Donnerstag, 4. Juli 2024

la dame au coussin rouge


Der französische Maler Charles Auguste Émile Durand, der allgemein Carolus-Duran genannt wird, wurde am 4. Juli 1837 in Lille geboren. Er hatte sich auf die Portraitmalerei spezialisiert. Dies Bild hier ist kein Selbstportrait, es ist von einem seiner Schüler. Nicht von irgendeinem seiner vielen Schüler, es ist von seinem berühmtesten Schüler, dem Amerikaner John Singer Sargent. Der hier mit blaue Vasen einen schönen Post hat, sein Biograph Stanley Olson hat auch schon einen Post. Was wir auf diesem Bild nicht richtig sehen können, ist die Widmung to my dear master Mr Carolus-Duran, his affectionate student John S. Sargent 1879, die Sargent oben rechts in das Bild geschrieben hat. Dass sein Lehrer gerade die Ehrenlegion bekommen hat, das hat Sargent auch nicht vergessen, das ist der kleine rote Fleck im Knopfloch vom Revers.

Carolus-Duran ist im Gegensatz zu seinem Schüler nicht unbedingt der Maler für die ganz große Welt, er will die Dargestellten nicht schöner machen, als sie sind. Schliesslich ist er Realist. Wenn Damen ganz wunderschön sein wollen, dann gehen sie zu Franz-Xaver Winterhalter. Diese junge Dame, die sich Alice de Lancey nennt, geht zu Carolus-Duran. Sie heisst nicht Alice de Lancey, und sie ist auch keine Comtesse. Sie war eine Julia Tahl aus Baltimore. Heiratete  einen Mr Eardley-Wilmot, mit dem sie (und mit großer Dienerschaft, wie die Passagierliste des Dampfers verrät) nach London zieht. Die Ehe war aber schnell wieder geschieden. Aber wenn man mit fünfundzwanzig Paris erobern will, wird ja wohl eine kleine Namensänderung erlaubt sein. Das Ergebnis der Sitzungen beim Maler war 1877 im Pariser Salon zu sehen, da war sie la dame au coussin rouge. Es ist eine detailverliebte Malerei, von der Blume im Haar bis zu den goldenen Absätzen der Schuhe. Das Bild ist sicher für die Damenmode der Zeit sehr interessant, sonst für wenig.

Kunsthistoriker haben auf die Nähe des Bildes zu dem Bild hingewiesen, das François Boucher 1743 von seiner Ehefrau gemalt hat. Man kann da einige Übereinstimmungen finden, zum Beispiel bei den Schuhen, aber es ist doch ein ganz anderes Bild. Boucher malt seine Ehefrau (die auch vor der Ehe sein Modell war), Carolus-Duran malt eine Dame von zweifelhaftem Ruf. Als er sie malt, ist sie gerade die Maitresse des Barons Antoine d'Ezpeleta, den er auch malen wird. Er malt auch den Hund der Dame, der Chinois heißt (steht so auf dem Bild). Wenige Jahre später wird unsere Alice eine Affäre mit dem Bankier Nissim De Camondo haben, den sie durch den Pressezaren Arthur Meyer kennengelernt hatte. Die Liaison ist ebenso wie das Bild von 1877 ein Pariser Skandal. Alice hatte sich, von welchem Geld auch immer, einen kleinen Landsitz in Louveciennes gekauft, der einstmals Madame du Barry gehörte. Edmond de Goncourt schrieb dazu gehässig: l'intérieur ironique de Louveciennes, où vécut Mme du Barry et où vit aujourd'hui Mme de Lancey et où le banquier Camondo remplace Louis XV. 

Wenn wir beim ersten Betrachten des Bildes den Eindruck hatten, dass das alles ein wenig ordinär und nuttig ist, dann hatten wir recht. Lesen Sie mehr zu den Damen im Paris des 19. Jahrhunderts in les grandes horizontales und Demimonde. Das 1,57 x 2,11 Meter große Bild hängt heute im Petit Palais, Alice de Lancey hatte es in ihrem Testament 1913 dem Museum vermacht. Ich weiß immer noch nicht, ob sie wirklich so gemalt werden wollte, wie Carolus-Duran das getan hat. Kritiker sagten über das Bild, dass es einen Höhepunkt der Geschmacklosigkeit darstelle. Carolus-Duran kann ja Frauen auch anders malen, wie hier Léocadie Bogaslawa Zelewska, die Gattin des Journalisten Henry Fouquier. Sie war eine der schönsten Frauen von Paris, Carolus-Duran hat sie mehrfach portraitiert. Vielleicht wollte der Maler mit dem Bild der Mademoiselle de Lancey auch so einen kleinen netten Skandal haben, weil so etwas gut für das Geschäft ist. 

Das war bei seinem Schüler John Singer Sargent nicht anders, sein Skandal mit dem Bild der Madame X war noch einige Dimensonen größer. Sargent und sein schwedischer Kollege Anders Zorn müssen die Millionärgattinnen des Gilded Age und des französischen Kaiserreichs malen, das ist ihr Geschäft. All diese Damen, die in den Posts Orchideen und dem Post Une fillette d’un blond roux erscheinen, wollten ja mal von Gesellschaftsmalern gemalt werden. Anders Zorn lässt sich einen roten Anzug schneidern und kauft sich einen Rolls-Royce. Und malt, zuück im Schweden, pralle nackte Schwedinnen beim Mittsommerfest. Carolus-Duran malt auch Frauen, die wir nicht kennen, wie diese rothaarige Dame hier. Ebenso wie das Bild la dame au coussin rouge und das Bild von der polnischen Gattin Fouquiers, ist es 1876 entstanden. Aber es lebt heute noch. Das Zuckerpüppchen mit dem coussin rouge wirkt dagegen ziemlich leblos.

Dienstag, 2. Juli 2024

Wittheit


Ich kaufte mir für eine Mark bei Conrad Claus Otto die Karte für den Vortrag. Der Buchhändler war der einzige im Ort, bei dem man Karten für die Vorträge der Wittheitt zu Bremen bekam. Diese Bremer Wissenschaftsorganisation hatte seit 1948 eine Unterorganisation, die Vortragsvereinigung Bremen Nord, deren Vorträge in der Aula meines Gymnasiums stattfanden. Wie an diesem Abend der Vortrag des Anglistikprofessors Arno Esch. Sein Thema war Shakespeares Hamlet, und er hatte sich zwei Sätze Hamlets als Kernstelle des Stücks herausgepickt: There is a special providence in the fall of a sparrow. If it be now, 'tis not to come; if it be not to come, it will be now; if it be not now, yet it will come - the readiness is all. Das ist so ein philologischer Zaubertrick, man erklärt irgendetwas zu einer Kernstelle und macht dann bei der Interpretation alles dazu passend. Ich war schwer beeindruckt und beschloss, Anglist zu werden. Ich war neunzehn. Was ein Anglist war, das wusste ich, weil ich damals eine schwere Uwe Johnson Phase hatte. Und in dessen Roman Mutmaßungen über Jakob kommt ein Anglist vor, da hatte ich das Wort Anglist zum ersten Mal gesehen.

Ich war auf den Vortrag gut vorbereitet, ich hatte Shakespeares Hamlet noch einmal gelesen. In der Rowohlt Ausgabe (englisch-deutsch), die ich 1965 auch ins Bremer Theater zu der Hamlet Aufführung von Kurt Hübner mitnahm. Ich saß dank der Abo-Karte meiner Eltern in der ersten Reihe, als Bruno Ganz vorne im Orchestergraben seinen Monolog Sein oder Nichtsein sprach. Als er eine schicksalsschwere Kunstpause einbaute, hielt ich ihm zuvorkommend meinen mitgebrachten Rowohlt Text vor die Nase. Er wechselte beleidigt im Bühnengraben die Seite. Einige Akte später, kurz nachdem Bruno Ganz das es waltet eine besondere Vorsehung über den Fall eines Sperlings. Geschieht es jetzt, so geschieht es nicht in Zukunft; geschieht es nicht in Zukunft, so geschieht es jetzt; geschieht es jetzt nicht, so geschieht es doch einmal in Zukunft. In Bereitschaft sein ist alles rezitiert hatte, sauste eine Florettspitze neben mir in den roten Plüschboden. 

Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Das Florett war in einem Fechtkampf zwischen Bruno Ganz und Hans-Peter Hallwachs abgebrochen. Die beiden Schauspieler standen mit offenem Mund an der Bühnenrampe. Diese Hamlet Aufführung war der Beginn der Karriere des damals noch völlig unbekannten 24-jährigen Bruno Ganz: es war auch eine Hamlet Aufführung, die ich nie vergessen habe. Der Bursche ist verdammt jung, vierundzwanzig, natürlich zu schmal, zu unentwickelt, zu sehr mit sich selbst und seiner Jugend beschäftigt, zu ‚unreif’, um einen Hamlet zu spielen. Er spielt ihn. Er steht ihn durch, nicht nur physisch. Er kann das aus einem einfachen, verblüffenden, aber einleuchtenden Grund: er bringt das Bewusstsein, eigentlich zu jung zu sein für die Figur, mit in die Rolle ein. Er spielt einen Hamlet, welcher wohl weiß, dass er zu ‚unreif’ für die Welt ist, in der er lebt, zu sehr noch zögernd, fragend, neugierig, störrisch. Jung, schrieb Theater Heute damals. Das Theaterprogramm habe ich noch aufbewahrt, die sahen in der Zadek Zeit immer gleich aus: Theater Bremen in knallrot und dazwischen der Name des Stücks mit der Schreibmaschine getippt. Arno Esch begegnete mir im Studium Jahre später als Buchautor wieder. Zusammen mit Walter F. Schirmer hat er eine Kurze Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur herausgegeben. So kurz ist die Geschichte nicht, es sind immerhin 411 Seiten.

Die Wittheit zu Bremen habe ich schon in dem langen Post Geistiges Bremen erwähnt. Sie wird in diesem Jahr neunzig Jahre alt. Sie sieht ihre Aufgabe in der Veranstaltung wissenschaftlicher Vorträge, der Herausgabe wissenschaftlicher Veröffentlichungen, der Anregung und Unterstützung wissenschaftlicher Arbeiten, der Pflege der Beziehungen zu Hochschulen und anderen wissenschaftlichen Instituten, der Pflege von Tauschbeziehungen mit wissenschaftlichen Körperschaften, Instituten und Vereinigungen und der Vergabe des Bremer Preises für Heimatforschung. Dass der Verein auch die Beziehung zur Bremer Uni pflegt, ist neueren Datums. In den ersten Jahren der Bremer Uni, als die als rote Kaderschmiede galt, wahrte man eine gewisse Distanz. Die Wittheit hat ihren Sitz in diesem schönen kleinen Haus aus dem Jahre 1800, direkt neben dem Bremer Dom. Da steht mit goldenen Lettern Verein Vorwärts auf dem Haus, das war ein 1846 gegründeter Bildungsverein der Zigarrenmacher. Die Zigarrenmaakers sind die erste gewerkschaftlich organisierte Gruppe in Bremen gewesen, wo es in der Mitte des 19. Jahrhunderts 78 Tabakfabriken gab. Sie bildeten auch ein Element gesellschaftlicher Unruhe in der sonst festgefügten konservativen bürgerlichen Struktur des 19. Jahrhunderts. Ihr Zusammenschluss verfolgte neben der Wahrung sozialer Interessen auch Ziele in der Allgemeinbildung wie im Verein Vorwärts. Und sie hatten, genau wie in Kuba, auch Vorleser in der Fabrik. Vielleicht lasen die auch einmal Hamlet vor.

Die Wittheit zu Bremen gibt Jahresbände heraus, in denen es häufig thematisch kunterbunt zugeht, aber es gibt auch Themenbände. Wie diesen hier: Lebensraum Bremen-Nord: Geschichte und Gegenwart, 1989 bei Heinrich Döll in Bremen erschienen. Darin schrieb unser Nachbar Dr Ado Schiff über die Werften des Ortes, das fiel ihm leicht, denn er war der Direktor des Bremer Vulkans. Aber deshalb hatte ich das Buch nicht gesucht. Was mich interessierte, war der 25-seitige Artikel Kulturelles Leben in Bremen-Nord von Dr Johannes Schütze. Den kannte ich auch, er war der Direktor meines Gymnasiums gewesen. Er hatte bei Levin L. Schücking über Dickens' Frauenideal und das Biedermeier promoviert und war 1954 der jüngste Direktor eines Gymnasiums in Bremen geworden. Er war auch 1948 der Initiator der Vortragsvereinigung Bremen Nord gewesen. Die Liste der in vierzig Jahren eingeladenen Gelehrten ist bedeutend, es waren einige Nobelpreisträger dabei. Auch Bremer, wie der Kunsthallendirektor Günter Busch, wurden eingeladen. Vielleicht schreibe ich irgendwann eine kleine biographische Skizze über den Dr Johannes Schütze, der so viel für die Kultur des Ortes getan hat. Die Hälfte von dem, was Schütze in seiner Darstellung auflistet, war mir unbekannt. Es ist unglaublich, wie viel Kultur es damals in diesem kleinen Ort Vegesack gab.

Wenn heute jemand einen Bericht über das kulturelle Leben im Ort in den letzten zwanzig Jahren abfassen sollte, er könnte sich kurzfassen. Das Haus an der Weser, in dem Johannes Schütze wohnte, ist abgerissen. Es war ein architektonisches Kleinod, das sich der Architekt Ernst Becker-Sassenhof neben dem Ruderverein als Wohnhaus gebaut hatte. Ein Drittel der historischen Altstadt am Hafen wurde abgerissen, weil man eine gigantische Autobahn plante, die die ganze Region verändern sollte. Sie wurde nie gebaut. Zugegeben, was in Vegesack passiert ist, war nicht schön, sagte der Bürgermeister Hans Koschnik später auf einem Wahlplakat. Der Hauptarbeitgeber der Region, der Bremer Vulkan, ist pleite. Es gibt kein einziges Kino mehr im Ort. Mein Gymnasium wurde 1977 aufgelöst und auf andere Schulen verteilt. Das brauchte Johannes Schütze, der bis 1974 Direktor war, nicht mehr als Direktor zu erleben. Bremen nimmt heute bei der Schulqualität den letzten Platz aller Bundesländer ein. Ob es die Vortragsvereinigung Bremen Nord noch gibt, das weiß ich nicht.