie Danusha Laméris schon etwas, in diese Sammlung aufgenommen zu werden. Der französische L'Observateur sagte ein klein wenig ironisch über Best American Poetry: For the small community of American poets, the Best American Poetry is the Michelin Guide, the Reader's Digest, and the Prix Goncourt

The Watch

At night, my husband takes it off
puts it on the dresser beside his wallet and keys
laying down, for a moment, the accoutrements of manhood.
Sometimes, when he’s not looking, I pick it up
savor the weight, the dark face, ticked with silver
the brown, ostrich leather band with its little goosebumps
raised as the flesh is raised in pleasure.
He had wanted a watch and was pleased when I gave it to him.
And since we’ve been together ten years
it seemed like the occasion for the gift of a watch
a recognition of the intricate achievements
of marriage, its many negotiations and nameless triumphs.
But tonight, when I saw it lying there among
his crumpled receipts and scattered pennies
I thought of my brother’s wife coming home
from the coroner carrying his rings, his watch
in a clear, ziplock bag, and how we sat at the table
and emptied them into our palms
their slight pressure all that remained of him.
How odd the way a watch keeps going
even after the heart has stopped. My grandfather
was a watchmaker and spent his life in Holland
leaning over a clean, well-lit table, a surgeon of time
attending to the inner workings: spring,
escapement, balance wheel. I can’t take it back,
the way the man I love is already disappearing
into this mechanism of metal and hide,
this accountant of hours
that holds, with such precise indifference,
all the minutes of his life.