Wir jungen Leutnants ... Kann man einen Roman so anfangen? Als ich bei der Bundeswehr aufhörte, hatte ich die Idee, einen Roman über diese Zeit zu schreiben. Einen Titel hatte ich schon: manoeuvre. Den Roman Manöver zu nennen, wäre zu platt gewesen. Es musste etwas Fremdsprachliches, Gebildetes her. Von dem Roman existiert nur ein Mäppchen mit dem Titel und ein Dutzend mehr oder weniger spärlich beschriebener Seiten, manche handschriftlich, manche getippt. Wir jungen Leutnants als Romananfang wurde schnell verworfen. Es gab ein Fischgrätgerüst einer Handlung, es sollte auch eine Liebesgeschichte in all das Martialische hinein. Mit einer blonden Schwedin oder Dänin namens Christina. Oder Kristina, ich weiß es nicht mehr. Begann in Kopenhagen und schwenkte dann auf den Truppenübungsplatz Munster. Oder Sennelager, ein Ort, für den mein Opa immer den Spruch Der Herrgott schuf in seinem Zorn Sennelager bei Paderborn bereit hatte.
Ich wollte alle Manöver (und den Unsinn aller Manöver), in denen ich gewesen war, in einem einzigen literarischen Manöver vereinen, so wie der Erzähler von Fitzgeralds The Great Gatsby alle Festlichkeiten seines Nachbarn zu einer großen Party zusammenfasst. Die Idee war eigentlich gut, aber wollte ich das wirklich schreiben? Das Buch Glanz und Elend des Militärs war schon geschrieben worden. Mein erstes Manöver als junger Soldat war ein Großmanöver der Bundeswehr, an dem mehr als 30.000 Soldaten teilnahmen. Die Bundeswehr zeigte im Kalten Krieg Stärke. Nach einer Woche hatten wir zweiunddreißig Tote. Das Manöver wurde abgebrochen. Es gab einen Feldgottesdienst, wir saßen und lagen in der Septembersonne auf einem Hügel in der Lüneburger Heide. Der Feldgeistliche war nicht zu hören, man sah ihn nur ganz weit oben auf dem Hügel schattenhaft neben den Wacholderbüschen. Manche der Toten kannte ich, der Kommandeur von dem Panzerbataillon, der mit seinem Jeep in der Nacht unter einen Panzer geraten war, war der Vater von Annes bester Freundin. Ich bin noch in vielen Manövern gewesen und habe beinahe alle Truppenübungsplätze der Bundesrepublik kennengelernt. Von Munster-Lager bis Hammelburg. Mit Manövern, in denen immer Blau gegen Rot gewann, werde ich mich auskennen. Das war die Zeit des Jahres, in der man den Elektrorasierer vergessen konnte und sich nass rasieren musste. Man muss sich im Manöver jeden Tag rasieren. Wir folgten damit einem Gesetz, das schon Stendhal respektierte, der einen Tag nach der französischen Katastrophe an der Beresina frisch rasiert vor seinen Vorgesetzten, seinen Cousin Pierre Drau, trat. Vous êtes rasé! rief dieser aus. Vous êtes vraiment un homme courageux.
Bei meinem vorletzten Manöver konnte ich meinen Elektrorasierer mitnehmen. Ich war Schiedsrichter bei einer Stabsrahmenübung, die genau da stattfandet, wo Opas und Omas Verwandtschaft herkam. Ich hatte zwischen den gespielten Kampfhandlungen Zeit, Verwandte und Freunde meiner Eltern zu besuchen. Konnte bei ihnen duschen und mich mit dem Braun Sixtant rasieren. Der Fahrer meines Jeeps profitierte auch von all den kleinen Vorzügen und den gastlichen Bewirtungen. Wir duzten uns nicht, obgleich wir uns kannten. Wir waren beide einmal mit einer evangelischen Jugendgruppe durch Dänemark und um Bornholm herum geradelt. Ich hatte ihm das Du angeboten, aber er wollte lieber Herr Leutnant statt Jay sagen. Er war Berufssoldat, Hauptgefreiter UA. Er hielt es wahrscheinlich für seine Karriere für schädlich, wenn er sich mit einem Reserveoffizier duzte.
Das war das Manöver, das damit endete, dass ein Brigadegeneral eine simulierte fünf KT Atombombe auf seine eigenen Truppen abwarf. Die simulierte Atombombe war eine immens teure Darstellungsmunition, die einmal gezündet den Steuerzahler zwar um 28.000 Mark ärmer machte, aber einen wunderschönen Atompilz produzierte. Glücklicherweise ohne die radioaktiven Nebenwirkungen. Die Schiedsrichterbesprechung am Sonnabend um 16 Uhr wurde gestrichen. Es gab zwar eine Besprechung, aber die war nur noch für Dienstgrade ab Oberst im Generalstab. Wir wurden vergattert, dass wir diese Geschichte niemals, aber auch wirklich niemals, erzählen dürften. Als ich nach einer langen Fahrt mein Bataillon in der Nacht erreichte, kannte da schon jeder die Geschichte.
Ich besuchte vor meiner Abreise aus dem Manövergebiet noch einmal die Zivilbevölkerung, über die es im geheimen Lageplan hieß: Zivilbevölkerung ist teilweise geflüchtet, größtenteils aber zurückgeblieben ... Die Stimmung ist gedrückt. Der Familie Brüggemann in Bohmte gegenüber vom Bahnhofshotel (das in den 40er Jahren noch als Selings Hotel weit und breit berühmt war) mochte ich nicht erzählen, dass sie jetzt eigentlich tot wären und dass die ganze zweite Heimat meiner Jugend atomar vernichtet war. Die Karriere des Generals war glücklicherweise auch zu Ende. Er wurde zum Bundesamt für Beschaffung in Koblenz versetzt. Da kann er Wolldecken zählen bis zur Pensionierung und richtet keinen Schaden mehr an, sagte unser S-4, ein kriegsgedienter Hauptmann, dem der Brigadekommandeur ein Jahr zuvor übel mitgespielt hatte. Die Sache kam damals nie in die Presse. Die Bundeswehr war wichtig für das Land, und solche Fehler durfte es besser nicht geben. Die zweiunddreißig Toten von meinem ersten Großmanöver waren auch nicht in der Zeitung. Aber das fall exercise von 1962, das war in der Zeitung. Und wurde zur Staatsaffäre.
Mein letztes Manöver hieß, wie all die vorangegangen Manöver, Eternal Triangle. Die Manöver hatten englische Namen, weil die British Army of the Rhine (BAOR) immer dabei war. Ich war immer dabei, weil mich mein Bataillon für diese Manöver als Verbindungsoffizier zu den Engländern immer wieder anwarb. Niemand im Bataillonsstab konnte wirklich Englisch. Französisch konnte auch keiner der Stabsoffiziere, das weiß ich von den drei Monaten, die wir im Manöver in Frankreich waren. Eternal Triangle III endete für mich im Bundeswehrlazarett Hamburg-Harburg, ich hatte mir bei einem Unfall beinahe das Genick gebrochen. Der Aufforderung zum Kompaniechef-Lehrgang im nächsten Jahr kam ich nicht nach. Ich hatte genug von der Bundeswehr. Genug von diesen Manövern, die wie der Zweite Weltkrieg immer im September beginnen. Weil dann die Ernte eingebracht war. Die Bundeswehr wird jetzt im September das Manöver Quadriga 2025 abhalten, die russische Armee das Manöver Sapad 2025. In diesen Tagen haben Manöver einen ganz andere Bedeutung als vor sechzig Jahren. Und die Manöver hören nie auf: si vis pacem, para bellum. Theodor Heuss hätte die Bundeswehr am liebsten verhindert, sein Satz Nun siegt man schön zu jungen Rekruten bei einem Manöver im Jahre 1958 hat Geschichte gemacht.
Der Roman manoeuvre blieb ungeschrieben, aber etwas von der Bundeswehr (auch einige Manöver) ist in diesen Blog hineingekommen: Fallex, Generalskrise, Élysée Vertrag, Uniformen, Fifty Shades of Grey, Schrott, Aurora, Andernach, Großer Zapfenstreich, Bundesmarine, Gorch Fock, Aufklärung, FJS, Unsere Marine, Eisernes Kreuz, Afghanistan, Kabul-Wunstorf, Opernhaus Hannover, Waterloo, Hoya, Landkarten, Winston Churchill, Nachtfahrt, Munitionsdiebstahl, Aurora, Heeresreform, Thomas Lawrences Blücher, Bergen-Belsen, Löwen, Landesverrat, Barett, eine seltsame Geschichte