Dienstag, 17. Juni 2025

17. Juni


An den 17. Juni 1953 kann ich mich noch erinnern. Noch genau erinnern. Weil ich dieses überdurchnittliche Erinnerungsvermögen geerbt hatte, das Mediziner Hyperthymesie nennen. Mein Blog lebt von diesem Erinnerungsvermögen. Ich kann den Tag in wenigen Sätzen beschreiben: Der 17. Juni 1953 war ein schöner Frühsommertag. Ich spielte auf der Straße, bis der Malermeister Wenzel vorbeikam und sagte Und jetzt kommen die Panzer. Ich wußte nicht, was er meinte und ging ins Haus. Opa saß am Radio. Ich setzte mich zu ihm, und Opa erklärte mir die Welt. Das steht so schon in diesem Blog.

Ich habe gestern bei Google 17. Juni und meinen Heimatort Vegesack eingegeben. Und was sagt mir Googles Künstliche Intelligenz oben auf der Seite? Da steht: Am 17. Juni 1953 kam es in Vegesack, wie in vielen anderen Orten der DDR, zu Protesten und Demonstrationen im Rahmen des Volksaufstands vom 17. Juni. Die Menschen in Vegesack beteiligten sich an den Protesten gegen die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR und forderten Freiheit und bessere Lebensbedingungen. Ich weiß, dass es in Vegesack am 17. Juni 1953 keine Proteste und keine Demonstrationen gab. Nur den Malermeister Wenzel, der zwei Häuser weiter wohnte und der sagte Und jetzt kommen die Panzer. Vegesack liegt nicht in der DDR, das glaubt nur Googles KI. Google müllt das Internet voll mit solch zweifelhaften Informationen und solchem Quatsch. 

Meine Tageszeitung erwähnt heute den 17. Juni, der einmal unser Nationalfeiertag war, mit keiner Zeile. In meinem Blog war er immer wieder ein Thema. So in den Posts: 17. Juni 195317. Juni 195317. JuniPlebejerSiebzig JahreFreiligrath. Und einen kleinen Lesetipp hätte ich heute auch, nämlich die Rede, die Fritz Stern 1983 im Bundestag hielt.

Samstag, 14. Juni 2025

tenore di grazia


Der Sänger Heddle Nash, der am 14. Juni 1894 geboren wurde, war in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen Englands berühmtester lyrischer Tenor. Er ist auch nach hundert Jahren unvergessen, viele seiner Aufnahmen aus den 1920er und 1930er Jahre sind heute noch als CD erhältlich. Vieles schwirrt auch bei YouTube herum, manches sogar remastered in guter Qualität. Nash begann als Chorsänger im Westminster Abbey Chor und bekam dank der berühmten Maria Brema, die sein Talent entdeckte, ein Stipendium für das Blackheath Conservatory. Die in Liverpool geborene Sängerin hieß eigentlich Mary Agnes Fehrmann, ihren Künstlernamen Brema hat sie gewählt, weil ihr Vater aus Bremen kam. Eine Woche nach der Aufnahmeprüfung für das Konservatorium brach der Erste Weltkrieg aus. 

Der zwanzigjährige Nash meldete sich freiwillig zum Second 20th London Regiment und kam mit der Armee nach Frankreich, Saloniki, Ägypten und Palästina. Er war einer der ersten britischen Soldaten, der 1917 in Jerusalem einmarschierte. Als er verwundet wird, war für Sergeant Nash, der während des Krieges immer für die Männer seiner Kompanie gesungen hatte, der Krieg zu Ende. Die Krankenschwester, die ihn gepflegt hatte, wird er später heiraten. Das Blackheath Konservatorium hatte ihm seine Stelle offengehalten, Maria Brema nimmt sich seiner stimmlichen Fortbildung an. Danach hat Nash eine Stelle in einem →Marionettentheater. Während auf der Bühne die Marionetten tanzen, singt er unten im dunklen Orchestergraben die Tenorparts der italienischen Opern. Er kommt mit dem Marionettentheater sogar nach New York. Aber dann leiht ihm ein Freund eine größere Geldsumme, und er geht nach Italien, um dort zu studieren.

Seinen ersten Auftritt wird er als Vertretung für einen erkrankten Sänger 1924 in Mailand haben, auch in Genua, Bologna und Turin können die Italiener den jungen Engländer mit dem italienischen Timbre hören. Ein Jahr später ist er als Rigoletto in London zu sehen. Seine Stimme wird immer ein bisschen nach Verdi klingen, sagen die Kritiker. Es ist eine leichte Stimme, tenore di grazia nennt man das. Wunderbar geeignet für das Dalla sua pace des Ottavio in Mozarts Don Giovanni. Der Musikkritiker J. B. Steane hat ihn the English lyric tenor par excellence, without equal then or now genannt. Und hat über die Aufführung geschrieben: ... and it seems they fell to the young tenor singing Don Ottavio. The 'Evening Standard' carried the headline 'Have We Another McCormack?' and the subheading, 'English Tenor’s Brilliance at Covent Garden'. The 'Express' reported that he twice brought down the house, quite a feat if you think about it, and he had a special success in 'Il Mio Tesoro', where, as the record shows, he not only sang that run in a single breath, but could also sustain a ralentando at the end of it. Das Il Mio Tesoro will ich gerne hier nachliefern.

Von 1929 bis 1939 wird Nash jedes Jahr im Royal Opera House Covent Garden auftreten. Er hat ein Repertoire von vierundzwanzig Opern, die er in allen Sprachen (englisch, französisch, deutsch und italienisch) singen kann. In vielem ist er der Nachfolger des berühmten irischen Tenors John McCormack. Das war ein Sänger, denJames Joyce bewundert hatte, der ja auch einmal Sänger werden wollte. Lesen Sie mehr dazu mehr in dem Post The Lass of Aughrim. Man kann den Unterschied der beiden Stimmen sehr schön an dem Lied Macushla aufzeigen, das seit 1911 ein Klassiker von McCormack war. Die Aufnahme ist remastered und klingt nach über hundert Jahren wie neu. Wir verlassen damit mal eben die Welt von Mozart und Verdi und kommen zum schmalzig Schnulzigen. Tenöre singen nicht nur immer Dalla sua pace, sie singen auch häufig Leichteres, das bringt Geld. Fritz Wunderlich konnte neben dem Dalla sua pace auch leicht und locker so etwas wie ✺ Tiritomba singen. Zwanzig Jahre nach McCormack hat Heddle Nash Macushla auch gesungen (das zehn Jahre später sogar Richard Tauber nicht auslassen wird). Am Klavier war Gerald Moore, der später noch Dietrich Fischer-Dieskau begleiten wird. Hören Sie einmal hinein und vergleichen Sie die Aufnahmen, beide Versionen sind technisch aufbereitet.

Bei der ersten ✺Oper, die 1934 in dem kleinen Opernhaus des exzentrischen Millionärs John Christie in Glyndebourne unter Fritz Busch aufgeführt wird, ist Heddle Nash natürlich auch dabei. Lesen Sie zu dem Thema mehr in dem schönen Post Glyndebourne, der im letzten Jahr leider überhaupt keine Leser fand. Nash wird in Glyndebourne bis 1938 auftreten, wird Pedrillo und Ferrando in Così fan tutte singen und den Ottavio in Don Giovanni. Der Kritiker Richard Capell schrieb damals: Hardly another tenor of his time has sung Mozart with such elegance and at the same time such a minstrel-like effect of spontaneity.

In ✺Così fan tutte sang Nash 1935 den Fernando und hatte Ina Souez, eine Amerikanerin mit indianischen Vorfahren, als Fiordiligi neben sich. Die beiden sind wirklich gut, hören Sie ✺hier einmal hinein. Ich finde Nash am besten, wenn er italienisch singt. Ich habe hier auch noch ✺Un' aura amorosa aus der Oper für Sie. Zu der Aufnahme von Sir Thomas Beechams ✺La Bohème, die Gramophone in einer Rezension The Incomparable Heddle Nash betitelte, hat bei YouTube jemand geschrieben: 

Thank you! I consider this one of Heddle Nash's greatest recordings. A great joy to hear him singing so movingly and beautifully in Italian. I'm very grateful to those who are doing their best to share their awareness of this amazing singer, who was famous in his day and is still greatly loved by some very loyal fans, longstanding and also recent. He is not so well known now as he deserves to be, but our digital age is a real opportunity to put this right. If you enjoy this as much as I do, maybe there are several people you know who would like it too....? Das kann man so unterschreiben. Aber selbst wenn er das ✺eiskalte Händchen in englischer Sprache besingt, klingt das ein klein wenig italienisch. Da merkt man, dass er einmal bei ✺Giuseppe Borgatti studiert hat.

Dass ich den Tenor Heddle Nash kenne, verdanke ich einer Schallplattenbörse im Kieler Legienhof zu D-Mark- und Schallplattenzeiten. Ich hatte bei einem Händler die Complete Piano Concertos von John Field gekauft, 4 LPs im Schuber. Als ich bezahlen wollte, sagte der Händler: Nimm die noch mit, die will keiner haben. Aber der Mann ist wirklich gut. Und drückte mir zwei kleine  Columbia 78er Platten von Heddle Nash in die Hand. Ich hatte den Namen noch nie gehört. Ich hätte Jürgen Kesting Die großen Sänger unseres Jahrhunderts wohl genauer lesen sollen. Heddle Nash war seit 1924 bei der Firma Columbia, er profitierte von ihren neuen Aufnahmetechniken. Charles Wakefield Cadmans ✺At Dawning aus dem Jahre 1925 war dort seine erste Aufnahme. War nie zu hören, da sie im Familienbesitz war, aber jetzt gibt es sie bei YouTube. Vieles taucht da plötzlich auf, was es vorher nicht gab. Ich habe gestern zufällig dort ✺Die schöne Müllerin von dem lyrischen Tenor Werner Krenn gefunden, eine der schönsten Aufnahmen des Liederzyklus.

Und damit Sie die schöne Stimme von Heddle Nash noch einmal geniessen können, habe ich noch ein wenig ✺Bizet für Sie. Ist ✺Caruso da wirklich besser?

Donnerstag, 12. Juni 2025

Defiance

Ich habe seit Tagen nichts geschrieben, aber machen Sie sich bitte keine Sorgen. Ich bin noch da, es geht mir gut. Ich schreibe auch an manchen Dingen, aber das kann noch dauern, bis das fertig ist. Die Geburtstagsgeschenke für Daniela und Friedhard sind verpackt und gehen heute zur Post. Der Telestar Receiver wurde mir gestern repariert wieder geliefert, aber ich habe immer noch kein Fernsehen, weil das Gerät immer noch keine Bilder empfangen kann. Der Lehrling werkelte eine halbe Stunde daran herum, kriegte aber kein Bild und keinen Ton. Jetzt soll irgendwann der Meister vorbeikommen. Das kann dauern. 

Ich weiß nicht, ob Sie das gemerkt haben, aber ich hatte am Anfang des Monats die Zahl von 6,5 Millionen Lesern erreicht. Weil mir der Mai 47.845 Leser bescherte. Als ich Ende März 6.400.000 Leser erreicht hatte, gönnte ich mir eine neue Seiko Quartz, das habe ich jetzt auch wieder gemacht, ich schreibe irgendwann mal drüber. Damit es für die nächsten Tage hier etwas zu lesen gibt, stelle ich einen Post ein, den es hier an einem 12. Juni schon einmal gab. Vielleicht haben Sie den ja damals verpasst.

Am 12. Juni 1816 fuhr als erstes Dampfschiff die englische Defiance den Rhein bis nach Köln herauf. Heute gegen Mittag erblickten wir hier auf unserm schönen Rheinstrome ein wundervolles Schauspiel. Ein ziemlich großes Schiff, ohne Mast, Segel und Ruder, kam mit ungemeiner Schnelle den Rhein herauf gefahren. Die Ufer des Rheines und die hier vor Anker liegenden Schiffe waren in einem Augenblicke von der herbeiströmenden Volksmenge bedeckt. Das die allgemeine Neugierde reizende Schiff war ein von London nach Frankfurt reisendes, englisches Dampfboot, schrieb die Kölnische Zeitung. Bis Frankfurt ist die Defiance nicht gekommen, es gab technische Probleme.

Ein Jahrzehnt später gibt es einen regelmäßigen Schiffsverkehr zwischen Mainz und Köln. Die Schiffe sind voll mit englischen Touristen, denn in England hat Thomas Cook die Pauschalreise erfunden. Im Jahr 1843 sind eine Million Engländer auf dem Rhein gewesen. Sie reisen gern, die Briten, zuerst im 18. Jahrhundert mit ihrer Grand Tour, die der Oberklasse vorbehalten war, jetzt kommen alle anderen, der Massentourismus ist erfunden. Und so dichtet Goethe im Faust II:

Sind Briten hier - sie reisen sonst so viel,
Schlachtfeldern nachzuspüren, Wasserfällen,
Gestürzten Mauern, klassisch dumpfen Stellen,
das wäre hier für sie ein würdig Ziel....

Ein Jahr nach der Fahrt der Defiance wird man auf der Weser auch ein Dampfschiff haben. Das ist aber kein englisches Schiff, sondern ein deutsches Schiff, das auf der Langeschen Werft in Vegesack gebaut worden ist. Fährt stolz mit der Bremer Speckflagge. Zugegeben: die Maschine hat man bei Boulton & Watt in England gekauft, aber alles andere ist Made in Germany. Das Schiff wird Weser heißen, aber es verursacht keinen Massentourismus. An der Weser gibt es nun mal keine mittelalterlichen Schlösser, keine Loreley und keinen Drachenfels. Es gibt eine Rheinromantik (lesen Sie dazu mehr im Goethezeitportal), aber es gibt keine Weserromantik, keine Dichter besingen den Fluß, keine Maler malen ihn. William Turner malt den Rhein, nicht die Weser. Es gibt zwar ein Gedicht auf die Weser von Franz von Dingelstedt, das ich auch gesungen anbieten kann:

Hier hab' ich so manches liebe Mal
Mit meiner Laute gesessen,
Hinunterblickend ins weite Tal,
Mein selbst und der Welt vergessen.
Und um mich klang es so froh und so hehr,
Und über mir tagt es so helle
Und unten brauste das ferne Wehr
Und der Weser blitzende Welle. 

Aber das kann sich kaum mit dem messen, was Lord Byron über den Drachenfels geschrieben hat. Oder Heinrich Heine über die Lorelely. Und wenn die bösen Deutschen in Casablanca ein Lied singen, dann singen sie natürlich über den Rhein:

Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
Wie Schwertgeklirr und Wogenprall:
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!
Wer will des Stromes Hüter sein?
Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein!


Ich selbst kann dem Rhein wenig abgewinnen. Ich habe ihn zum erstenmal gesehen, als wir eine Tante in Neuwied besuchten, die eine kleine Villa am Rhein besaß. Es war nicht leicht, Neuwied mit unserem neuen Opel Olympia zu erreichen, weil an diesem Tag das Petersberger Abkommen unterzeichnet wurde, und wir in Massen von englischen und amerikanischen Panzern feststeckten, die die Gegend absicherten.

Was die Flußfahrt auf dem Rhein betrifft, kann ich touristisch mitreden. Unsere Schule spendierte uns ein Jahr vor dem Abitur eine mehrwöchige Studienreise nach Köln, Mainz und Trier, und natürlich stand eine Fahrt mit dem Rheindampfer von Köln nach Mainz auf dem Programm. Wir teilten uns das Schiff mit zwei Busladungen älterer Amerikanerinnen. Alle in sommerlichen Blümchenkleidern. Mit Strohhüten. Als der Kapitän über Lautsprecher verkündete, dass wir gleich die Lorelei passieren würden und dazu eine schauerlich krächzende Version von Ich weiß nicht, was soll es bedeuten auflegte, schesten zwei Busladungen amerikanischer Ommas nach Backbord. Ich hatte damals Angst, die Loreley würde wieder ihre Opfer einfordern. Die Rheinromantik ist lange zuende, Allen Ginsberg hat das in seinem Gedicht Ruhr-Gebiet schon vor Jahren gesagt:

Too much industry
No fish in the Rhine
Lorelei poisoned
Too much embarrassment

Die englische Defiance war nicht das erste Dampfschiff in Deutschland, das muss der historischen Genauigkeit wegen angemerkt werden. Das erste kleine Dampfschiff war das von dem Franzosen Denis Papin, mit dem er am Sonnabend, dem 24. September 1707 auf der Fulda von Kassel nach Münden (heute Hannoversch-Münden) gefahren war. Er wollte am nächsten Tag auf der Weser bis Bremen weiterfahren, aber in der Nacht haben ihm die Mitglieder der Mündener Schiffergilde das Boot zerkloppt. Sie kannten zwar Rilkes Satz Alles Erworbne bedroht die Maschine noch nicht, aber dass dieser kleine Schaufelraddampfer schlecht für ihr Geschäft war, das hatten sie schon gemerkt. Der geniale Erfinder Denis Papin, der auch den Schnellkochtopf erfunden und ein U-Boot gebaut hat, ist heute so gut wie vergessen. Der letzte Brief von Dr Papin aus dem Jahr 1712 an den Sekretär der Royal Society schließt mit den Worten: Ich bin in einer traurigen Lage, selbst wenn ich das Beste leiste, ziehe ich mir nur Feindschaft zu. Doch sei wie ihm wolle, ich fürchte nichts, denn ich vertraue auf Gott, der allmächtig ist.

Lesen Sie auch: Dampfschiffahrt, Drachenfels, Lorelely, Lurley, Rheinnixen, Die Weser: ein langer Fluss, ein langer Text, 18th century: Grand Tour

Sonntag, 8. Juni 2025

nicht verzagen


Der Fachhändler für Elektrogeräte, dessen Kunde ich seit beinahe einem halben Jahrhundert bin, hatte mir am Anfang des Jahres einen neuen Receiver geliefert; das steht schon in dem Post eine Woche kein Fernsehen. Das Gerät hatte den Namen Imperial, aber so großartig wie der Name war das Gerät nicht. Es fraß sich oft an einem Sender fest, und dann ging nix mehr. Dann musste man den Receiver aus dem Regal nehmen, einen Stecker ziehen, dann begann er wieder mit dem Laden der Programme. Ich beklagte mich bei der Firma, die schickten einen Monteur mit einem neuen Gerät vorbei. Das er leider nicht anschließen konnte, weil es mit den Kabelverbindungen nicht klappte, digital statt Scart. Der Monteur verabschiedete sich mit den Worten: Sie hören von uns

Ich hörte allerdings nichts und fragte nach zwei Monaten ganz bescheiden mal nach, was mit dem versprochenen neuen Gerät wäre. Das war denen nun furchtbar peinlich, am nächsten Tag kam ein Monteur mit einem neuen Gerät. Angeschlossen, alle 32 Sender eingestellt, gute Bilder im 4:3 Format. Alles perfekt. Er bekam einen kleinen Schein in die Hand gedrückt, als er die Wohnung verließ. Als ich abends die Tagesschau sehen wollte, sah ich nur einen schwarzen Bildschirm. Das Gerät hieß Telestar, war aber weder Tele noch Star. Am nächsten Tag war der Mechaniker wieder da, fummelte zwanzig Minuten 'rum und erklärte dann, dass der gerade eingebaute neue Receiver kaputt sei. Ich warte jetzt auf da nächste Gerät. Glücklicherweise habe ich die Rechnung noch nicht bezahlt.

Und da ich abends gerne bunte Bilder sehe, kam wieder der DVD Player zum Einsatz. Den Panasonic hat mein Bruder mir mal vor Jahrzehnten geschenkt, er funktioniert im Gegensatz zu Imperial und Telestar immer noch. Ich guckte mir zwei Filme mit Lino Ventura an, da der Post Lino Ventura zur Zeit immer noch unter den Top Ten der meistgelesenen Posts ist. Ich machte dann weiter, wo ich bei meiner Krimi Orgie mit Inspector LewisChief Inspector Morse und Foyle's War im Februar aufgehört hatte. Guckte mir von Endeavour die Teile an, die ich ausgelassen hatte. Und stieß dabei, ähnlich wie im Post God's Grandeur beschrieben, auf ein Gedicht, das ich nicht kannte. Der Detective Sergeant Endeavour Morse liest das Gedicht in der Folge Icarus bei der Beerdigung seines jungen Kollegen George Fancy vor. Ich fragte meinen Mac nach dem Gedicht, und der sagte mir: Arthur Hugh Clough:

Say not the struggle naught availeth,
The labour and the wounds are vain,
The enemy faints not, nor faileth,
And as things have been they remain.

If hopes were dupes, fears may be liars;
It may be, in yon smoke conceal'd,
Your comrades chase e'en now the fliers,
And, but for you, possess the field.

For while the tired waves, vainly breaking,
Seem here no painful inch to gain,
Far back, through creeks and inlets making,
Comes silent, flooding in, the main.

And not by eastern windows only,
When daylight comes, comes in the light;
In front the sun climbs slow, how slowly!
But westward, look, the land is bright!

Es ist ein Gedicht eines längst vergessenen viktorianischen Autors, das eine gewisse Berühmtheit bekommen hat. Winston Churchill hat die beiden letzten Strophen 1941 in einer Rede verwendet und über sie gesagt: I believe they will be so judged wherever the English language is spoken or the flag of freedom flies. Churchill hatte das Gedicht auch an Franklin Delano Roosevelt geschickt. Nachdem er von Roosevelt Longfellows Gedicht The Building of the Ship zugesandt bekam. Beide Gedichte haben eine Aussage, die der Adressat verstehen konnte. Das transatlantische Bündnis wird 1941 mit zwei Gedichten besiegelt. Solche symbolischen Handlungen wird es heute nicht mehr geben, Donald Trump liest keine Gedichte. Er hat auch nicht in Harvard studiert wie Roosevelt. Vielleicht kann er auch gar nicht lesen.

Ich besitze von Clough zwar den Oxford Standard Authors Band, aber das Gedicht Say not the struggle naught availeth kannte ich nicht. In dem Post Matthew Arnold habe ich vor zehn Jahren geschrieben: Matthew Arnold ist nicht unbedingt mein Lieblingsdichter, sein Freund Arthur Hugh Clough schon eher. Und einen Satz wie Ah yet when all is thought and said, the heart still overrules the head; still what we hope we must believe, and what is given us receive, kann nur Clough schreiben. Was ich von Clough liebe, sind seine Amours de Voyage, das habe ich an anderer Stelle schon einmal gesagt. Es ist ein ganz wunderbarer römischer ✺Briefroman in Versen.

Clough wurde im Jahr 1819 geboren, wie so viele bedeutende Schriftsteller, die beinahe alle einen Post in diesem Blog haben: Herman Melville. Walt Whitman, John Ruskin, George Eliot. Gottfried Keller, Klaus Groth und Theodor Fontane. Fontane hat Cloughs Gedicht nicht gekannt. Als es geschrieben wurde, lebte er noch nicht in London. Konnte Französisch, aber kein Englisch. Aber er schreibt zur gleichen Zeit wie Clough ein Gedicht, das einen ganz ähnlichen Tenor hat. In dem schönen Fontane Blog hat man das bemerkt. Ich hätte es nicht gewusst, bin aber dank des Mac schnell darauf gekommen:

Du darfst mißmuthig nicht verzagen,
In Liebe nicht noch im Gesang,
Wenn mal ein allzu kühnes Wagen,
Ein Wurf im Wettspiel Dir mißlang.

Wes Fuß wär’ niemals fehlgesprungen?
Wer lief nicht irr’ auf seinem Lauf?
Blick hin auf das, was Dir gelungen,
Und richte so dich wieder auf.

Vorüber ziehn die trüben Wetter,
Es lacht aufs Neu der Sonne Glanz,
Und ob verwehn die welken Blätter,
Die frischen schlingen sich zum Kranz.

Wir nehmen diese guten Wünsche mal mit in den heutigen Tag. Ich wünsche all meinen Lesern ein frohes Pfingstfest.

Donnerstag, 5. Juni 2025

Malweiber


Als ich in dem Post Marie Krøyer das Wort Malweiber benutzte, zögerte ich einen Augenblick. Das Wort, das man heute ironisch für die ersten Malerinnen in der Kaiserzeit verwendet, war im 19. Jahrhundert nur ein Schimpfwort. Im Simplicissimus konnte man 1901 unter der Zeichnung Malweiber von Bruno Paul lesen: Sehen Sie, Fräulein, es giebt zwei Arten von Malerinnen: die einen möchten heiraten und die anderen haben auch kein Talent. Und auch Peder Severin Krøyers Satz Aah, diese Damen, diese Damen, die alle malen wollen – lasst mich frei sein – ich will auf keinen Fall Schülerinnen – fertig beschreibt die Abneigung gegen die Frauen, die malen wollen. 

Und bei Paula Becker-Modersohn klingt es nicht unbedingt positiv, wenn sie →1899 aus Worpswede ihren Eltern schreibt: Viel leichtes Gelichter, viel kleine Malweiblein haben ihren Einzug auf unserem Berg gehalten. Viele Malerinnen (auch Paula Becker-Modersohn) wollen nach Paris, wie die Frauen auf diesem Gemälde. 

Aber Paris ist für viele junge Frauen eine große Enttäuschung: 1890 kam ich nach Paris. Hier ging mir eine neue Welt auf. Die ersten Besuche im Louvre betäubten mich fast. Aber von den Schulen, die ich sah, war ich enttäuscht, dort gefiel mir nichts. Ich entschloß mich, allein zu arbeiten und Rat und Urteil nur im Kreise einiger junger gleichgesinnter Freunde, fast alles Dänen und Norweger, zu sehen zu suchen. Das sagt die Lübeckerin Marie Dorette Caroline Schorer, die sich in Paris Maria Slavona nennt. Sie kann sich nennen wie sie will. Wenn man solche Bilder malen kann, dann ist man ganz oben. Wer nicht nach Paris geht, und das sind viele Malweiber, begnügt sich mit den überall entstehenden kleinen Künstlerkolonien: →Fischerhude, NiddenDachau (als der Ort noch einen guten Namen hatte) oder Hiddensee

Die Künstlerkolonie Frauenchiemsee hat es in der Kunstgeschichte ja nicht geschafft, in einem Namen mit Worpswede genannt zu werden. Der große 599-seitige Katalog Künstlerkolonien in Europa vom Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg 1982, erwähnt die Maler vom Chiemsee überhaupt nicht. Den Katalog hat mir mein Freund Peter mal zu Weihnachten geschenkt, und ich habe ihn sehr genau gelesen. Es ist sicherlich eine kleine Ironie der Kunstgeschichte, dass die erste wissenschaftliche Studie zu den Chiemseemalern, Ruth Negendancks Künstlerlandschaft Chiemsee, im Jahre 2008 im Verlag Atelier im Bauernhaus in Fischerhude erschienen ist. Fischerhude liegt nicht am Chiemsee. Das liegt auf der Landkarte neben Worpswede und ist der Ort, wohin Otto Modersohn und andere gezogen waren, als ihnen Worpswede nicht mehr gefiel. Ich kenne mich da aus, die Schwester meiner Freundin Gudrun arbeitete da im Museum.

Doch die Malweiblein haben sich ihren Platz in der Gesellschaft erobert. Der Anteil der hauptberuflich tätigen Künstlerinnen steigt von 1895 bis 1925 von zehn auf zwanzig Prozent. Inzwischen gibt es Bücher wie Die Malweiber: Unerschrockene Künstlerinnen um 1900 und Ausstellungen wie Die Malweiber von Paris

Für manche endet die künstlerische Karriere mit der Ehe. Da ist das Leben der Matisse Schülerin Mathilde Vollmoeller, die den Maler Hans Purrmann heiratet, ähnlich wie das Leben von Marie Krøyer. Beide verkümmern als Malerin im Schatten ihres Mannes. Und die Kunstgeschichte hat beinahe hundert Jahre gebraucht, um sie neu zu entdecken. In dem Post Malerinnen habe ich geschrieben: Dieser Blog hat immer wieder Malerinnen vorgestellt, von denen manche nicht so bekannt waren. Das ist ja auch so eine geheime Maxime dieses Blogs, dass hier Dinge stehen, die woanders nicht stehen.

Viele der deutschen Malerinnen haben in den 1930er Jahren ein schweres Schicksal. Wie Lotte B. Prechner, die Deutschland verlassen muss. Oder Dora Bromberger (von der dieses Bild stammt), die 1942 in dem Vernichtungslager Maly Trostinez bei Minsk zusammen mit ihrer Schwester →Henny ermordet wird. Ihre Freundin, die Malerin Elisabeth Noltenius, schreibt 1944 in ihr →Tagebuch: Beim langsamen Zurückgehen unserer Truppen in Richtung Minsk gehen die Gedanken schwer zu den jüdischen Bremer Menschen, die in den nie zu vergessenden Novembertagen ausgewiesen wurden ins Ghetto nach Minsk. Wo sind heute die lieben Brombergers, die wir nicht vor dem grausigen Schicksal bewahren konnten, aus ihrem kleinen Haus ausgetrieben zu werden, trotz Besuch bei der Gestapo. Wie herzzerreißend diese wahrhaft große Haltung! Kein Wort der Anklage. Diese Rasse ist im Tragen und Dulden uns weit überlegen!

Elisabeth Noltenius hatte sich für Dora Bromberger starkgemacht und Bilder von ihr bei Ausstellungen in ihrem eigenen Haus gezeigt. Sie war bei der Gestapo vorstellig geworden, als sie hörte, dass Dora deportiert werden sollte. Sie konnte nur froh sein, dass die Gestapo ihr Haus nicht durchsuchte und ihr Tagebuch fand. Die Bremerin Dora Bromberger hatte in München und Paris studiert und war in den 1920er Jahren in Bremen recht berühmt. Nach 1933 kamen Berufs- und Ausstellungsverbot. Dieses wunderbare Bild mit dem Titel Vorfrühling habe ich einmal in einer Ausstellung gesehen, die Bremer Malerinnen gewidmet war. Ich war hin und weg von dem Bild, aber ich wusste nichts von der Malerin. 

Inzwischen besitze ich das Buch Die Brombergers: Schicksal einer Künstlerfamilie von Rolf Rübsam, das 1992 im Bremer Donat Verlag erschienen ist. Der Autor, der Lehrer an meinem Gymnasium war, hat für seine Verdienste zu Recht das →Bundesverdienstkreuz bekommen. Bremer Malerinnen gab es in diesem Blog schon mit Anna Feldhusen, Aline von Kapff und Elisabeth Steinecke. Ich glaube ich mache damit irgendwann mal weiter.


Sonntag, 1. Juni 2025

beinahe vergessen


Mit diesem 1929 gemalten Bild, das Die Jazzsängerin heißt, sind wir im Jazz Age, den Roaring Twenties. Wir können das Bild auch unter dem Thema der Neuen Sachlichkeit rubrizieren; einem Begriff, den der Bremer Kunsthistoriker Gustav Friedrich Hartlaub mit seiner Mannheimer Ausstellung Neue Sachlichkeit: Deutsche Malerei seit dem Expressionismus geprägt hat. Ulrike Groos, die Direktorin des Kunstmuseums Stuttgart, hat zu dem Bild gesagt: Es stammt von Lotte B. Prechner, einer Jüdin, die von den Nazis als entartet eingestuft wurde. Das Bild war verpönt, weil es das Saxophon in den Vordergrund stellt, das auch deshalb als öbszön eingestuft wurde, weil es eine phallischen Form hat. Die Aufbruchstimmung der Weimarer Republik hielt Prechner 1929 in ihrem Gemälde ›Jazztänzerin‹ fest. Sie stellt den modernen, emanzipierten Frauentypus der 1920er Jahre dar, der, androgyn gekleidet mit Hut und langer Hose, an Marlene Dietrich er­innert und selbstbewusst zu Jazzmusik tanzt.

Die Malerin und Bildhauerin Lotte Bertha Prechner hatte ihre große Zeit in den zwanziger Jahren, sie war in vielen Ausstellungen vertreten. Vier Jahre nach dem Bild der Jazzsängerin hatte sie Berufsverbot, weil sie von einer jüdischen Mutter abstammte. Ihre Bilder, die in Kunsthallen hingen, wurden als entartete Kunst entfernt. Sie wandert mit ihrem Mann nach Brüssel aus. Sie wird nie mehr nach Deutschland zurückkehren, lebt in Brüssel und bei ihrer Tochter in Italien. Sie wird neunzig Jahre alt werden und bis ins hohe Alter künstlerisch tätig sein. 

Ihre Tochter wird dafür sorgen, dass die inzwischen vergessene Malerin nicht vergessen bleibt, sie vermacht den Nachlass dem LVR-Landesmuseum Bonn. Dieses Bild, das den Titel Epoche hat, hatte Prechner 1928 auf der Jahresausstellung des Jungen Rheinland gezeigt, in dem Künstlerbund war sie Mitglied gewesen. Kunsthistoriker bezeichnen es heute als ihr Hauptwerk. 1998 erschien das Buch Lotte B. Prechner 1877–1967. Monographie und Werkverzeichnis, und in vielen neueren Ausstellungen über die Kunst der Weimarer Republik, wie zum Beispiel 2019 bei 'Zu schön, um wahr zu sein' – Das Junge Rheinland, war sie mit Bildern vertreten.

Meistens mit der Jazztänzerin oder dem Bild Epoche, das heute der Friedrich Ebert Stiftung gehört. Weil diese Bilder so plakativ sind, auch noch nach hundert Jahren. Ihre ganzen sozialkritischen Bilder, die sie nach dem Ersten Weltkrieg malte (in dem sie eine der wenigen zugelassenen weiblichen Kriegsmalerinnen war) kann man nicht so plakativ präsentieren. .Ich habe mir gedacht, dass Lotte Prechner (hier 1924 von ihrem Freund Otto Dix portraitiert) an ihrem Geburtstag einen kleinen Post bekommen sollte. Zu dem Bild der Jazzsängerin gibt es hier eine Seite. Aber viel wichtiger ist die von Dr Annette Bußmann verfasste Seite bei FemBio. Die kann man nur zur Lektüre empfehlen.