Donnerstag, 15. Juni 2023

Tanz in den Tod


Die Herzogin von Richmond ist mit ihrem Mann im Jahre 1814 nach Brüssel gekommen. Ihr Mann wäre lieber zuhause geblieben und hätte Cricket gespielt. Dafür war er berühmt, er gehört auch zu den Gründungsmitgliedern des Marylebone Cricket Clubs. Aber zu seiner Lieblingsbeschäftigung kommt Charles Lennox nicht, es ist Krieg in Europa. Und er ist General der englischen Armee, kommandiert ein Reservekorps, das die belgische Hauptstadt sichern soll. Lennox ist mit seiner Gattin in Brüssel, weil er es sich finanziell nicht leisten kann, in England zu wohnen. Er hat mit dem Titel eines Herzogs auch Schulden in der Höhe von 180.000 Pfund Sterling geerbt (das wären heute einige Millionen Pfund). 

Aber trotz der finanziellen Engpässe gibt seine Gattin (hier von Thomas Lawrence gemalt) am 15. Juni 1815, einem Donnerstag wie heute, einen Ball. Es wird der berühmteste Ball der Geschichte. Sie hatte den Duke of Wellington gefragt, ob sie diesen Ball abhalten könne: Duke, I do not wish to pry into your secrets, nor do I ask what your intentions may be: I wish to give a ball and all I ask is – may I give a ball? If you say ‘Duchess, don’t give your ball’ it is quite sufficient. I ask no reasons. Wellington sagt ihr: Duchess, you may give your ball with the greatest safety, without fear of interruption. Sie wissen alle nicht, wo Napoleon gerade ist, Wellington glaubt, Boney sei in Paris. In Wirklichkeit ist der Korse schon vor Charleroi, fünfzig Kilometer vor Brüssel.

Über zweihundert Gäste sind da, mehr Männer als Frauen. Prinzen und Herzöge en masse. Vielleicht war der Londoner Dandy Rees Howell Gronow (ein Freund von Shelley) auch auf dem Ball, auf den Schlachtfeldern von Quatre Bras und Waterloo ist er in den nächsten beiden Tagen auf jeden Fall. Beinahe alle Herren tragen Uniform. Der Herzog von Wellington kommt kurz vor Mitternacht, er wird nicht viel Zeit zum Tanzen haben. Der Herzog von Richmond hatte seinen Töchtern das Walzertanzen verbieten wollen, aber jetzt werden Walzer getanzt. That gentleman will spoil the dancing, sagt die Herzogin zu ihrem Tanzparner Wellington, und sie meint Napoleon. Sie hat das nicht wirklich gesagt, das sagt nur Virginia McKenna zu Christopher Plummer in Sergei Bondartschuks Film Waterloo


Um ein Uhr morgens wird ein Essen serviert, Wellington hat gerade einen Brief mit einer wichtigen Botschaft bekommen. Aber er öffnet den Brief nicht, er weiß, was darin steht. Er bleibt am Tisch sitzen und macht Konversation mit seinen Nachbarn und der Herzogin. Dann steht er auf, entschuldigt sich bei den Gästen und flüstert seinem Freund dem Herzog von Richmond zu: Hast Du eine gute Karte von der Gegend? Der Herzog hat. In einem Nebenraum studieren sie die Karte. Sie wissen jetzt, wo Napoleon ist. Er hat mich wieder reingelegt, sagt Wellington. Wir werden ihn in Quatre Bras nicht aufhalten können. Ich will die Schlacht hier. Und er zeigt mit dem Finger auf Waterloo. Wellington ist da schon einmal gewesen, er hat sich die Gegend gut angeschaut. Die höheren Offiziere sind schon leise und unauffällig aus dem Saal verschwunden, aber der Ball geht immer noch weiter. Die jüngeren Offiziere tanzen ein letztes Mal mit ihren Angebeteten. Für viele ist es der letzte Tanz ihres Lebens. Sie werden morgen in Quatre Bras kämpfen. Und übermorgen in Waterloo.

Der Ball der Herzogin von Richmond ist auch in die Literatur gewandert. In Thackerays Roman Vanity Fair heißt es: There never was, since the days of Darius, such a brilliant train of camp-followers as hung round the Duke of Wellington's army in the Low Countries, in 1815; and led it dancing and feasting, as it were, up to the very brink of battle. A certain ball which a noble Duchess gave at Brussels on the 15th of June in the above-named year is historical. All Brussels had been in a state of excitement about it, and I have heard from ladies who were in that town at the period, that the talk and interest of persons of their own sex regarding the ball was much greater even than in respect of the enemy in their front. The struggles, intrigues, and prayers to get tickets were such as only English ladies will employ, in order to gain admission to the society of the great of their own nation. Die etwas amoralische Heldin Becky Sharp sagt, dass sie auch auf dem Ball gewesen ist. Und der Ball ist dann auch in dem amerikanischen Film Becky Sharp (1935) zu sehen, dem ersten abendfüllenden Technicolor Film. Gehen Sie einmal zur Minute 37:00, dann folgen die choreographisch aufregendsten vier Minuten des Films, alles ist in Bewegung. 

Lord Byron, der Napoleon bewunderte, hat den Ball in seinem Gedicht Childe Harold's Pilgrimage erwähnt:

There was a sound of revelry by night,
And Belgium’s capital had gathered then
Her beauty and her chivalry, and bright
The lamps shone o’er fair women and brave men.
A thousand hearts beat happily; and when
Music arose with its voluptuous swell,
Soft eyes looked love to eyes which spake again,
And all went merry as a marriage bell;
But hush! hark! a deep sound strikes like a rising knell.

Did ye not hear it?—No; ’twas but the wind,
Or the car rattling o’er the stony street:
On with the dance! let joy be unconfined;
No sleep till morn, when youth and pleasure meet
To chase the glowing hours with flying feet—
But, hark!—that heavy sound breaks in once more,
As if the clouds its echo would repeat
And nearer, clearer, deadlier than before!
Arm! arm! it is—it is the cannon’s opening roar.

Ah! then and there was hurrying to and fro,
And gathering tears, and tremblings of distress,
And cheeks all pale, which but an hour ago
Blush’d at the praise of their own loveliness;
And there were sudden partings, such as press
The life from out young hearts, and choking sighs
Which ne’er might be repeated: who could guess
If ever more should meet those mutual eyes,
Since upon night so sweet such awful morn could rise!

And there was mounting in hot haste: the steed,
The mustering squadron, and the clattering car
Went pouring forward with impetuous speed,
And swiftly forming in the ranks of war;
And the deep thunder, peal on peal afar;
And near, the beat of the alarming drum
Roused up the soldier ere the morning star;
While thronged the citizens with terror dumb,
Or whispering with white lips, “The foe! they come! they come!”

Last noon beheld them full of lusty life,
Last eve in Beauty’s circle proudly gay,
The midnight brought the signal sound of strife,
The morn the marshaling in arms,—the day
Battle’s magnificently stern array!
The thunder clouds close o’er it, which when rent
The earth is covered thick with other clay,
Which her own clay shall cover, heaped and pent,

Rider and horse—friend, foe—in one red burial blent.

In Sigrid Combüchens Roman Byron gibt es eine Szene, in der einige Byron Verehrer mit Hilfe der Tischplatte, einer Spalte darin sowie zwei Brieftaschen, einigen Gläsern, einer Flasche, die hin und her gerollt wurde, und einer Hand, die sich ab und zu um Gläser und Brieftaschen schloß, die Schlacht von Waterloo nachstellten. Allerdings trägt der Duke of Wellington bei ihr eine rote Uniform, was historisch falsch ist, er trägt in der Schlacht von Waterloo eine dunkelblaue Uniform. Was man hier auf diesem kleinen Schnipsel aus Bondartschuks Film ✺Waterloo sehen kann. Ab Minute 34:00 sind Sie mitten im Trubel des Balles. Wenn da die Gordon Highlanders einen Schwertertanz aufführen, dann ist das historisch korrekt, die waren wirklich als Attraktion für die Gäste auf dem Ball. I well remember the Gordon Highlanders dancing reels at the ball. My mother thought it would interest foreigners to see them, which it did. I remember hearing that some of the poor men who danced in our house died at Waterloo. There was quite a crowd to look at the Scotch dancers, schreibt Lady Louisa Lennox, die Tochter der Herzogin. Sie wird das ganze Jahrhundert durchleben und erst im Jahre 1900 sterben.

Historienfilme verändern immer die Wirklichkeit, der Film Becky Sharp hat mit der Wirklichkeit der Nacht von Brüssel und den Tagen von Quatre Bras, Ligny und Waterloo nichts zu tun. Wir können Sergei Bondartschuk schon dankbar sein, dass er uns in Filmen wie Krieg und Frieden und Waterloo ein klein wenig von der Zeit wiedergegeben hat. Der Thackeray des 21. Jahrhunderts heißt Julian Fellowes, er ist jetzt ein Baron Fellowes, um genau zu sein. Er hat einen Roman geschrieben, der mit dem Ball der Herzogin von Richmond beginnt. Und der musste natürlich verfilmt werden, historisch genau, wie es sich für eine Literaturverfilmung und einen Kostümfilm gehört (lesen Sie hier mehr dazu). Hier sehen wir den Herzog von Wellington bei Quatre Bras. Er trägt eine blaue Uniform, wahrscheinlich dieselbe, die er am Abend zuvor bei der Herzogin von Richmond getragen hat. Der blaue Reitmantel, den er hier trägt, ist übrigens für  47.500 £ vom National Army Museum in London ersteigert worden.
 
In dem Genre Kostümfilme kennt sich Fellowes aus, er hat die Drehbücher für Gosford Park und Downtown Abbey geschrieben. Die neue TV Serie heißt wie sein Roman Belgravia, sie ist bunt und plüschig. Und Nicholas Rowe trägt als Herzog von Wellington eine rote Uniform beim Ball der Richmonds. Es ist eine Phantasieuniform, man hätte sich besser an dem Portrait von Thomas Lawrence orientieren sollen. Sie können, wenn Sie wollen, hier den ersten Teil der Serie sehen. 

Die Rezensionen waren sehr gemischt, der Rezensent des Guardian beendete seine Besprechung mit den Sätzen: So: something to pass the time as the coronavirus curfew descends, or something to send you screaming into the streets and licking the first handrail you can find? The decision is yours. The agents, at least, are happy either way. Aber woher soll es kommen? Der Roman Belgravia ist eine schlecht geschriebene Schmonzette (unter dem Pseudonym Rebecca Greville hatte Fellowes in den siebziger Jahren schon Schundromane verfasst), die vorgibt, ein Gesellschaftsroman zu sein. Tolstoi und Fontane schreiben Gesellschaftsromane, der Lord Fellowes nicht.

Montag, 12. Juni 2023

meine Uhrmacher


1958 wurde es meiner Mutter zuviel mit Vaddis alter Junghans, die noch aus der Vorkriegszeit stammte. Zumal die auch immer häufiger zu Hugo Molgedei zur Reparatur musste. Sie kaufte ihm im vornehmstem Geschäft von Bremen, Brinckmann und Lange in der Sögestrasse Nummer 1, eine Eternamatic, Edelstahl mit Goldhaube. Weil ihr der Verkäufer gesagt hatte, dass diese Uhr aus der Präzisionsuhrenfabrik in Grenchen das Beste sei, was man kaufen könnte. Von Rolex war in dem Geschäft damals nicht die Rede. Die Eterna, die schon das neue Werk hat, das in den Centenaire Modellen war, hatte, das muss betont werden, nur eine Goldhaube, ganz in Gold hätte Vaddi die nicht genommen. 

Brinckmann und Lange hatte sich durch Geschenke an den Oldenburger Großherzog den Titel eines Hoflieferanten Sr. königl. Hoheit des Großsherzogs von Oldenburg erkauft. Später kommt noch ein Hoflieferant Titel vom Fürsten von Lippe dazu. Für diesen Titel hatte man 1.200 Goldmark an das Hofmarschallamt in Detmold zahlen müssen. Die wohlklingenden Titel wurden in Bremen nicht so gut aufgenommen, weil wir es ja nicht so mit Königs haben. Sprüche machen die Runde, ob der nächste Hof der Viehhof oder der Schlachthof sein würde. Von der Firma Brinckmann und Lange ist nichts übriggeblieben, sie haben den Standort aufgegeben, da ist heute ein Handyshop drin. Sie schwirren noch irgendwo im Internet mit einem Onlinehandel herum. Aber dafür haben wir am anderen Ende der Sögestraße jetzt Wempe, einen Laden, den Bremer immer etwas prollig fanden. Die haben jetzt auch schon Onlinehandel. Und auch von der Firma Eterna ist nichts Positives mehr zu melden, sie gehört jetzt einem chinesischen Unternehmen.

Ich habe die alte Eterna meines Vaters geerbt. Ich habe ihr ein neues Band verpasst (nicht dieses hier auf dem Photo) und sie zu Mahlberg zur Überholung gebracht. Die hatten damals einen hervorragenden Uhrmacher namens Burkhard Weißflog, er war ein Verwandter des Skispringers, jeder sprach ihn darauf an. Als Herr Weißflog mir die Eterna wiedergab, sagte er: Das ist eine sehr gute Uhr, Herr Doktor, passen Sie gut auf sie auf. Das ich natürlich tat. Ich bin damals zu Mahlberg gegangen, weil es sonst im Ort keinen Uhrmacher gab. Aber Herr Weißflog arbeitet nicht mehr als Uhrmacher, er hat das seit 1902 bestehende Gravurgeschäft Wolter übernommen. Uhrmacher werden rar. 

In der Holtenauer Straße in Kiel gab es noch den Juwelier Sievert, 1925 gegründet. Die hatten eine Tissot Lizenz und bekamen noch Tissot Ersatzteile. Bei denen bin ich mit meiner Tissot Seastar Seven, die meine Eltern bei Molgedei gekauft hatten, zweimal gewesen, nicht nur, weil sie die Tissot Vertretung hatten, sondern weil die beiden Söhne des Gründers noch richtige Uhrmacher waren. Die meine Tissot gut gepflegt haben. Im letzten Monat hat Thorsten Sievert, der Enkel des Firmengründers, angekündigt, dass er das Geschäft schliessen wird, er findet keinen Nachfolger. Wieder ein Uhrmacher weniger im Ort.

In der Holtenauer Straße gab es auch noch den Uhrmacher Kresse, aber mit dem bin ich nie so richtig warm geworden. Uhrmacher können ja schwierige Menschen sein. Aber als er den Laden aufgegeben hatte, hat er mir auf dem Flohmarkt eine tolle rechteckige Wyler verkauft, da war er richtig nett. Irgendwie schien eine Last von ihm genommen zu sein. Manche Uhrmacher schließen den Laden an einigen Wochentagen, damit sie in Ruhe arbeiten können. Als Herr Kresse merkte, dass ich schon alles über diese Uhr mit ihrer Incaflex Stoßsicherung wusste, hat er sie mir billiger gelassen. Er hatte zwar den Laden aufgegeben, reparierte aber noch privat für seine ehemalige Kundschaft. Meistens Großuhren für ältere Damen.

Mit Kresses Nachfolger wurde ich sehr glücklich. Der junge Uhrmacher war vorher Flugzeugelektriker bei den Vereinigten Flugtechnischen Werken in Lemwerder gewesen, deren Direktor mal der Dr Proksch war. Dann hatte er eine Uhrmacherlehre bei Henning Paulsen gemacht und hatte bei Eckelt in Vegesack gearbeitet; mit der Tochter des Besitzers war ich in der Volksschule gewesen. Und meine Eltern hatten meine Konfirmations Junghans bei Eckelt gekauft. Henning Paulsen kannte ich auch, er ist der Bremer Domuhrmacher. Der kam einmal im Jahr bei uns vorbei, um die Standuhr im Flur zu warten. Und er hat Opas silberne Eterna Taschenuhr überholt, bevor ich die von meinen Eltern geschenkt bekam. Er hat jetzt sein Geschäft ganz luxuriös in Knoops Park; als er noch hinter der Lesumbrücke beheimatet war, war das nicht so luxuriös. Aber, das muss jetzt leider gesagt werden, Henning Paulsen gibt seinen Beruf demnächst auch auf. Wieder ein Uhrmacher weniger.

Es war witzig, jetzt einen Uhrmacher zu haben, der aus meinem Heimatort kam. Er war ein Uhrmacher, der uhrmacherisch wirklich alles konnte, auch das Unmögliche. Von ihm habe ich die Seamaster Chronometer und den Tip, wo ich eine goldene Omega Constellation für einen Spottpreis bekommen konnte. Und vieles mehr. Aber leider hat er nach mehr als einem Jahrzehnt seinen Laden aufgegeben. Er ist jetzt, und das werden Sie nicht glauben, Hundefriseur in einer anderen Stadt. Da hat er keinen Ärger mehr mit den Kunden. Er hatte mal einen Auszubildenden, aber der hatte zwei linke Hände und schmiss die Lehre nach drei Monaten hin. Das Problem des Nachwuchses hat der Berufstand deutschlandweit. Und wer will die Kunst der Uhrmacherei erlernen, wenn er hinterher nur noch Batterien für Quarzuhren wechseln muss? Bei Nomos in Glashütte bekommen die angehenden Uhrmacher noch politische Bildung mit auf den Weg, die Geschäftsführerin Judith Borowski möchte keine Angestellten haben, die der AfD nahestehen.

Uhrmacher müssen das können, was Gehirnchirurgen und Zahnärzte können, Millimeterarbeit mit ruhiger Hand. Als ich vor mehr als dreißig Jahren zu sammeln anfing, habe ich mir auf dem Flohmarkt für fünf Mark eine alte Taschenuhr gekauft und sie in ihre Einzelteile zerlegt. Die habe ich alle auf einen DIN A3 Karton gelegt und durchnummeriert. Und es langsam, peu à peu, wieder zusammengebaut. Wenn Sie einen Hund oder eine Katze haben, können Sie das natürlich nicht machen.

Das alles (und das Auswendiglernen von allen einzelnen Bestandteilen einer Uhr) macht niemanden zum Uhrmacher, aber man versteht die Arbeit eines Uhrmachers besser. Jahre später habe ich das Werk einer kleinen defekten Hamilton Armbanduhr an einem Wochende auseinandergenommen und wieder zuammengebaut, darauf war ich stolz. Ich hatte zwei von diesen Uhren, es waren Militäruhren aus dem Zweiten Weltkrieg. Die waren zwergenhaft klein, hatten nichts mit der Hamilton Khaki Quarzuhr zu tun, die heute Hamiltons Bestseller ist.

Ich habe meinem Uhrmacher gesagt, er möchte mir aus den beiden Uhren eine heile, funktionierende, machen. Das hat er getan, das defekte Werk hat er mir zum Üben mitgegeben. Das Werk mit der Kalibernummer 987 ist ein sehr kleines Werk, 24 Millimeter im Durchmesser, da ist schon Fummelei angesagt. Sie haben das ja nur hingekriegt, weil da keine Unruh mehr in der Uhr war, sagte mein Uhrmacher. Da hatte er natürlich recht. Eine Breguetspirale würde ich nie wieder dahin bekommen, wohin sie gehört.

Wichtig für einen Uhrmacher ist es, dass der Fourniturenhandel funktioniert. Jeder Uhrmacher kann eine Rolex reparieren, wenn er an die Ersatzteile kommt, aber an die kommt er nicht. Und wenn er sie auf dem schwarzen Markt besorgt, dann wird jedes Schräubchen teuer. Die großen Schweizer Firmen haben Ersatzteillieferung und Service an sich gebunden, und sie verdienen gut damit. Wie sie den Markt beherrschen, ist manchmal schon kriminell. Aber die Schweizer Wettbewerbskommission hat trotzdem keinen Grund gesehen, gegen die Swatch Group, LVMH, Rolex, Richemont, Audemars Piguet und Breitling vorzugehen, obgleich sich die Beschwerden im Land häuften. Eine Batteriewechsel für 740 Franken bei einer Breitling ist vielleicht ein klein wenig überteuert. 

Kresse hatte noch eine Omega Lizenz, von der auch sein Nachfolger profitierte (und meine Omegas auch), aber die Lizenz hat Omega inzwischen zurückgenommen. Die IWC repariert noch Taschenuhren, die sie 1870 gebaut haben, Rolex repariert Ihnen keine Rolex Oyster aus den fünfziger Jahren mehr. Die machen dem Uhrenbesitzer ein Sonderangebot für einen Neukauf. Die meisten Uhrensammler besitzen den Fournituren Katalog von Flume oder anderen Firmen, aber nicht alles, was da drinsteht, ist heute noch lieferbar. Oder die finden das Teil bei Flume einfach nicht, obgleich es irgendwo liegt.

Mein Uhrmacher heißt zur Zeit Barni, der ist zwar kein richtiger Uhrmacher, aber ein halber bestimmt schon. Der würde dem Besitzer einer Breitling fünf Euro für einen Batteriewechsel abnehmen und keine 740 Schweizer Franken. Für die neue Batterie für meine Omega Megaquartz hat er gar nichts genommen, ich hatte noch etwas bei ihm gut. Dieses schöne Designobjekt der siebziger Jahre hatte ich von meinem Uhrmacher geschenkt bekommen. Ein Kunde hatte ihm hundert Euro nur für die Omega Schließe bezahlt, die an seiner Megaquartz kaputtgegangen war. Ich mach' Ihnen da eine neutrale Schließe dran, sagte mein Uhrmacher. Nee, sagte ich, ich nehme sie so mit, ich habe zuhause noch eine Tissot Schließe. Und die ist jetzt dran (selbstgemacht), schließlich waren Omega und Tissot ja mal eine Firma.

Ich kenne den Barni seit mehr als dreißig Jahren, und ich habe viel bei ihm gekauft. Zu echten Freundschaftspreisen. Er stand auch schon im Jahre 2010 in dem Post Flohmarkt. Er findet erstaunliche Sachen, die orangegelbe Doxa 300 T habe ich auch von ihm. Er zeigt mir alles, was er hat, aber er verkauft nicht alles. Vor allem diese Eternamatic Super Kontiki nicht, die er letztens gefunden hat. Dabei wäre die bei mir als Eterna Sammler gut aufgehoben, eine Eternamatic KonTiki habe ich ja schon.

Der Barni kauft und verkauft alte Uhren, der braucht natürlich einen Uhrmacher dringender als ich. Und er hat einen sehr guten, das ist der Uhrmacher Michael Petersen in Flintbek. Der hat mir gerade meine Zenith Defy mit dem Gay Frères Band repariert, die eine neue Aufzugsfeder brauchte. Ist nach fünfzig Jahren jetzt wieder wie neu. Meine neue Eterna Centenaire hat auch eine neue Feder gekriegt, und vielleicht findet Herr Petersen ja noch eine neue Winkelhebelfeder für meine Movado Kingmatic. Die hat ihm der Barni letztens zur Reparatur vorbeigebracht. 

Ich bin den beiden wirklich dankbar. Der Barni kriegt natürlich von mir auch etwas zurück. Er zapft mein Wissen an, das ich in Jahrzehnten aus all den Uhrenbüchern gewonnen habe. die bei mir schon mehrere Regalmeter füllen. Wenn seine Eterna Super KonTiki mal Probleme haben sollte, dann habe ich das vollständige Verzeichnis aller Eterna Uhren und ihrer Teile für ihn. Der Barni ist ein treuer Freund, zum Geburtstag bekam ich von ihm ein Paar Manschettenknöpfe geschenkt, die aus winzigkleinen Damenuhrwerken bestanden. So etwas hat nicht jeder Uhrensammler.

Freitag, 9. Juni 2023

A beleza que não é só minha


Olha que coisa mais linda, 
mais cheia de graça
É ela, menina, que vem e que passa
Num doce balanço a caminho do mar
Moça do corpo dourado, do Sol de Ipanema
O seu balançado é mais que um poema
É a coisa mais linda que eu já vi passar

Ah, por que estou tão sozinho?
Ah, por que tudo é tão triste?
Ah, a beleza que existe
A beleza que não é só minha
Que também passa sozinha

Ah, se ela soubesse 
que quando ela passa
O mundo inteirinho se enche de graça
E fica mais lindo por causa do amor
Por causa do amor
Por causa do amor 


Der brasilianische Dichter Vinícius de Moraes hat dies schöne Gedicht geschrieben, ein Gedicht von der Anmut und Schönheit einer jungen schlanken Frau, die am Strand entlanggeht. Die Männer schauen ihr nach, und sie wissen, dass sie niemals im Leben eine solch schöne Frau bekommen werden: A beleza que não é só minha. Wenn die Frau nur wüsste, dass wenn sie vorbeigeht, die ganze Welt mit Anmut erfüllt wird. Und schöner wird, durch die Liebe. Antônio Carlos Jobim hat das Gedicht vertont, und er hat es João Gilberto gegeben, damit der das Lied singt. Der arbeitete gerade mit Stan Getz zusammen, und Getz sagte so etwas wie: Eigentlich könnte Deine Frau mitmachen, sie könnte den Refrain singen. Auf englisch. Die Frau von João Gilberto konnte englisch, ihr Vater, der deutsche Einwanderer Fritz Weinert, hatte ihr das beigebracht. 

Die Frau von João Gilberto war schon einmal mit zwei Liedern ihres Mannes aufgetreten. Aber eigentlich wollte sie nie Sängerin werden, sie hatte nur ihren Mann zum Studio begleitet. Sie war dreiundzwanzig, und wenn sie am Strand entlangging, schauten ihr die Männer nach. Weil sie linda, mais cheia de graça war. Sie sang den englischen Refrain zu dem Lied von Antônio Carlos Jobim. Sie trat dann einmal mit der englischen Fassung im Fernsehen auf. Sie konnte nicht besonders gut singen, aber das Saxophon von Stan Getz reißt alles raus. Und Stan Getz begleitete sie auch in dem kleinen Film Get Yourself a College Girl, in dem sie mit dem Lied auftrat. Das war 1964, da ließ ihr Mann sich von ihr scheiden. Und gleichzeitig erschien die Platte, die sie im Vorjahr mit ihrem Mann und Stan Getz aufgenommen hatte. Die Platte wurde ein Welterfolg. Nur wegen ihr. Wir alle hatten das Lied, von dem sie den englischen Refrain sang, damals alle in unseren Köpfen und träumten von den schönen schlanken Frauen, die es nur am Strand von Ipanema gab. 

Astrud Gilberto, the Girl from Ipanema, die zu einer Ikone des Bossa Nova geworden war und deren Lied wir nicht aus unseren Köpfen bekommen, ist sechzig Jahre nach ihrem Welterfolg im Alter von dreiundachtzig Jahren gestorben. Sie ist in diesem Blog schon in den Posts Saudade, Brasilien und Monica Zetterlund erwähnt worden. Ich nehme an, dass Sie genau wie ich, jetzt all die Astrud Gilberto CDs auflegen, die Sie haben.


Mittwoch, 7. Juni 2023

Dandyismus


George Bryan Brummell, den wir besser als Beau Brummell kennen, wurde heute vor 245 Jahren in London geboren. Er war ein Dandy, der mehrere Stunden brauchte, um sich anzukleiden. Weil er perfekt sein wollte, nicht auffallen wollte: To be truly elegant one should not be noticed. Aufzufallen ist gefährlich für einen Dandy: If people turn to look at you on the street, you are not well dressed, but either too stiff, too tight, or too fashionable. Brummell polierte seine Stiefel mit Champaganer. Er wurde hier kürzlich in dem Post Richard von Schaukal erwähnt, und es gibt natürlich schon seit langem den Post Beau BrummellVon 1799 bis 1814 hat es in London keine Festlichkeit gegeben, wobei nicht die Anwesenheit des großen Dandys als ein Triumph, seine Abwesenheit als eine Katastrophe betrachtet worden wäre, schrieb der französische Schriftsteller Jules Barbey d’Aurevilly in seiner Biographie, die Sie in der Übersetzung von Richard von Schaukal hier lesen können. 

Der Dandy ist ein Mann, dessen Status, Arbeit und Existenz im Tragen von Kleidung besteht. Er widmet jedes Vermögen seiner Seele, seines Geistes, seiner Geldbörse und seiner Person heldenhaft der Kunst, seine Kleidung gut zu tragen: Während die anderen sich kleiden, um zu leben, lebt er, um sich zu kleiden, hat Thomas Carlyle 1834 in Sartor Resartus gesagt. Zu dem Buch bemerkte der große Dandy Max Beerbohm (der in den 1890er Jahren seine wunderbaren Skizzen schrieb, die als Dandies and Dandies erschienen) etwas gehässig: That anyone who dressed so badly as did Thomas Carlyle should have tried to construct a philosophy of clothes has always seemed to me one of the most pathetic things in literature.

Ich kann Barbey d’Aurevilly, Carlyle und Max Beerbohm heute im Vollttext anbieten, aber leider nicht das Buch The Dandy: Brummell to Beerbohm von Ellen Moers, da kann man im Internet Archive nur die ersten Seiten sehen. Aber heute am Geburtstag von George Brummell kann ich einen Text präsentieren, der vielleicht nicht so bekannt ist. Es ist ein Essay, den die Autorin am 20. November 1929 in der Sendereihe Miniature Biographies der BBC vorlas. Er wurde Tage später in der BBC Zeitschrift The Listener gedruckt, und sie hat ihn dann 1932 in ihr Buch The Common Reader: Second Series aufgenommen. Der Essay heißt George Brummell und die Autorin ist niemand anders als Virginia Woolf. Auf deutsch ist der Essay im Jahre 2015 im Steidl Verlag erschienen, aber Sie wollen sicherlich das Original lesen, das ich Ihnen hier anbieten kann:

When Cowper, in the seclusion of Olney, was roused to anger by the thought of the Duchess of Devonshire and predicted a time when "instead of a girdle there will be a rent, and instead of beauty, baldness", he was acknowledging the power of the lady whom he thought so despicable. Why, otherwise, should she haunt the damp solitudes of Olney? Why should the rustle of her silken skirts disturb those gloomy meditations? Undoubtedly the Duchess was a good haunter. Long after those words were written, when she was dead and buried beneath a tinsel coronet, her ghost mounted the stairs of a very different dwelling-place. 

An old man was sitting in his arm-chair at Caen. The door opened, and the servant announced, "The Duchess of Devonshire". Beau Brummell at once rose, went to the door and made a bow that would have graced the Court of St. James's. Only, unfortunately, there was nobody there. The cold air blew up the staircase of an Inn. The Duchess was long dead, and Beau Brummell, in his old age and imbecility, was dreaming that he was back in London again giving a party. Cowper's curse had come true for both of them. The Duchess lay in her shroud, and Brummell, whose clothes had been the envy of kings, had now only one pair of much-mended trousers, which he hid as best he could under a tattered cloak. As for his hair, that had been shaved by order of the doctor.

But though Cowper's sour predictions had thus come to pass, both the Duchess and the dandy might claim that they had had their day. They had been great figures in their time. Of the two, perhaps Brummell might boast the more miraculous career. He had no advantage of birth, and but little of fortune. His grandfather had let rooms in St. James's Street. He had only a moderate capital of thirty thousand pounds to begin with, and his beauty, of figure rather than of face, was marred by a broken nose. Yet without a single noble, important, or valuable action to his credit he cuts a figure; he stands for a symbol; his ghost walks among us still. The reason for this eminence is now a little difficult to determine. Skill of hand and nicety of judgment were his, of course, otherwise he would not have brought the art of tying neck-cloths to perfection. The story is, perhaps, too well known—how he drew his head far back and sunk his chin slowly down so that the cloth wrinkled in perfect symmetry, or if one wrinkle were too deep or too shallow, the cloth was thrown into a basket and the attempt renewed, while the Prince of Wales sat, hour after hour, watching. Yet skill of hand and nicety of judgment were not enough. 

Brummell owed his ascendency to some curious combination of wit, of taste, of insolence, of independence—for he was never a toady—which it were too heavy-handed to call a philosophy of life, but served the purpose. At any rate, ever since he was the most popular boy at Eton, coolly jesting when they were for throwing a bargee into the river, "My good fellows, don't send him into the river; the man is evidently in a high state of perspiration, and it almost amounts to a certainty that he will catch cold", he floated buoyantly and gaily and without apparent effort to the top of whatever society he found himself among. Even when he was a captain in the Tenth Hussars and so scandalously inattentive to duty that he only knew his troop by "the very large blue nose" of one of the men, he was liked and tolerated. When he resigned his commission, for the regiment was to be sent to Manchester—and "I really could not go—think, your Royal Highness, Manchester!"—he had only to set up house in Chesterfield Street to become the head of the most jealous and exclusive society of his time. 

For example, he was at Almack's one night talking to Lord ——. The Duchess of —— was there, escorting her young daughter, Lady Louisa. The Duchess caught sight of Mr. Brummell, and at once warned her daughter that if that gentleman near the door came and spoke to them she was to be careful to impress him favourably, "for", and she sank her voice to a whisper, "he is the celebrated Mr. Brummell". Lady Louisa might well have wondered why a Mr. Brummell was celebrated, and why a Duke's daughter need take care to impress a Mr. Brummell. And then, directly he began to move towards them, the reason of her mother's warning became apparent. The grace of his carriage was so astonishing; his bows were so exquisite. Everybody looked overdressed or badly dressed—some, indeed, looked positively dirty—beside him. His clothes seemed to melt into each other with the perfection of their cut and the quiet harmony of their colour. Without a single point of emphasis everything was distinguished—from his bow to the way he opened his snuff-box, with his left hand invariably. He was the personification of freshness and cleanliness and order. One could well believe that he had his chair brought into his dressing-room and was deposited at Almack's without letting a puff of wind disturb his curls or a spot of mud stain his shoes. 

When he actually spoke to her, Lady Louisa would be at first enchanted—no one was more agreeable, more amusing, had a manner that was more flattering and enticing—and then she would be puzzled. It was quite possible that before the evening was out he would ask her to marry him, and yet his manner of doing it was such that the most ingenuous debutante could not believe that he meant it seriously. His odd grey eyes seemed to contradict his lips; they had a look in them which made the sincerity of his compliments very doubtful. And then he said very cutting things about other people. They were not exactly witty; they were certainly not profound; but they were so skilful, so adroit—they had a twist in them which made them slip into the mind and stay there when more important phrases were forgotten. He had downed the Regent himself with his dexterous "Who's your fat friend?" and his method was the same with humbler people who snubbed him or bored him. "Why, what could I do, my good fellow, but cut the connection? I discovered that Lady Mary actually ate cabbage!"—so he explained to a friend his failure to marry a lady. And, again, when some dull citizen pestered him about his tour to the North, "Which of the lakes do I admire?" he asked his valet. "Windermere, sir." "Ah, yes—Windermere, so it is—Windermere." That was his style, flickering, sneering, hovering on the verge of insolence, skimming the edge of nonsense, but always keeping within some curious mean, so that one knew the false Brummell story from the true by its exaggeration. Brummell could never have said, "Wales, ring the bell", any more than he could have worn a brightly coloured waistcoat or a glaring necktie. That "certain exquisite propriety" which Lord Byron remarked in his dress stamped his whole being, and made him appear cool, refined, and debonair among the gentlemen who talked only of sport, which Brummell detested, and smelt of the stable, which Brummell never visited. Lady Louisa might well be on tenter-hooks to impress Mr. Brummell favourably. Mr. Brummell's good opinion was of the utmost importance in the world of Lady Louisa.

And unless that world fell into ruins his rule seemed assured. Handsome, heartless, and cynical, the Beau seemed invulnerable. His taste was impeccable, his health admirable, and his figure as fine as ever. His rule had lasted many years and survived many vicissitudes. The French Revolution had passed over his head without disordering a single hair. Empires had risen and fallen while he experimented with the crease of a neck-cloth and criticised the cut of a coat. Now the battle of Waterloo had been fought and peace had come. The battle left him untouched; it was the peace that undid him. For some time past he had been winning and losing at the gaming-tables. Harriette Wilson had heard that he was ruined, and then, not without disappointment, that he was safe again. Now, with the armies disbanded, there was let loose upon London a horde of rough, ill-mannered men who had been fighting all those years and were determined to enjoy themselves. They flooded the gaming-houses. They played very high. Brummell was forced into competition. He lost and won and vowed never to play again, and then he did play again. At last his remaining ten thousand pounds was gone. He borrowed until he could borrow no more. And finally, to crown the loss of so many thousands, he lost the sixpenny-bit with a hole in it which had always brought him good luck. He gave it by mistake to a hackney coachman: that rascal Rothschild got hold of it, he said, and that was the end of his luck. Such was his own account of the affair—other people put a less innocent interpretation on the matter. At any rate there came a day, 16th May 1816, to be precise—it was a day upon which everything was precise—when he dined alone off a cold fowl and a bottle of claret at Watier's, attended the opera, and then took coach for Dover. He drove rapidly all through the night and reached Calais the day after. He never set foot in England again.

And now a curious process of disintegration set in. The peculiar and highly artificial society of London had acted as a preservative; it had kept him in being; it had concentrated him into one single gem. Now that the pressure was removed, the odds and ends, so trifling separately, so brilliant in combination, which had made up the being of the Beau, fell asunder and revealed what lay beneath. At first his lustre seemed undiminished. His old friends crossed the water to see him and made a point of standing him a dinner and leaving a little present behind them at his bankers. He held his usual levee at his lodgings; he spent the usual hours washing and dressing; he rubbed his teeth with a red root, tweezed out hairs with a silver tweezer, tied his cravat to admiration, and issued at four precisely as perfectly equipped as if the Rue Royale had been St. James's Street and the Prince himself had hung upon his arm. But the Rue Royale was not St. James's Street; the old French Countess who spat on the floor was not the Duchess of Devonshire; the good bourgeois who pressed him to dine off goose at four was not Lord Alvanley; and though he soon won for himself the title of Roi de Calais, and was known to workmen as "George, ring the bell", the praise was gross, the society coarse, and the amusements of Calais very slender. 

The Beau had to fall back upon the resources of his own mind. These might have been considerable. According to Lady Hester Stanhope, he might have been, had he chosen, a very clever man; and when she told him so, the Beau admitted that he had wasted his talents because a dandy's way of life was the only one "which could place him in a prominent light, and enable him to separate himself from the ordinary herd of men, whom he held in considerable contempt". That way of life allowed of verse-making—his verses, called "The Butterfly's Funeral", were much admired; and of singing, and of some dexterity with the pencil. But now, when the summer days were so long and so empty, he found that such accomplishments hardly served to while away the time. He tried to occupy himself with writing his memoirs; he bought a screen and spent hours pasting it with pictures of great men and beautiful ladies whose virtues and frailties were symbolised by hyenas, by wasps, by profusions of cupids, fitted together with extraordinary skill; he collected Buhl furniture; he wrote letters in a curiously elegant and elaborate style to ladies. But these occupations palled. The resources of his mind had been whittled away in the course of years; now they failed him. And then the crumbling process went a little farther, and another organ was laid bare—the heart. He who had played at love all these years and kept so adroitly beyond the range of passion, now made violent advances to girls who were young enough to be his daughters. He wrote such passionate letters to Mademoiselle Ellen of Caen that she did not know whether to laugh or to be angry. She was angry, and the Beau, who had tryannised over the daughters of Dukes, prostrated himself before her in despair. But it was too late—the heart after all these years was not a very engaging object even to a simple country girl, and he seems at last to have lavished his affections upon animals. He mourned his terrier Vick for three weeks; he had a friendship with a mouse; he became the champion of all the neglected cats and starving dogs in Caen. Indeed, he said to a lady that if a man and a dog were drowning in the same pond he would prefer to save the dog—if, that is, there were nobody looking. 

But he was still persuaded that everybody was looking; and his immense regard for appearances gave him a certain stoical endurance. Thus, when paralysis struck him at dinner he left the table without a sign; sunk deep in debt as he was, he still picked his way over the cobbles on the points of his toes to preserve his shoes, and when the terrible day came and he was thrown into prison he won the admiration of murderers and thieves by appearing among them as cool and courteous as if about to pay a morning call. But if he were to continue to act his part, it was essential that he should be supported—he must have a sufficiency of boot polish, gallons of eau-de-Cologne, and three changes of linen every day. His expenditure upon these items was enormous. Generous as his old friends were, and persistently as he supplicated them, there came a time when they could be squeezed no longer. It was decreed that he was to content himself with one change of linen daily, and his allowance was to admit of necessaries only. But how could a Brummell exist upon necessaries only? The demand was absurd. Soon afterwards he showed his sense of the gravity of the situation by mounting a black silk neck-cloth. Black silk neck-cloths had always been his aversion. It was a signal of despair, a sign that the end was in sight. 

After that everything that had supported him and kept him in being dissolved. His self-respect vanished. He would dine with anyone who would pay the bill. His memory weakened and he told the same story over and over again till even the burghers of Caen were bored. Then his manners degenerated. His extreme cleanliness lapsed into carelessness, and then into positive filth. People objected to his presence in the dining-room of the hotel. Then his mind went—he thought that the Duchess of Devonshire was coming up the stairs when it was only the wind. At last but one passion remained intact among the crumbled debris of so many—an immense greed. To buy Rheims biscuits he sacrificed the greatest treasure that remained to him—he sold his snuff-box. And then nothing was left but a heap of disagreeables, a mass of corruption, a senile and disgusting old man fit only for the charity of nuns and the protection of an asylum. There the clergyman begged him to pray. "'I do try', he said, but he added something which made me doubt whether he understood me." Certainly, he would try; for the clergyman wished it and he had always been polite. He had been polite to thieves and to duchesses and to God Himself. But it was no use trying any longer. He could believe in nothing now except a hot fire, sweet biscuits, and another cup of coffee if he asked for it. 

And so there was nothing for it but that the Beau who had been compact of grace and sweetness should be shuffled into the grave like any other ill-dressed, ill-bred, unneeded old man. Still, one must remember that Byron, in his moments of dandyism, "always pronounced the name of Brummell with a mingled emotion of respect and jealousy".

Virginia Woolf beginnt ihren Essay mit dem Ende von Brummel, in dem Punkt ist der Franzose Michel Onfray in seinem kleinen Buch Leben und Tod eines Dandys: Die Konstruktion eines Mythos noch genauer. Und bösartiger: Am Abend des 16. Mai 1816 aß Brummel in einem der Dandy-Clubs Geflügel und trank dazu einen edlen Bordeaux. Später ließ er sich in der Oper blicken. Nach diesem letzten Auftritt stieg er in seine mit ausgewählten Gegenständen bepackte Kutsche und fuhr durch ärmliche Viertel zum Hafen. Am 17. schiffte er sich nach Calais ein. Am 19. überquerte er den Ärmelkanal, während Gläubiger seine Londoner Wohnung versiegeln ließen. Am 22. wurde sein Hab und Gut in London versteigert. George Bryan Brummel war damals neununddreißig Jahre alt und hatte noch dreiundzwanzig Jahre der Verwahrlosung vor sich. Sie waren das Gegenteil dessen, was man sich unter Dandyismus vorstellt.

Wenn Sie lieber bewegte Bilder haben wollen, dann habe ich auch noch den Film Beau Brummell: This Charming Man für Sie.


Sonntag, 4. Juni 2023

Prittwitz


Wenn die Bundesregierung sich zu einer Klausurtagung zusammenfindet, dann tagt sie seit zwanzig Jahren im Schloss Neuhardenberg, einem schönen klassizistischen Schloss, das die Handschrift Karl Friedrich Schinkels verrät. Ursprünglich war da ein barockes Herrenhaus aus dem 18. Jahrhundert, und der Ort Neuhardenberg hieß Quilitz. Der erste Besitzer des Schlosses hat eine denkwürdige Karriere. O Vater! O König, O gnädiger Herr! schau, wie ich Dir jetzund mein Schicksal erklär, so beginnt das Gedicht, das der Premierleutnant Joachim Bernhard von Prittwitz 1758 an seinen König schreibt. Es ist ein Bittgedicht, der Leutnant braucht Geld. Wenn Sie das Gedicht ganz lesen wollen (es ist sehr lang), dann klicken Sie hier. Der König antwortet seinem Untergebenen auch in Versen: Wer dieses so artig in Verse gebracht, dem werden 500 Dukaten vermacht. – Ich bin Euer wohlaffectionirter König Friedrich.

Es bleibt nicht bei dem Geldgeschenk von fünfhundert Dukaten, fünf Jahre später erhält Joachim Bernhard von Prittwitz (der heute vor zweihundertdreißg Jahren starb) vom König das Gut Quilitz als Dotation. Der König hat einen Grund für diese Großzügigkeit, der Rittmeister von Prittwitz hat ihm in der Schlacht von Kunersdorf das Leben gerettet. Mit einer kleinen Schar von Ziethens Husaren haut er seinen König mit dem Säbel aus den sich andrängenden Kroaten heraus. Herr, darauf verlasse Er sich, daß ich Ihm das nie vergessen werde, sagt ihm der König. Dies ist eine Schlacht, die Friedrich verliert. Auf dem Rücken vom Prittwitz schrieb er mit Bleistift auf Papier an den Minister Finckenstein in Berlin: Alles ist verloren, retten Sie die königliche Familie, Adieu für immer

Alles über die Schlacht erfahren wir natürlich bei Theodor Fontane, der sie uns in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg nacherzählt. Der König ist in seinem Bericht über die Schlacht etwas kürzer, aber Prittwitz bleibt nicht unerwähnt: le Roi se retira le dernier, et il aurait été pris par les ennemis, si M. de Prittwitz ne les eût attaqués avec cent hussards, pour lui donner le temps de repasser le défilé. Fontane wird noch in seinem Roman Vor dem Sturm (der hier einen langen Post hat) unseren Prittwitz erwähnen: in den Tagen, die dem Siebenjährigen Kriege unmittelbar folgten, lebten die Lestwitz und Prittwitz freundnachbarlich beieinander; Prittwitz, der bei Kunersdorf den König, Lestwitz, der bei Torgau das Vaterland gerettet hatte. Oder wie es damals in einem Kurrentausdruck des wenigstens sprachlich französierten Hofes hieß: 'Prittwitz a sauvé le roi, Lestwitz a sauvé l'état.' 

Prittwitz ist noch zum General aufgestiegen, er hat immer die Gunst seines Königs gehabt. Er verstand es, den König angenehm zu unterhalten: Je ne ris qu'avec Prittwitz, soll dieser gesagt haben. Friedrich ist auch zur Taufe von Prittwitz' erstem Sohn gekommen. Dieser Friedrich Wilhelm Bernhard von Prittwitz wird das Gut erben. Er wird zahlreiche Umbaumaßnahmen einleiten, die auch damit zu tun haben, dass bei einem Feuer der halbe Ort abbrennt. Der junge, noch unbekannte Architekt Schinkel wird die Pläne für die Neubauten von Kirche, Pfarrhaus und Schulhaus zeichnen. Er wird wenig später noch wiederkommen, um Größeres zu bauen.1810 hatte Friedrich Wilhelm Bernhard von Prittwitz das Gut Quilitz an den preußischen Staat verkauft, beziehungsweise es gegen die frühere Propstei Kasimir in Schlesien getauscht. Nach Schlesien zieht es ihn, da kommt die Familie Prittwitz her.

Im Jahr 1814 gab König Friedrich Wilhelm III den Ort und das Schloss Quilitz als königliche Dotation an den gerade in den Fürstenstand erhobenen Karl August Fürst von Hardenberg. Und Ort und Schloss erhielten den Namen Neu-Hardenberg. Und nun kommt Karl Friedrich Schinkel wieder zurück und baut das Schloss so um, wie wir es heute kennen. Schinkel hatte 1802 diese sehr eigenartige klassizistische Kirche entworfen, deren Innenausstattung er 1817 vollendet. 

Wenn man ein Schloss hat, dann will man auch einen Park haben. Der Fürst Hardenberg lässt das seinen Schwager machen, der sein ganzes Vermögen zur Anlage von Landschaftsgärten ausgegeben hat. Er ist niemand anderer als der Fürst Pückler. Der erstaunlicherweise in diesem Blog noch keinen Post hat, obwohl ich alle vier Bände der Briefe eines Verstorbenen gelesen habe. Der Fürst Pückler wird aber in den Post Regency und Harry Graf Kessler erwähnt, irgendwann schreibe ich mal über ihn. Pückler, der gerade in Muskau mit der Anlage seines Landschaftsgartens begonnen hat, gestaltet nach den Plänen von Peter Joseph Lenné den Park. Und er hat dabei einen richtigen Profi zur Seite, den Engländer John Adey Repton. Der ist der Sohn des berühmten Humphry Repton, der neben Capability Brown Englands bedeutendster Landschaftsarchitekt war.

Die Hardenbergs werden von den Nazis enteignet werden, die DDR bestätigt diese Enteignung. Sie tilgen 1949 auch den Ortsnamen Neuhardenberg, weil jetzt Junkerland in Bauernhand angesagt ist. Für die nächsten einundvierzig Jahre wird der Ort Marxwalde heißen. Auch Namen wie Thälmannfelde oder Engelshagen sollen im Gespräch gewesen sein. 1996 wurden Schloss und Gut der Familie Hardenberg rückübertragen, aber die verkaufen Schloss und Park ein Jahr später an den Deutschen Sparkassen- und Giroverband, die für das Anwesen eine Stiftung gründeten. Die wirbt heute mit Texten wie: Das Ensemble von Schloss Neuhardenberg bildet eine homogene architektonische Einheit. Die zurückhaltende Eleganz klassizistischer Gebäude harmoniert mit der Weite eines von der englischen Gartenkunst inspirierten Landschaftsparks. Die gastronomischen Einrichtungen, das Hotel und die Veranstaltungsräume sind einladende Refugien für Entspannung und qualitätvolle Unterhaltung. Da hat das Hotel Neuhardenberg einen Werbefuzzi rangelassen, ich weiß nicht, ob dieser Text dem alten Prittwitz gefallen hätte. Immerhin hatte die DDR seine Grabtafel in der Schinkelkirche hängenlassen, sodass es noch ein bisschen Erinnerung an die deutsche Geschichte gibt.

Donnerstag, 1. Juni 2023

der gute Deutsche

Dieser Post stand hier in etwas anderer Form im Jahre 2011 schon einmal, damals war über Wilfrid Israel, der heute vor achtzig Jahren starb, wenig im Internet zu finden. Das hat sich glücklicherweise geändert. Einen Mann wie ihn sollte man niemals vergessen. Nicht nur, weil Albert Einstein gesagt hat: Nie in meinem Leben war ich in Kontakt mit einem Wesen so edel, so stark und so selbstlos, wie er war - in Wahrheit ein lebendiges Kunstwerk.

Heute vor achtzig Jahren ist nicht nur Wilfrid Israel gestorben, es starb auch der englische Filmschauspieler Leslie Howard. Wir kennen ihn als Ashley Wilkes, die lebenslange Liebe von Scarlett O'Hara in Gone with the Wind. Engländer kennen ihn auch als den Helden von The Scarlet Pimpernel, jenen leicht vertrottelten Adeligen Sir Percy Blakeney, der in Wirklichkeit ein Held ist: They seek him here. They seek him there. Those Frenchies seek him everywhere. Is he in Heaven? Or is he in Hell? That damned, elusive, Pimpernel. Und drüben im revolutionären Frankreich bewahrt er Landsleute vor dem Tod unter der Guillotine. Ein Gang, den Dirk Bogarde als Sidney Carton in der Charles Dickens Verfilmung A Tale of Two Cities nicht vermeidet. Eine der großen Szenen des englischen Kinos. Wenn Sie das auf YouTube anklicken, sollten Sie die Taschentücher bereithalten.

Leslie Howard ist nicht bei Dreharbeiten umgekommen oder im Bett gestorben. Das Flugzeug, mit dem er reiste, ist über der Biscaya von den Deutschen abgeschossen worden. Es gibt Theorien, wonach die Deutschen vermuteten, dass Churchill dieses Flugzeug für den Flug von Casablanca nach England benutzen würde. Es gibt aber auch Theorien, dass Goebbels persönlich den Abschussbefehl gegeben hätte, als er hörte, dass Leslie Howard in dem Flugzeug war.

Vor dem Flug hatte Leslie Howard zu einem Mitreisenden gesagt: You are the Scarlet Pimpernel that I have played only in film. Der Mitreisende, zu dem er das sagte, stand nur als Namenskürzel auf der Passagierliste; und lange Zeit hat man nicht gewusst, wer jener geheimnisvolle Passagier war. Dass Leslie Howard unter den Toten war, das wusste man. Nicht nur in London, sondern auch in Berlin. Pimpernel Howards letzte Reise höhnte Goebbels' Zeitung Der Angriff. Goebbels hatte einen besonderen Hass auf Howard und hielt ihn für den gefährlichsten Mann der englischen Kriegspropaganda. Howard, der aus einer ungarisch-jüdischen Familie stammte, war im Ersten Weltkrieg Offizier in der englischen Armee gewesen. Die Propagandafilme, die Joseph Goebbels so aufregten, hatte er voller Überzeugung für die englische Sache gedreht, dafür hatte er Hollywood aufgegeben. Einer der Propagandafilme war Pimpernel Smith (man kann ihn bei YouTube sehen), in dem der Stoff des Romans der Baroness Orczy ins Nazi Deutschland verlegt wird. Angeblich soll der Film den schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg zu seinen Rettungsaktionen ungarischer Juden inspiriert haben.

Der Mann, den Leslie Howard als den wahren Scarlet Pimpernel bezeichnet hatte, ist ein in London geborener Berliner (der aber einen britischen Pass besitzt) namens Wilfrid Israel. Die Londoner Times wird eine Woche später von einem British-born businessman with a prominent position among the Jews of Berlin, who had devoted himself, after leaving Germany just before the war, to the rescue of Jewish children from Nazi hands, and … who had placed at the disposal of the British government his deep and extensive knowledge of German affairs sprechen. Das klingt sehr geheimnisvoll, und es wird auch wohl ein Geheimnis bleiben, inwieweit Israel im offiziellen Auftrag des Foreign Office unterwegs war.

Ein anderes Schreiben aus jenen Tagen bedarf keiner Interpretation und keiner Kunst des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. Es ist ein Brief aus Amerika von Albert Einstein an die Mutter von Wilfrid Israel:

Princetown, N.J. VI. 14. `43.
Dear Mrs. Israel, 
A deep desire prompts me to write to you as I know your great anxiety regarding the fate of your son. Never in my life have I come in contact with a being so noble, so strong and as selfless as he was – in very truth a living work of art.
In these times of mass-misfortune, which so few are able to stand up to – one feels the presence of this 'chosen one' as a Liberator from despair for mankind.
I dare yet to hope that through a miracle he has been spared to us. Yet it urges me, though so helpless, to assure you of my deepest sympathy in these most tragic hours.
With heartfelt wishes,
A. Einstein


Der Berliner Millionär und Dandy, der Mann, der hinter der Figur Bernhard Landauer in Christopher Isherwoods Roman Goodbye to Berlin steht, den Isherwood als the greatest man I ever met bezeichnete und der auch für Feuchtwangers Roman Die Geschwister Oppermann die Vorlage war, ist erstaunlich schnell in Vergessenheit geraten. Ein Stolperstein in Berlin, ein kleines Museum im Kibbutz Hazorea, eine Internetseite und ein inzwischen besser gewordener deutscher Wikipedia Artikel. Vor elf Jahren war der noch etwas kläglich, der englische Artkel ist immer noch besser als der deutsche. Immerhin hat Israel inzwischen einen Artikel in der Deutschen Biographie

Die Familie von Wilfrid Israel war schon lange in Berlin, seine Vorfahren sind als Schutzjuden zur Zeit von Friedrich dem Großen in die Stadt gekommen. Sie und andere jüdische Familien werden Berlin im 19. Jahrhundert zur Hochburg der Konfektion und sogar der Haute Couture machen. Wenn das internationale Publikum wegen des Deutsch-Französischen Krieges 70/71 Paris meidet, werden amerikanische Millionärsgattinnen in den Salons von Berlin einkaufen. Jahrzehnte später werden die fetten Weiber der Nazigrößen auch in den feinen Berliner Salons kaufen, die dann aber nicht mehr ihren eigentlichen Besitzern gehören. Aber elegante Mode möchte man doch gerne haben, da interessieren die Folgen dessen, was man so schön Arisierung nennt, nicht so sehr. Uwe Westphal hat diesen ganzen beschämenden Komplex in seinen Büchern Berliner Konfektion und Mode 1836-1939: Die Zerstörung einer Tradition und Ehrenfried & Cohn behandelt. 

Wilfrid Israel ist Erbe des Kaufhauses Nathan Israel, eines der größten Kaufhäuser Europas, man vergleicht es manchmal mit Harrods. Die Arbeitsbedingungen bei Israel sind beispielhaft, von der Sozialversicherung über Kindergärten und Clubräume. In etwas kleinerem Stil finden wir solche sozialen Einrichtungen auch in meiner Heimatstadt Bremen bei Julius Bamberger wieder, dem das größte Kaufhaus von Bremen gehört. Bambüdel nennen es die Bremer liebevoll. Ich habe das schon am Rande erwähnt, als ich über den Kriegsverbrecher Walter Többens aus meinem Heimatort geschrieben habe. Bei C&A Brenninkmeyer dagegen sieht es (vor allem in Bremen) etwas anders aus als bei Nathan Israel wie die Süddeutsche vor wenigen Wochen in ihrem Artikel Für Führer, Volk und Vaterland berichtete.

Wilfrid Israel paktiert nicht wie die Brenninkmeyers mit den Nazis, er kämpft einen langen Kampf gegen sie. An dessen Ende dann diese Herren vor der Tür des Kaufhauses stehen (deren geklonte Nachfahren wir heute bei der Germanischen Weltnetzgemeinschaft finden). Wenn er sich am 6. Februar 1939 von seinen Angestellten mit einem Dankesbrief verabschiedet, hat er längst dafür gesorgt, dass seine siebenhundert jüdischen Angestellten das Land verlassen konnten. Er hatte jedem von ihnen zum Abschied zwei Jahresgehälter gezahlt. Das Haus Nathan Israel geht für einen Spottpreis an Emil Kösters DeFaKa.

Seit 1933 ist Wilfrid Israel immer wieder verhaftet worden, aber sein englischer Pass und seine englischen Freunde in hohen Positionen hatten Schlimmeres verhindert. Israel hatte klarsichtig all das kommen sehen, was kommen würde. Der Freund von Martin Buber, Albert Einstein und Chaim Weizmann wird eine prominente Rolle bei dem spielen, was man heute Kindertransport nennt, jene Rettungsaktion, der auch mein Freund Peter Gutkind sein Leben verdankte. Zehntausende verdanken ihm sein Leben: Ich denke, wir müssen der Sache dienen, indem wir fortfahren, jedes einzelne Kind und jeden einzelnen Erwachsenen zu retten, deren wir in dieser Katastrophe habhaft werden können. Und so ist er wirklich zu dem geworden, wovon Leslie Howard sprach, als er sagte You are the Scarlet Pimpernel that I have played only in film. Auf dem Stolperstein in Berlin steht Kaufhauserbe Retter jüdischer Kinder. Mehr Denkmale als diesen Stolperstein gibt es für ihn in Deutschland nicht.

Naomi Shepherd hat 1984 mit Wilfrid Israel: German Jewry's Secret Ambassador (amerikanischer Titel: A Refuge from Darkness: Wilfried Israel and the Rescue of the Jews) eine Biographie Israels geschrieben. Das Buch erschien in deutscher Übersetzung 1985 als Wilfrid Israel im Siedler Verlag. Shepherds Buch ist auch die Basis für einen Film über Wilfrid Israel gewesen, den man hier sehen kann. Wenn man auf dieser Seite The Book of Tributes to Wilfrid Israel anklickt, kann man die Beiträge der kleinen Festschrift lesen, die ihm seine Freunde 1944 gewidmet haben. 

Martin Buber hat nach Wilfrid Israels Tod bei einem Londoner Verlag das kleine Buch Wilfrid Israel: July 11th, 1899 - June 1st, 1943 herausgebracht. In dem Buch findet sich sein Prosagedicht, das Züge in Wilfrids Bild heißt:

Er war einsam wie ein Stern, und glaubte unverbrüchlich an Gemeinschaft. 
   Er hat mit uns gelebt wie in einer Fremde, und war doch der treueste Freund. 
Scheu, bis in eine Tiefe, wo auch Scheuen die Unbefangenheit innewohnt, und doch unendlich entschlossen. 
   Ganz und gar verwundbar, ganz und gar gefeit, narbenbedeckt und heil zugleich. 
Er war dem Leben ausgesetzt wie ein Opfer, und war anzusehen wie einer, der es mit leichter Hand meistert. 
   Leiden war ihm nicht wie eine Speise, sondern wie die Luft, die einzuatmen das Geläufigste ist, – man befasst sich mit ihr nicht. 
   Er hat nicht aufgehört Jüngling zu sein, und war schon an allem vorüber. 
Die Schwermut in seinem Herzen war nicht bitter und zäh, sie hatte die herbe Klarheit des Endgültigen.        Dicht benachbart in seinem Herzen war ihr der Wille sich.herzugeben und zu tun was zu tun ist.  
  Abendländisch die verhaltene Gebärde, morgenländisch der wissende Blick, – und die Stimme? Vox humana, ganz einfach. 
   Humanität als Natur, hier ist sie gewesen. Mit ihr ist eine andre verschmolzen, die aus dem Geist wuchs. So entsteht echte Tugend. 
   In einer Welt, in der keiner ihm helfen konnte, wurde ihm das Helfen zur Leidenschaft. Wir erkennen den edlen Menschen daran, was er aus seiner schmerzlichsten Erfahrung macht. 
   Eifrig und zärtlich hat er dem Land Israel gedient, wie man einer Heimat dient. Es ist ihm nicht zur Heimat geworden. Immer lag ein gezücktes Schwert zwischen ihm und dem was er liebte.
   Und prüfst du fort und fort, als letztes bleibt dir eine untrennbare Treue
Er ist sinnbildlich gestorben, als Helfer und einsam. Wir sahen ihn stürzen wie einen Stern.
   Aber wenn wir zu dem nächtigen Himmel unsrer Erinnerungen aufschauen, ist unter den Leuchtenden, die uns da, rein und tröstlich, erscheinen, sein unauslöschliches Bild.


Kurz vor seiner Reise nach Lissabon 1943 hatte Wilfrid Israel sein Testament gemacht. Er vermachte dem Kibbutz Hazorea, den er zuletzt 1940 besucht hatte, seine Kunstsammlung. Seit 1951 ist sie dort in einem Museum ausgestellt. Ein Bewohner des Kibbutz wird in dem Testament besonders bedacht. 1936, als die ersten deutschen Emigranten hierher kamen, hatte Wilfried Israel gesehen, dass sich einer seine kleine Hütte als erstes mit einem aus einer Illustrierten ausgeschnittenen Bild geschmückt hatte. Jetzt erhält er als Erbschaft Bernardo Daddis Madonna mit dem Kind. Und so kommt ein Christusbild der italienischen Frührenaissance hierher zurück, wo alles angefangen hat, Judentum und Christentum. Und Hass und Verfolgung.