Sonntag, 22. Dezember 2024

Advent


Unser Advent kommt vom lateinischen Wort adventus, das Ankunft bedeutet. Gemeint ist damit die Ankunft des Herrn (adventus Domini). Aber dieser Advent sind nicht nur die vier Sonntage vor Weihnachten. Für die Christenheit bedeutet das Wort Advent auch immer die Hoffnung auf die Parusie, die Wiederkehr Christi. Wenn ich heute am vierten Advent das Gedicht The Second Coming des irischen Nobelpreisträgers William Butler Yeats aus dem Jahr 1919 hierher stelle, dann passt das nicht so ganz zu Adventskranz und Weihnachtsoratorium. Das ist mir klar. Yeats schrieb, das sagen uns die Literaturhistoriker, das Gedicht unter dem Eindruck des gerade beendeten Ersten Weltkriegs und dem Beginn des Irish War of Independence. Der vielleicht schon mit dem Osteraufstand begonnen hatte, über den Yeats das Gedicht Easter, 1916 schrieb, das mit der Zeile endet: A terrible beauty is born. Aber Yeats wollte kein politischer Dichter sein. Als ihn Henry James 1915 um ein Kriegsgedicht bat, antwortete er mit diesem Gedicht:

On being asked for a War Poem

I think it better that in times like these 
A poet's mouth be silent, for in truth 
We have no gift to set a statesman right; 
He has had enough of meddling who can please 
A young girl in the indolence of her youth, 
Or an old man upon a winter’s night.

Kriegsgedichte sind nicht Yeats' Sache. Wenn er 1935 das The Oxford Book of Modern Verse herausgibt, wird er die Kriegsdichter auslassen: I have a distaste for certain poems written in the midst of the great war; they are in all anthologies ... The writers of these poems were invariably officers of exceptional courage and capacity  ... all, I think, had the Military Cross... but felt bound, in the words of the best known, to plead the suffering of their men. In poems that had for a time considerable fame, written in the first person, they made that suffering their own. I have rejected these poems ... passive suffering is not a theme for poetry. In all the great tragedies, tragedy is a joy to the man who dies; in Greece the tragic chorus danced.

Das Gedicht The Second Coming beginnt mit einem Falken, der sich in der Luft kreisend immer weiter vom Falkner entfernt hat. Es ist ein anderer Falke als der, den Gerard Manley Hopkins in seinem Gedicht The Windhover: To Christ our Lord beschreibt. Es würde sich lohnen, diese beiden Gedichte zu vergleichen. Der Falke bei Yeats gehorcht dem Falkner nicht mehr, die Welt ist aus den Fugen. The falcon cannot hear the falconer; Things fall apart; the centre cannot hold; Mere anarchy is loosed upon the world sind die Verse, die am häufigsten aus diesem Gedicht zitiert werden. Der Leser, der hier every line famous! auf den Text geschrieben hat, hat schon Recht, nicht viele Gedichte können das von sich sagen.

The Second Coming

Turning and turning in the widening gyre  
The falcon cannot hear the falconer;
Things fall apart; the centre cannot hold;
Mere anarchy is loosed upon the world,
The blood-dimmed tide is loosed, and everywhere  
The ceremony of innocence is drowned;
The best lack all conviction, while the worst  
Are full of passionate intensity.

Surely some revelation is at hand;
Surely the Second Coming is at hand.  
The Second Coming! Hardly are those words out  
When a vast image out of Spiritus Mundi
Troubles my sight: somewhere in sands of the desert  
A shape with lion body and the head of a man,  
A gaze blank and pitiless as the sun,  
Is moving its slow thighs, while all about it  
Reel shadows of the indignant desert birds.  
The darkness drops again; but now I know  
That twenty centuries of stony sleep
Were vexed to nightmare by a rocking cradle,  
And what rough beast, its hour come round at last, 
Slouches towards Bethlehem to be born?













Es ist ein apokalyptisches Gedicht, wenn man so will, ein Gedicht der Endzeit. Es ist ein Menetekel für das Nachkriegseuropa. Der schreckliche Mantikor, der auf Bethlehem zuschleicht, ist der Antichrist. Den hat sich Yeats aus der Apokalypse des Johannes genommen, einem Werk, das wie ein Drehbuch für Regisseure von Horrorfilmen erscheint. Es gibt Interpretationen über Interpretationen zu diesem Gedicht. Bei Jay Parini (dessen Schaffen schon in dem Post Lew Tolstoi gewürdigt wird) kann man die Geschichte lesen, dass in seinem Seminar, in dem er das Gedicht von Yeats behandelte, ein Student sagt: He’s writing about Donald Trump, right? Das ist witzig, aber gar nicht so dumm. Das Things fall apart; the centre cannot hold; Mere anarchy is loosed upon the world passt auch zu Donald Trump. Und zu vielem anderen, das gerade in der Welt geschieht. Der Gaza Krieg überschattet die Weihnachtsfeierlichkeiten in Bethlehem. Das rough beast, von dem Yeats schreibt, ist da schon angekommen.

Ich habe zu dem Gedicht eine sehr schöne Übersetzung von Walter A. Aue, der mit seinen Übersetzungen schon mehrfach in diesem Blog zitiert wurde (so in NeujahrEmily Dickinson und Tyger, Tyger). Neben den vielen schönen Übersetzungen, die sich im Internet finden, hatte er ein ganz anderes Leben. Der Mann, der seinen Doktortitel in Wien erhielt, wurde Chemieprofessor in den USA. Und übersetzt so nebenbei deutsche Gedichte ins Englische. Oder englische Gedichte ins Deutsche:

Das zweite Kommen

Drehend und drehend in immer weiteren Kreisen
Versteht der Falke seinen Falkner nicht; 
Die Welt zerfällt, die Mitte hält nicht mehr; 
Und losgelassen nackte Anarchie, 
Und losgelassen blutgetrübte Flut, 
Das Spiel der Unschuld überall ertränket; 
Die Besten sind des Zweifels voll, die Ärgsten 
Sind von der Kraft der Leidenschaft erfüllt. 
 
Gewiß steht jetzt bevor die Offenbarung; 
Gewiß steht jetzt bevor die Wiederkunft. 
Die Wiederkunft! Bevor noch ausgesprochen 
Trübt groß die Vision aus Spiritus Mundi 
Mir meine Sicht: Aus den Sänden der Wüste 
Schimmert das Bild eines Löwen mit Kopf eines Mannes, 
Wie Sonne starrend sein Blick, verschlossen und grausam, 
Die zögernden Schenkel bewegend, daß rings um ihn her 
Aufschwirren die Schatten empörter Vögel der Wüste. 
Wieder bricht Dunkel herein - doch weiß ich es nun 
Daß zwanzig Jahrhunderte eines steinernen Schlafes 
Zum Albtraum erweckt vom Stoß einer schwankenden Wiege: 
Und welch räudiges Tier, des Zeit nun gekommen, 
Kreucht, um geboren zu werden, Bethlehem zu?

Wir wollen es nicht bei der apokalyptischen Adventsvision belassen. Ich habe noch ein Adventsgedicht für Sie. Eins, das zu Adventskränzen und Weihnachtsoratorium passt. Ich bin durch Walter A. Aue auf das schöne kleine Adventsgedicht von Rilke gekommen, das Aue wiederum ins Englische übersetzt hat.

Advent

Es treibt der Wind im Winterwalde 
die Flockenherde wie ein Hirt 
und manche Tanne ahnt, wie balde 
sie fromm und lichterheilig wird, 
und lauscht hinaus. Den weißen Wegen 
streckt sie die Zweige hin, bereit 
und wehrt dem Wind und wächst entgegen 
der einen Nacht der Herrlichkeit.

Advent

The winds drive through the forests, 
running like sheep the snowflakes row by row. 
A conifer dreams of the coming 
of piety and candle glow 
and listens out. Then, toward a clearing 
she opens up her branches' space 
against the wind - and stretches, nearing 
the one night of exaltedness.

Ich wünsche all meinen Lesern einen schönen vierten Advent.

Donnerstag, 19. Dezember 2024

Road Movies

Am Morgen ein Joint und der Tag ist dein Freund. Heute vor fünfundfünfzig Jahren kam Easy Rider in die deutschen Kinos, in Cannes war der Film schon im Mai 1969 zu sehen gewesen. Ein Mann suchte Amerika, doch er konnte es nirgends mehr finden, stand auf dem Filmplakat. Ging es darum? Easy Rider ist ein Road Movie, eins der vielen dieses neuen Filmgenres des New Hollywood Kinos. Massenhaft Landschaft, we've lulled our audiences with beautiful scenery, hat Peter Fonda gesagt. Und massenhaft ✺Musik. Von Steppenwolfs Born to be Wild bis zu Bob Dylans It's Alright, Ma (I'm Only Bleeding). Manchmal denke ich, dass der Soundtrack das Beste am Film war. Wäre der Film nicht von Columbia aggressiv vermarktet worden, sondern wie geplant als Roger Corman Produktion erschienen, er hätte nie diesen Erfolg gehabt. Wenn Sie ein wirklich gutes road movie sehen wollen, dann schauen Sie sich Monte Hellmans Two-Lane Blacktop an.

Quentin Tarantino hat über diesen Film gesagt: Wenn es jemals ein Filmregisseur verdient hätte, wiederentdeckt zu werden, dann wäre das Monte Hellman. Sein Film Two-Lane Blacktop, vom eigenen Studio boykottiert, ist an den Kinokassen ein Flop gewesen. Begeisterte aber die Filmkritiker. Und entwickelte sich so ganz still vom Geheimtip zum Kultfilm. Der New Yorker Buchhändler, der mir vor Jahrzehnten das Drehbuch verkaufte, hatte extra fett scarce auf einen gelben Aufkleber geschrieben. Und natürlich den Preis hochgesetzt. Wahrscheinlich ist es heute wirklich etwas wert (das Filmscript habe ich hier). Easy Rider ist ja, wie gesagt, eigentlich nur wegen des Soundtrack gut - und weil es der Karrierestart für Fonda, Nicholson und Hopper war. Aber es ist kein wirklich guter Film. 

Two-Lane Blacktop (der hier schon einen Post hat) ist ein wirklich guter Film. Das Label existentialistisch hatte er bei der französischen Filmkritik von Anfang an bekommen, und das auch wohl zu Recht. Ein Road Movie, das das gerade erfundene Genre transzendiert. Ein Autorennen quer durch Amerika auf den alten Landstraßen, die einmal die echte Route 66 waren. Bis auf Warren Oates (und in einer Nebenrolle Harry Dean Stanton) keine professionellen Schauspieler. Und das war vielleicht auch gut so. Der Film kommt daher wie das wirkliche Leben, und er ist in den letzten vierzig Jahren erstaunlich jung geblieben. Und vielleicht hat sich das Amerika abseits der großen Highways inzwischen auch kaum verändert. 

Vier Jahre nach der Uraufführung von Easy Rider konstatierte ein Filmkritiker: Incidentally, no picture in recent memory has dated so badly as 'Easy Rider', mainly because the characters have no allure beyond 1969, when the movie was released. Dull-witted, drug-pushing hippie motor-cyclists have become as exciting as a midi-skirt. Heroes should have a longer life expectancy. Aber 1969 machte ein jugendliches Publikum (und die Werbeabteilung von Columbia) den Film zu einem Kultfilm. Obgleich Peter Fonda in Interviews ganz klar gemacht hat, dass die beiden Harley Fahrer nicht die Opfer der Gesellschaft werden, sondern Opfer ihres eigenen falschen Freiheitsbegriffes:

 My movie is about the lack of freedom, not about freedom. My heroes are not right, they're wrong. The only thing I can end up doing is killing my character. I end up committing suicide; that's what I'm saying that America is doing, hat Peter Fonda in einem Interview mit Rolling Stone gesagt. Pauline Kael konnte sich nur zu dem sibyllinischen Satz the movie's sentimental paranoia obviously rang true to a large, young audience's vision. In the late '60s, it was cool to feel that you couldn't win, that everything was rigged and hopeless. The film was infused with an elegiac sense of American failure durchringen. Lobte aber die Landschaftsaufnahmen und die Musik.

Man muss schon sehr genau hingucken, dann ist sie schon wieder weg. Aber es ist wahr, Peter Fonda hat die ganze Zeit bei den Dreharbeiten von Easy Rider seine goldene Rolex getragen. Was der Captain America am Anfang des Filmes wegwirft, ist nur eine billige Timex. Hätte er wirklichen Stil gehabt, hätte er die Rolex weggeschmissen. Die goldene Rolex ist vor Jahren auf einer Auktion verkauft worden. Sie brachte längst nicht so viel wie die amerikanische Flagge, die auf Fondas Lederjacke genäht war. Das wird die Firma Rolex schmerzen. Die Firma Harley-Davison wurde durch diesen Film vor dem Ruin gerettet, und für Jack Nicholson gab es die erste Oscar Nominierung. Mit Hells Angels on Wheels war ihm das zwei Jahre zuvor nicht gelungen. Fünf Jahre nach Easy Rider gab es für den Mythos des Motorradfahrens mit Zen and the Art of Motorcycle Maintenance: An Inquiry into Values noch ein philosophisches Überbauwerk. Das Buch wurde allerdings von Lederjackenträgern kaum gelesen.

Heute kaufen sich leicht angejahrte übergewichtige Deutsche in der midlife crisis auf dem Hamburger Kiez bei Easy Rider eine Lederjacke, schon auf antik gemacht. Neu darf nicht sein. Tim Mälzer hat da mal in dem Laden gearbeitet. Und dann brettern sie mit ihrer Harley durch Amerika und kommen sich ganz toll dabei vor: Du, ich sag' Dir, das war richtig Easy Rider mäßig. So 'Born to be Wild', und Du weißt schon. Ich kann das nicht mehr hören. Meine Standardantwort ist dann, dass ein easy rider im Jazz Slang der Roaring Twenties jemand ist, der seine Nutte nicht bezahlt. Ich habe vor Jahrzehnten, als das Genre der Road Movies noch neu war, einmal etwas über die amerikanischen Road Movies geschrieben, die gleichzeitig mit den Spätwestern in die Kinos kamen. Zehn Jahre später habe ich festgestellt, dass jemand an der Uni Hamburg einen Doktortitel dafür bekommen hat, dass er das Road Movie Kapitel meines Buches beinahe eins zu eins in seine Arbeit transferiert hat. Natürlich mit einigen Umformulierungen. Ich habe mir überlegt, ob ich der Uni Hamburg schreiben sollte, habe es aber dann gelassen. Diese kleinen Guttenbergs werden nie aussterben.

Dienstag, 17. Dezember 2024

Uploads


Ich hatte eine Woche meinen neuen Computer mit dem mac OS Sonoma System, da fragte er mich am Sonntagmorgen, ob er ein Upload vornehmen dürfe. Ich dachte mir nichts Böses und gestattete es ihm. Ich hätte vielleicht vorher lesen sollen, was er vorhatte. Denn das war kein normales Upload, das war ein vollständiger Systemwechsel. Statt mac OS Sonoma hatte ich jetzt mac OS Sequoia auf dem Computer, das gab es noch gar nicht, als ich den Computer kaufte. Der Mac brauchte länger als eine Stunde, um das alles zu laden. Danach ging erst einmal nix mehr. Ich konnte keine Bilder aus dem Internet laden und sie in meinem Blog plazieren. Cache löschen und zweimaliger Neustart halfen. Statt der schönen Weinberge hatte ich plötzlich kalifornische Riesenbäume im Sonnenlicht als Bildschirmschoner. Ich holte mir die die sanften Hügel von Sonoma in Nordkalifornien zurück, die das Mac Erlebnis noch beeindruckender machen. Ich hatte mich ja so an die sanften Hügel von Sonoma gewöhnt, die sich jeden Tag verändern. Bei jedem Einschalten des Computers ist die Kamera ein bisschen über den Weinberg gefahren. Sonoma war so stolz auf die beeindruckenden Bildschirmschoner mit Zeitlupenvideos, aber das ist bei Sequoia offenbar dasselbe. Das neue System macht ungefragt seltsame Dinge, aber irgendwann werde ich es unter Kontrolle haben, da bin ich mir sicher. Das Buch Senior's Guide to macOS Sequoia werde ich mir bestimmt nicht kaufen.

Ich hatte noch ein anderes Upload. Nicht auf dem Computer, auf dem Fernseher. Die Firma Freenet, von der ich mein Fernsehen über eine kleine Zimmerantenne empfange, spendierte mir drei Dutzend neue Sender. Bei den meisten steht allerdings keine Daten verfügbar dabei. Der Rest sind Teleshopping Sender wie 123 TV . Da habe ich zum ersten Mal in meinem Leben die Sendung Dennis Lieblingsuhren gesehen. Da sitzt jemand vor der Kamera und preist wortgewaltig stundenlang Uhren von Firmen an, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Die haben exorbitante Preise, aber weil dies ein Auktionssender ist, fallen die Preise während seiner Lobhudeleien immer weiter in den Keller.

Jetzt habe ich viermal RTL, den Sender hatte ich bisher gar nicht. Das erste, was ich sah, war Daniela Katzenberger. Die wurde 2011 schon einmal in dem Post Neuerscheinungen erwähnt. Da steht auch, dass sie nie wieder in diesem Blog vorkommt. Nun ist es passiert. Und es ist ja nicht nur Daniela Katzenberger, die ich jetzt auf einem Dutzend Trash TV Sendern sehen kann. Nein, ich kann auch Gülcan Kamps sehen, die über ihre Show sagt: In meiner neuen und aufregenden TV-Show ‚My Style Rocks' präsentieren täglich zwölf wunderschöne Kandidatinnen kreative Looks zu verschiedenen Themen. Die ikonischste Kandidatin wird am Ende der Staffel 20.000 Euro gewinnen. Die Verwendung des Wortes ikonisch im Trash TV stört mich ein wenig, die Steigerung des Wortes noch mehr. Genau so wie die Sendung Die nervigsten Trash TV Stars. Man kann nervig nicht steigern. Wir sind hier in einer Welt, in der alle Männer tätowiert sind und alle Frauen aufgespritzte Lippen und Silikontitten haben. In Shakespeares Tempest sagt Miranda: O, wonder! How many goodly creatures are there here! How beauteous mankind is! O brave new world, That has such people in't.

Die Hyperbel ist das Stilmittel all dieser Sendungen, in denen sich sogenannte Promis, Celebrities, Reality Stars, Social Media Stars, Pornostars, Influencer, Moderatoren und Comedians tummeln. Das Schlimmste sind die Pseudo Doku Soaps, die auch den Namen Scripted Reality haben. Das Wort Reality hat im Trash TV eine ganz neue Bedeutung bekommen. Kulturhistorisch gesehen ist Trash-TV fast das Wichtigste, was der deutschen Gesellschaft seit der 68er-Bewegung passiert ist, weil das Volk dadurch endlich verstehen konnte, woraus es tatsächlich besteht, sagen Eric T. Hansen und Astrid Ule in Die ängstliche Supermacht. Warum Deutschland endlich erwachsen werden muss. Na dann. Jetzt weiß ich endllich dank RTL+, dass die Welt aus Daniela Katzenberger, Harald Glööckler  und Kim Kardashian besteht. Soll ich nochmal Shakespeares O brave new world, That has such people in't zitieren? Lou van Burg hätte wunnebar gesagt.

Samstag, 14. Dezember 2024

der erste Präsident Amerikas


Heute vor 225 Jahren starb George Washington. Er wuchs als Engländer auf, er kämpfte als Colonel für die Engländer im French and Indian War. Doch dann lehnte er sich gegen seinen König auf. Seine Mutter hatte ständig Angst, dass die Engländer ihren Sohn aufhängen würden. Dazu ist es nicht gekommen, der General Washington wird als Oberbefehlshaber der Kontinentalarmee die Engländer besiegen. Dem Gründervater der USA hat der Kongress posthum 1976 für die Vergangenheit und die Gegenwart den höchsten Dienstgrad eines General of the Armies of the United States verliehen. Washington war ein gebildeter Mann. Selbst wenn sich John Adams über ihn mokierte That Washington is not a scholar is certain. That he is too illiterate, unlearned, unread for his station is equally beyond dispute, muss man sagen, dass Washington durchaus gut Latein konnte. Sein Französisch war lausig, aber er kam mit dem  Comte de Rochambeau gut zurecht, und gemeinsam besiegten sie Cornwallis in Yorktown. Washington sammelte Kunst, keine Bilder von Schlachten, sondern Landschaftsgemälde. Und er hatte eine Bibliothek, die beinahe tausend Bücher enthielt. Das ist im 18. Jahrhundert sehr, sehr viel, Immanuel Kant besaß nicht so viele Bücher. Washington lebte auf seinem Landsitz Mount Vernon wie ein englischer Landedelmann. Er ließ sich seine Anzüge in London machen. Aber nach der Revolution nicht mehr.

Wenn Washington zu seiner Amtseinführung als Präsident reist, trägt er keine englischen Klamotten mehr. Auch nicht seine blaue Generalsuniform. Er ist sich der Symbolik des Anlasses bewusst, er wird einen braunen Anzug aus heimischem broadcloth mit silbernen Knöpfen (die ein Adler ziert) tragen. Natürlich mit Seidenstrümpfen und schwarzen Schuhen mit silberner Schnalle. Der Anzug stammte von der Firma Tinsdale, die hatte ihm Henry Knox empfohlen, der Buchhändler aus Boston, der General im Unabhängigkeitskrieg gewesen war. Der, der die englischen Kanonen von Ticonderoga nach Boston geschleppt hatte. General Knox this day to procure me homespun broadcloth of the Hartford fabric, to make a suit of clothes for myself. I hope it will not be a great while before it will be unfashionable for a gentleman to appear in any other dress. Indeed, we have already been too long subject to British prejudices, notiert Washington im Tagebuch.

Als kleiner Junge soll er mit einer kleinen Axt den Kirschbaum im Garten beschädigt haben. Das erzählt uns Parson Weems in seiner History of the Life and Death, Virtues and Exploits of General George Washington. Der kleine George hat sich zu seiner Untat bekannt und ausgerufen: I cannot tell a lie, father, you know I cannot tell a lie! Die Geschichte (hier sehen wir sie auf einem Bild von Grant Wood) haben über hundert Jahre junge Amerikaner in ihren Schulbüchern gelesen. Weems hat sie erfunden, nichts von dem Kirschbaum Mythos ist wahr. Washington war ein Mann der Tugenden, darin sind sich die Historiker und seine Biographen ziemlich einig. Als kleiner Junge hat er sich 110 Tugendregeln aufgeschrieben, an die er sich halten wollte. Was ihm wohl gelungen ist, it may truly be said that never did nature and fortune combine more perfectly to make a man great, hat Jefferson geschrieben. 

I cannot tell a lie, der erste amerikanische Präsident wird nicht lügen. Das bringt mich nun, obgleich ich das eigentlich vermeiden wollte, zu dem neugewählten Präsidenten Donald Trump, der ein Lügner durch und durch ist. Ich hätte das nicht erwähnt, denn es ist eigentlich zu billig, einen professionellen Lügner wie Donald Trump mit dem ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten zu vergleichen. Es sei denn, man schreibt auf dem Niveau von Tom Nichols in The Atlantic. Aber dann las ich den Satz von Sylvester Stallone, der Trump für den zweiten George Washington hält. Sie kennen den Mann, der seine schauspielerische Karriere in dem Softporno Kitty & Studs: Der italienische Deckhengst begann. Und der hat gerade in Anwesenheit von Trump gesagt: Als George Washington sein Land verteidigte, hatte er keine Ahnung, dass er die Welt verändern würde. Denn ohne ihn könnte man sich vorstellen, wie die Welt aussehen würde. Und wisst ihr was? Wir haben den zweiten George Washington. 

Was soll man dazu sagen? Wir werden in den nächsten Jahren sicher noch ähnliche Dinge hören. Wir lassen den zweiten George Washington jetzt einmal weg und kommen zurück auf den echten George Washington, über den sein Freund Freund General Henry Lee (der Vater von Robert E. Lee) in der Abschiedsrede sagte: First in war, first in peace, and first in the hearts of his countrymen, he was second to none in the humble and endearing scenes of private life. Pious, just, humane, temperate, and sincere; uniform, dignified, and commanding, his example was as edifying to all around him as were the effects of that example lasting. Biographien zu Washington gibt es genug, ich habe ein halbes Dutzend gelesen und die wichtigsten in dem Post Biographien besprochen. Bevor Marcus Cunliffe Englands bedeutendster Amerikanist wurde, war er Offizier in einem englischen Panzerbataillon, das meine Heimatstadt Bremen befreite. 1958 veröffentlichte er mit Washington: Man and Monument (hier im Volltext) die beste kurze Washington Biographie.

Und dann ist da noch Esmond Wright, ein weiterer Pionier der American Studies in England. Wie Cunliffe Offizier im Zweiten Weltkrieg, und wie Cunliffe zeitlebens vom Militär fasziniert. Es ist schon ein wenig ironisch, dass zwei Ex-Offiziere der britischen Armee jetzt in den fünfziger Jahren die besten Bücher über den Mann schreiben, der einst diese Armee besiegte. Esmond Wrights Washington and the American Revolution, zeitgleich mit Cunliffes Buch erschienen (und mit lobenden Worten von Cunliffe auf dem Cover), bleibt das beste Buch über Washingtons Rolle im Unabhängigkeitskrieg. 

Das am häufigsten zitierte Buch ist heutzutage Joseph J. Ellis' His Excellency: George Washington, das es beim C.H. Beck Verlag auch in deutscher Übersetzung gibt. So gut die Bücher des Pulitzer Preisträgers Ellis sind, es bleibt ein Makel an ihm. Und hier kommt das Wort Lügen wieder ins Spiel. Professor Ellis hatte seinen Kollegen und den Studenten in seinen Vorlesungen jahrelang erzählt, er sei Offizier im Vietnamkrieg gewesen. Er war nie in Vietnam. Er musste die Universität für ein Jahr verlassen (durfte aber die Bibliothek benutzen). In dem Jahr Strafbeurlaubung, als ganz Amerika über ihn lachte, hat er die Biographie geschrieben. Die kleine Geschichte von I cannot tell a lie hat er dabei im Kopf gehabt: the notion that Washington could not tell a lie is itself an adolescent fable. But thinking about what right and wrong means, how you deal with your imperfections and how you learn from your mistakes is something Washington does speak to. Es ist ein gutes Buch, ohne Frage, aber die Entstehungsgeschichte ist doch ein wenig absonderlich. Ich möchte Ihnen zum Schluss auch noch die erste deutsche Biographie von Walther Reinhardt aus dem Jahre 1931 empfehlen. Die bekommt man bei ebay in der Orginalausgabe für 7,70 €. Für das Geld bekommen Sie bei ebay allerdings auch schon zwei goldene Donald Trump Gedenkmedaillen, aber ich glaube das Buch von Walther Reinhardt bringt Ihnen mehr.



Mittwoch, 11. Dezember 2024

A fragrance your enemies can't resist


Da sitzen Jill Biden und Donald Trump bei der Wiedereröffnung von Notre Dame beinahe nebeneinander. Das französische Protokoll hat das offenbar so gewollt. Zwischen ihnen steht der Stuhl von Madame Macron, aber die hat noch nicht Platz genommen. Die Gattin des amerikanischen Präsidenten, die an diesem Tag Amerika vertritt, lächelt. Eine nette Szene. 

Wenig später sieht das so aus. Brigitte Macron und ihr Ehemann haben Platz genommen, und Trump scheint Madame Macron zu lauschen. Sie wird Englisch sprechen, Trump kann kein Französisch. Sieben Jahre zuvor hatte er zu ihr gesagt: You know, you're in such good shape. Und zu ihrem Ehemann gewendet: She's in such good physical shape. Brigitte Macron hat diese peinlichen sexistischen Bemerkungen jetzt höflicherweise vergessen. Die Première dame und die First Lady haben beide studiert und haben einen Universitätsabschluss. Ashley Biden links neben ihrer Mutter auch. In dieser Reihe ist Trump der einzige, der keine akademische Meriten und keine Fremdsprachenkenntnisse hat, das muss einmal so gesagt werden.

Aber kommen wir zu dem ersten Bild zurück. Denn dieses Bild aus der Kathedrale taucht wenige Tage später in einem ganz anderen Zusammenhang wieder auf, und nun wird es ein klein wenig schamlos und geschmacklos. Denn Donald Trump benutzt das Bild als Werbung für sein neues Duftwasser Victory. Und wir können auf der Anzeige lesen: A fragrance your enemies can't resist. Jill Biden lächelt offenbar nur deshalb so nett, weil sie dem Parfüm von Donald Trump nicht widerstehen kann. Mit Frauen hat Donald Trump ja seine Schwierigkeiten, man kann diese Werbung auch als eine Verhöhnung der First Lady lesen. Über das neue Eau de Cologne erfährt man: 'Victory' is the signature scent of strength and success, encased in a luxurious gold bottle. This cologne, a part of President Trump's exclusive line, is for the decisive and the bold. A crisp opening of citrus blends into a cedar heart, underpinned by a rich base of leather and amber, crafting a commanding presence. 'Victory' is more than a fragrance— this cologne is for the movers, the shakers, and the history makers. Crowned with a Trump Collector's cap, splash on a bit of Victory and own every room you step into.

Im Mai des Jahres  schrieb Robert B. Reich, der unter Clinton Arbeitsminister war, in seinem Blog den PostMit Trump ist alles käuflich. Da war gerade die Trump Bibel auf den Markt gekommen. Den neuen Duft kannte Reich damals noch nicht. Die goldene Trump 'Victory' Uhr für 100.000 Dollar auch nicht. Der Guardian beschrieb die Uhr (die vielleicht aus China stammt) als This ostentatious gold monstrosity might just be the tackiest thing he – or indeed anyone – has brought out, everAuf seiner Plattform Social Truth schreibt Trump über sein neues Parfüm: Here are my new Trump Perfumes & Colognes! I call them Fight, Fight, Fight, because they represent us WINNING. Klingt großartig, es sind aber eher Worte der Verzweiflung. Donald Trump braucht jetzt jeden Cent, denn er hat Milliardenschulden. Im Parfümgeschäft war er vor zwanzig Jahren ja schon einmal mit einem Duft, den ihm Annie Buzantian gemischt hatte. Es bleibt natürlich die Frage, die sich auch Rowan Pelling im Independent stellte: wer gibt 199 Dollars aus, um wie Donald Trump zu riechen?

Lesen Sie auch Aftershave und Äquivalenzparfüm

Freitag, 6. Dezember 2024

Nikolaus


Ick bin en lüttjen König, 
geevt mi nich to wenig,
Laat mi nich so lange stahn,
ick mutt all weder wiedergahn.

Noch bevor man in der Schule Gedichte lernte, lernte man in Bremen diese Verse. Ich habe große Teile von Schillers und Goethes Gedichten vergessen, aber das Halli, Halli, Hallo, So geiht nah Bremen to, das vergisst man nicht. Und so durfte in diesem Blog im Dezember 2010 ein Post zum Nikolaus nicht fehlen, es war mein erster Nikolaustag als Blogger. Da wusste ich noch nicht, wohin die Reise ging. Jetzt kennt mich die Welt. Darf man das so sagen? Meine Leser mögen mich, und ich mag meine Leser. Meine Leser mögen mich, weil ich Geschichten erzähle. Und nebenbei auch noch ein klein wenig Bildung vermittle. Und weil ich hemmungslos subjektiv bin. Ein Zettel mit Goethes Satz: Sieh, liebes Kind, das ist ein Vorzug, den die Leute haben, die nicht schreiben: sie kompromittieren sich nicht, klebt an meinem Schreibtisch. Also da, wo Herman Melville seinen Zettel mit dem Keep true to the dreams of thy youth kleben hatte.

Der Nikolaus Post, der zuerst Sünnerklaas hieß, ist in diesem Blog am 6. Dezember immer wieder aufgetaucht. Ich stelle ihn heute in der Version von 2010 hier hin. Ohne Bilder. Bilder konnte ich noch nicht. Jetzt kann ich alles. Ich wünsche meinen Lesern eine schöne Adventszeit.



Als die Winter noch kälter waren als in diesen Tagen, als die Straßenbeleuchtung noch spärlich war und der Schutzmann noch einen Tschako trug, da waren am Abend des Nikolaustages in Bremen lauter kleine Nikoläuse unterwegs. Der Heilige Nikolaus hieß in dieser Gegend auch Sünnerklaas, was plattdeutsch für Sankt Klaus ist. Je weiter man nach Holland kam, desto mehr verwandelte sich dieses Sünnerklaas (oder Sünnerklaus) zu Sinnerklaas. Es blieb aber immer der gleiche Heilige Nikolaus von Myra, der der Schutzheilige der Kinder und der Seefahrer ist. Weshalb auch jede Hafenstadt eine Nikolaikirche hat. Obgleich Bremen von den Amerikanern besetzt war, hatte Halloween mit trick-or-treat auf uns noch nicht abgefärbt. Bei uns gab es das Nikolauslaufen. Dazu musste man sich verkleiden, eine rote Mütze, ein falscher Bart und ein Stock (die symbolischen Reste des Bischofstabs) gehörten zu dem Outfit. Opas Spazierstock eignete sich hervorragend dafür. Und natürlich ein Sack, in den man die empfangenen Süßigkeiten wie Moppen und Spekulatius tat. Und man musste sein Sprüchlein an jeder Tür in der Nachbarschaft aufsagen:

Nikolaus de gode Mann,
kloppt an alle Dören an.
Lüttje Kinner gifft he wat,
grode steckt he in'n Sack.
Halli, Halli, Hallo,
So geiht nah Bremen to.


Und wenn da nicht schnell genug die Süßigkeiten rausgerückt wurden, dann kam da noch, unter Aufstampfen des Stockes, eine zweite Strophe:

Ick bin en lüttjen König,
geevt mi nich to wenig,
Laat mi nich so lange stahn,
ick mutt all weder wiedergahn.
Halli, Halli, Hallo,
So geiht nah Bremen to.


Es ging immer nah Bremen to, da wollten die Bremer Stadtmusikanten auch hin (Ei, was, du Rotzkopf, sagte der Esel, zieh lieber mit uns fort, wir gehen nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall). Nun macht es ja keinen großen Sinn, halli, halli, hallo, so geiht nah Bremen to zu singen, wenn man sowieso in Bremen ist. Obgleich die Stadt Bremen für uns in Nordbremen weit, weit weg war. Irgendwie scheint diese Sache mit Bremen (wie vielleicht auch das ganze Nikolauslaufen) aus den Liedern zu kommen, die am Martinstag in Ostfriesland gesungen wurden, wo es Sünnematten, Mattenherrn oder Matten Matten Mähren hieß. Da sang man dann:

Matten-, Mattenmähren,
die Äpfel und die Beeren,
gute[r] Frau [Mann], gib uns was.
Lass uns nicht so lange steh'n!
Wir wollen noch nach Bremen geh'n.
Bremen is ne große Stadt,
da kriegen alle Kinder wat,
die Großen und die Kleinen,
sonst fang se an zu weinen.


Im 19. Jahrhundert hat es in Bremen - der Stadt von der man in Liedern und im Märchen träumt, dass dort alles besser ist - noch andere Strophen zu dem Nikolauslied gegeben, wie zum Beispiel:

Miin Vadder is Zigarrenmaaker,
miin Mudder ruppt Toback.
Un wenn ji dat nich glöben wüllt,
denn steck ick jo inn'n Sack.
Halli, halli, hallo
So geiht na Bremen to.


Das wurde nun wohl in den Stadtteilen gesungen (es ist auf jeden Fall aus Hastedt überliefert), wo die weniger Begüterten wohnten. Und man muss wahrscheinlich auch betonen, dass das Nikolauslaufen zuerst eine Sache der ärmeren Schichten gewesen ist, bevor es im 19. Jahrhundert von allen Bremer Kindern adaptiert wurde. Die Zigarrenmaaker kommen in unzähligen Bremer Döntjes aus dem 19. Jahrhundert vor. Man kann der Strophe auch entnehmen, dass Frauenarbeit in den Bremer Fabriken selbstverständlich ist - miin Mudder ruppt Toback - und auch die Kinderarbeit, selbst wenn sie hier im Nikolauslied nicht vorkommt. Die Zigarrenmaakers sind die erste gewerkschaftlich organisierte Gruppe in Bremen, wo es in der Mitte des 19. Jahrhunderts 78 Tabakfabriken gab. Sie bildeten auch ein Element gesellschaftlicher Unruhe in der sonst festgefügten konservativen bürgerlichen Struktur des 19. Jahrhunderts. Das repräsentative Gebäude neben dem Dom, auf dem mit goldenen Lettern Verein Vorwärts steht, gehörte seit 1853 dem Bildungsverein der Zigarrenmacher. Heute ist da die Wittheit zu Hause. Der Zusammenschluss der Zigarrenmacher verfolgte neben der Wahrung sozialer Interessen auch Ziele in der Allgemeinbildung. Und sie hatten Vorleser in der Fabrik.

Vielleicht kann man das mit den Zigarrenmachern in Kuba vergleichen, die in ihren Fabriken einen Vorleser hatten, der ihnen während der Arbeit Romane vorlas. So hörten die Arbeiter Victor Hugo, Alexandre Dumas, Jules Verne, Shakespeare und Emile Zola. Angeblich sollen so die Zigarrenmarken Montechristo und Romeo y Julieta nach dem Grafen von Montechristo und Shakespeares Theaterstück benannt worden sein. Manchmal lasen die Vorleser auch Politisches aus Zeitungen vor, was bei den Fabrikbesitzern nicht so gut ankam (und manchmal verboten wurde). Ob der leidenschaftliche Zigarrenraucher Karl Marx das gewusst hat? Auch in den Bremer Tabakfabriken hat es solche Vorleser gegeben, die von den Arbeitern bezahlt wurden. Manchmal waren das auch Kinder und Handlanger, die kosteten nicht so viel. Der Beginn der Arbeiterbildung liegt, auf jeden Fall in Bremen, im Tabakrauch.

Vorleser gibt es in Kuba heute immer noch, auch wenn sie - wie Guillermo Cabrera Infante in seiner wunderbaren Kulturgeschichte des Rauchens Holy Smoke etwas gehässig sagt - heute die Gesammelten Werke von Fidel Castro vorlesen müssen. Die erste Zigarrenfabrik in Kuba, die einen bezahlten Vorleser gehabt haben soll, hieß El Figaro. Wenig später folgte Don Jaime Partagas (die Firma und die Zigarre heißt immer noch so), der dem Vorleser sogar ein Lesepult spendierte. Als der amerikanische Innenminister W.H. Seward kurz nach dem Bürgerkrieg die Fabrik von Partagas besuchte, war er von diesem System begeistert. Da hatten schon alle Tabakfabriken in Kuba einen Vorleser. Was sie nicht hatten, waren (im Gegensatz zu Bremen) weibliche Arbeitskräfte. Diese Geschichte, dass eine gute Zigarre auf den Schenkeln einer Kubanerin gerollt sein muss, entstammt männlichen Phantasievorstellungen. Erst Ende der 1870er Jahre fängt die erste Frau in einer Zigarrenfabrik auf Kuba an. Da ist die Oper Carmen schon aufgeführt worden.

Ich erwähne die nur, weil da eine Zigarettenfabrik drin vorkommt, die der berühmte Wilfried Minks (von Bremen nach Hannover ausgeliehen) Anfang der sechziger Jahre in Hannover so schön auf die Bühne gezaubert hatte. Und der Regisseur hatte den Einfall, Carmen auf der Bühne rauchen zu lassen. Und sie dann so wahnsinnig cool die Ziggi wegschnippen zu lassen, bevor sie L'amour est un oiseau rebelle singt. Der Effekt wurde aber bei der Premiere noch übertroffen. Ein junger, schlaksiger Verehrer der Sängerin der Carmen wanderte den linken Gang entlang bis zur Bühne und warf der Sängerin eine langstielige rote Rose vor die Füße, als sie mit der Habanera fertig war. Danach verließ er den Zuschauerraum. Die Krönung des Ganzen war, dass er eine rote Lederjacke trug. Wo um alles in der Welt kriegt man Anfang der sechziger Jahre eine quietscherote Lederjacke her? Roter als jeder Nikolausmantel. Ich war die ganze Aufführung lang neidisch. Auf die rote Lederjacke und auf diesen Kerl, der die Sängerin kannte.

Wenn die Strophe mit dem lüttjen König allen geläufig ist, so scheint es in Bremen im 19. Jahrhundert dabei auch noch eine Variation gegeben zu haben, die weniger auf kleine Könige und auf Kinder von Zigarrenmaakers als auf soziales Elend hinweist:

Ick bün so’n lütten Schipperjung,
Mutt all miin Broot verdeen’n,
Den ganzen Dag in’t water stan
Mit mine korten Been’n
Halli, halli, hallo,
Nu geiht’t na Bremen to

Über das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Schreiben: da fange ich mit einer Kindheitserinnerung an, mit Versen, die ich immer noch aufsagen kann, und dann muss ich erkennen, dass wir Bremer mit diesem schönen Brauch nicht allein gewesen sind. Nikolauslaufen hat es überall gegeben. Inzwischen ist es beinahe ausgestorben, jetzt importieren wir kommerzialisierte amerikanische Bräuche wie Halloween. Im Norddeutschen Rundfunk wird darüber abgestimmt, ob die Hörer Last Christmas von Wham hören sollen. 54 Prozent der Anrufer sind dafür. Ich könnte wetten, dass keiner von denen, die den zum Dudelfunk heruntergekommenen NDR hören, ein halbes Dutzend deutscher Weihnachtslieder mit allen Strophen beherrscht.

Und die Zigarrenfabriken in Bremen gibt es auch nicht mehr, wenn man von Resten wie Martin Brinkmann (Lux, Peer Export, Lord Extra) mal absieht. Das ist aber nichts mehr vom Glanz der großen Zeit, als der Zigarrenkönig Friedrich Biermann von der Firma Leopold Engelhardt & Biermann sechstausend Arbeiter beschäftigte. Durch die für Bremen ungünstige Zollordnung, hat sich die Zigarrenfabrikation in der zweiten Häfte des 19. Jahrhunderts nach Bünde in Westfalen verlagert. Mein Opa hätte die Villa von Biermann in St Magnus in den zwanziger Jahren billig kaufen können. Aber dann hätte er jeden Morgen zu seiner Schule durch den Arbeiterstadtteil Grohn (der für ihn den bösen Beinamen Kamerun bei Pumpe hatte) marschieren müssen, und das war dem kaisertreuen Ex-Hauptmann nun wirklich nicht zuzumuten.

Je mehr ich begann, den Anfängen des Nikolauslaufens nachzugehen, musste ich feststellen, dass natürlich die Volkskundler und die Lokalhistoriker sich schon mit dem Thema beschäftigt haben. War ja auch anzunehmen, dass hinter all dem, was wir tun, etwas Mythisches steckt. So wie es uns James George Frazer und Jessie L. Weston (ohne die wäre Eliots The Waste Land nichts geworden) gezeigt haben. Das interessiert einen aber nicht, wenn man mit kalten Füßen, laufender Nase und schidderigem roten Bademantel im Dunkeln an einer fremden Tür klingelt und die magischen Worte sagt: Nikolaus de gode Mann, kloppt an alle Dören an.

Donnerstag, 5. Dezember 2024

demise


Nach dreiundfünfzig Jahren schließt Uli Knecht sein Stuttgarter Stammhaus. Das ist das Ende vom schleichenden Untergang seines kleinen Modeimperiums, das er mit neunzehn Jahren begründete. Im letzten Jahr hatte er seinen Laden auf der Düsseldorfer Königsstraße aufgegeben, den er vierzig Jahre gehabt hatte. Da sollte ein Luxus Tempel namens Calatrava Boulevard entstehen, aber das Projekt scheint schon wieder beerdigt zu sein. Vor drei Jahren schlossen Knechts Geschäfte in Berlin und in Frankfurt. Mal sehen, wie lange ich noch mache, sagte er damals gegenüber der Textilwirtschaft. 2017 hatte er schon seinen Laden in Hamburg in den Großen Bleichen schließen müssen, die Miete war zu hoch geworden. Wir haben 450 Quadratmeter, und pro Quadratmeter zahlen wir mehr als 100 Euro, sagte er der Bild Zeitung. Es geht ihm jetzt wie Thomas Rusche, der 2020 seine Soer Filialen an die Bonavest GmbH übergab, die aber in diesem Sommer auch schon Insolvenz anmelden musste. Hinter dem Namen Bonavest steht Christian von Daniels, dem die Firma van Laack gehört. Rusche verlor nicht nur seine Ladenkette, er verlor auch seine große Kunstsammlung, aber seinen Glauben an Gott hat er nicht verloren, wie man diesem Video entnehmen kann. 

Kunstsammler war Uli Knecht auch gewesen, er kaufte moderne Kunst, wie diesen Baselitz hier und solche Sachen. Eine Lavender Marilyn von Andy Warhol besaß er auch. Thomas Rusche kaprizierte sich auf die alten Niederländer, er besaß auch die größte private Sammlung von Bildern von Wolfgang Heimbach. Uli Knecht war gelernter Photograph, in den siebziger Jahren hatte er, was die Mode betrifft, die Zeichen der Zeit erkannt. Gleichzeitig mit Leuten wie Dietmar Kirsch, Thomas Friese (Thomas-I-Punkt), Dolf Selbach,  Heinrich Zapke oder Hans Carl Kapelle (Kelly's) hatte er eine Marktlücke entdeckt. Es geht um Kleidung, die raffiniert einfach ist, sportiv und bequem, aus den besten Materialien und ausgezeichnet durch den unnachahmlichen Stil ihrer Schöpfer, war seine Devise. Bei Uli Knecht gab es Hemden von Guy Rover und Orian. Und Pferdelederschuhe von Alden. Und ansonsten gab es Kiton und Caruso. Und Lederjacken. Aus dem Laden ist ein kleines Imperium geworden, und wenn es mit den großen Marken mit der Zeit ein wenig nach unten gegangen war, die Lederjacken von Uli Knecht hatten einen sprichwörtlich guten Ruf.

Aber Knechts kleines Reich hört am Ende des Jahres auf zu bestehen. Tatsache ist, dass immer weniger Leute in die Stadt zum Einkaufen kommen und Tatsache ist, dass die Leute immer mehr sparen müssen. Im Grunde spricht alles gegen den stationären Handel, hat Knecht gesagt. Auf seiner Homepage gibt es einen Text, der jetzt schon reine Nostalgie ist: Uli Knecht trifft in den 70er Jahren mit diesem Credo stilsicher den Puls der Zeit. Erst 19 Jahre jung aber als ausgebildeter Fotograf bereits mit dem geschulten Blick für das Detail und dem Gespür für das große Ganze, schließt er mit seinem Angebot an 'Casual Chic' souverän eine Marktlücke. Wohlklingende Namen wie Armani oder Brioni sind zu dieser Zeit nur Kennern ein Begriff, doch was international als 'Sportswear' bekannt ist, stößt auch hierzulande rasch auf Begeisterung. Mittlerweile finden sich Stores in allen angesagten deutschen Großstädten von Stuttgart bis Berlin. Das Sortiment fasziniert neben großen Traditionsmarken auch durch jüngere Luxus-Labels sowie die Eigenmarke. Denn was Uli Knecht ganz zu Beginn in Worte fasst, beschreibt auch heute treffend eine Philosophie, die Sie in jedem einzelnen Stück wieder finden werden.  Der Photograph Uli Knecht scheint in wenig kamerascheu zu sein, denn im Netz findet sich auf der Seite von Burkhard Maus nur ein einziges Photo.

Als ich vor neun Jahren den Post Herrenausstatter schrieb, war das schon ein Abgesang auf viele Geschäfte. Inzwischen mussten noch mehr Läden schliessen, eines Tages wird es nur noch Online Shops geben. Die großen sartorialen Platzhirsche wie Braun in Hamburg und Werner Scherer in München (der mittlerweile die Reste von R. Böll vertickt) werden sicher bleiben. Aber Uli Knecht hat Recht, bei der Verelendung der deutschen Innenstädte spricht im Grunde alles gegen den stationären Handel. Die Multilabel Filialisten aus dem Premium Genre, wie die Textilwirtschaft sie nennt, haben keine Chance mehr. Mey und Edlich (die mal in Paris und London vertreten waren) hatten das als erste erfahren. Die hatten mal einen netten Laden in der Sögestraße in Bremen. Da ist nur noch Stiesing übrig geblieben, aber die haben ihr Angebot weit heruntergefahren, dem Masculin Modekreis gehören sie auch nicht mehr an. Vielleicht ist es mal wieder an der Zeit Si bene calculum ponas, ubique naufragium est zu zitieren. Nicht nur wegen des Modegeschäfts, auch wegen der Politik.

Sonntag, 1. Dezember 2024

Keith R. Kernspecht ✝


Die Dänische Straße war zur Fußgängerzone geworden, die Straßenbahn, die einmal hier fuhr, gibt es schon lange nicht mehr. Keith, der in der Straße ein Büro hatte (auf dem Schild steht nur ichfahrealsobinich und autosapiens), parkte seine Corniche immer frech vor dem Herrenausstatter Kelly's, obgleich er eigentlich gar nicht in die Straße hinein fahren durfte. Aber so ein Rolls vorm Laden sieht immer gut aus und passt ins Ambiente der englischen Herrenkleidung. Wahrscheinlich bezahlte ihm Michael Rieckhof die Tickets und setzte sie als Werbungskosten ab.

Das flaschengrüne Bentley Coupé sah aus wie neu, dabei war es über dreißig Jahre alt. Die Rückleuchten verraten das, da steht noch Lucas drauf. Die Lucas Elektrik reißen Besitzer von englischen Sportwagen normalerweise immer als erstes heraus und ersetzen es durch Teile von Bosch. Aber das kann man einem Rolls nicht antun. Hinten am Heck steht ein schlichtes, silbernes CornicheDu hast doch schon eine Corniche, sage ich zu Keith. Ich habe schon zwei, ist die Antwort. Da muss mir etwas entgangen sein. Die Corniche, die er im letzten Jahr gekauft hat, war ein Cabrio. In einer Farbe, die nur Engländer hinkriegen, fliederfarben oder ein ganz helles Lila, pervers. Und dann war da dieser wunderbare handgemalte hellgrüne Zierstreifen an der Seite. Die haben bei Rolls Royce einen Coachline Painter, der nur für diese handgemalten Striche zuständig ist.

Dieser Bentley mit der Karosserie von Mulliner Park Ward ist schon wieder einer von seinen Exoten. Der Bentley war ursprünglich ein 1977er Rolls-Royce. Das würden Bremer schon wieder gut finden. Einen Rolls Royce gab es in den fünfziger Jahren in meiner Heimatstadt nicht. Nur der Werftbesitzer Ernst Burmester, der mit der Ashanti VI die größte deutsche Hochseeyacht besaß, hatte einen dunklen Bentley. Ein Rolls wäre ihm zu prollig gewesen. So etwas kann man in Hamburg fahren, sagte er, in Bremen nicht. Wahrscheinlich hat Keith deshalb auch seinen Rolls (British Racing Green) in einen Bentley umbauen lassen. Nicht nur den Kühler ausgewechselt, nein, bis in die kleinsten Einzelteile innen im Wagen.

Keith sammelte Autos. Er war keiner von diesen neureichen Sammlern, Rechtsanwälten, Ärzten oder Architekten, die sich einen Jugendtraum wahrmachen wollten und sich einen alten englischen Sportwagen kauften. Um dann nach vier Wochen später herauszufinden, dass die englische starre Hinterachse überhaupt nicht gut für die Bandscheiben ist. Nein, Keith sammelte schon seit Jahrzehnten. In den sechziger Jahren kam er mit Adenauers ausgemustertem alten schwarzen Mercedes 300 zur Uni. Hatte einen 180er Dieselmotor einbauen lassen. Wäre sonst zu teuer gewesen. Er fiel mit dem Auto auf. Es gab wenig Studenten, die mit dem Auto zur Uni kamen. Die Straßenbahn, die auch durch die Dänische Straße fuhr, fuhr direkt bis zur Uni. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich mit ihm zusammen gerade noch eben fahrbereite Autos in Schuppen und Scheunen in Ostholstein bugsiert habe. Die Schuppen mietete er billig von Bauern an; dann kam da massenhaft Heu und Stroh drüber, damit niemand auf den ersten Blick sehen konnte, was hinter dem Scheunentor war. Das, und der schwarze Mercedes 300, waren der Beginn seiner Sammelleidenschaft.

Es waren die kleinen Exoten, die ihm am meisten Spaß bereiteten. Wie der alte Opel Kapitän (das Modell Schlüsselloch), den sein Vater 1959 gefahren hatte. Mit Weißwandreifen. Oder der ✺Opel Kadett B, das Sondermodell Rallye. Den großen Borgward P 100, den er in Berlin in einer Tiefgarage fand, den sollte ich nicht vergessen. Hatte da ein halbes Jahrhundert gestanden, es war noch Luft in den Reifen. Von Zeit zu Zeit trennte er sich von einigen Modellen. 

Dass er den Dino GTS Targa verkaufte, fand ich nicht so schlimm. Dass er den Cadillac Eldorado verkaufte, fand ich gut. Das war kein Auto für ihn gewesen. Dass er den schönen dunkelblauen Aston Martin, mit dem Sean Connery mal eine Probefahrt gemacht hatte, bei Sotheby's zur Auktion gab, das fand ich ein wenig traurig. Aber er nahm den Wagen dann doch aus der Auktion wieder heraus und behielt ihn. Ein Kultauto sollte man immer behalten. Vor allem, wenn man wie er in jedem James Bond Film das Double von Sean Connery hätte spielen können.

Er besaß allerdings keinen Bristol und keinen Alvis, damit zog ich ihn von Zeit zu Zeit auf. Den Jaguar, den der dänische König fuhr, hätte er ohne zu zögern gekauft. Würde wahrscheinlich einen seiner drei Daimler Double Six (von denen kann man nicht genug haben) dafür in Zahlung geben. Einmal treffe ich Keith im Laden meines Uhrmachers, ich hatte ihm den Kauf einer seltenen Fliegeruhr vermittelt, mit einem Chronographenwerk der Geneva Sport Watch Company. Signiert Wempe (obgleich die nicht mal wussten, dass sie so etwas mal gebaut hatten). Aber die lässt er jetzt im Laden liegen und schleppt mich im Gewitterregen die Holtenauer entlang bis zu seinem neuen Ferrari. Wasserglänzend in einem eleganten Grau, auf dem sich das gelbe Ferrari Wapperl mit dem schwarzen Pferd abhebt. Ingridgrau, sage ich. Er guckt mich etwas irritiert an. Ich erkläre ihm, dass Roberto Rossellini für Ingrid Bergman einen Ferrari gekauft hatte, der unbedingt grau sein sollte. Die Farbe hatte es bei Ferrari vorher noch nie gegeben, und so haben sie sie Ingridgrau getauft. Ist als Nuova Grigio Ingrid immer noch im Angebot. Ferraribesitzer können von Filmfreaks immer noch etwas lernen.


Ich habe von ihm auch etwas gelernt. Nicht die Martial Arts, in denen der Gründer der EWTO ein hoch dekorierter Großmeister war. Aber er schenkte mir immer seine Bücher, immer mit persönlicher Widmung. In einer Widmung hat er mich als seinen Sifu bezeichnet, ein Sifu ist in dieser Welt ein Lehrer, ein väterlicher Freund. Das hat mich sehr berührt. Seine Bücher kann man auch lesen, wenn man mit Bruce Lee, Jackie Chan und asiatischer Philosophie überhaupt nichts am Hut hat. Ich las mich hinein in eine fremde Welt, die in seinen Pyjama Editorials aus ostasiatischer Philosophie, der Philosophie der alten Griechen und dem Common Sense der schottischen Aufklärung bestand. Und lernte, dass dieses Wing Tsun eigentlich keine Kampfsportart ist, sondern eine Philosophie zur Vermeidung des Kampfes. Keith hat viel dafür getan, diesem Kampfport einen akademischen Unterbau zu verleihen. Dafür hat er einen Doktortitel und einen Professorentitel von bulgarischen Sportuniversitäten erhalten. Nicht weil er den zehnten Meistergrad des Wing Tsun besaß, sondern weil er wirklich eine Dissertation und eine Habilitationsschrift verfasst hatte.

Keith war auf der Kieler Gelehrtenschule gewesen, er hatte ein großes Latinum und lernte im Alter noch Altgriechisch. Wenn Keith ein klein wenig von dem bürgerlichen Weg abkam, dann hatte das etwas mit Karl Koch zu tun. Einem Hünen, der sein Kneipenpublikum mit Versen aus der Ilias und Shakespeares Dramen unterhielt und besseres Englisch sprach als die Englischlehrer der Gelehrtenschule. Die Gymnasiasten dieser Kieler Lateinschule zählten zu seinem Fanclub. In der Kneipe verbringt der junge Keith viel Zeit, und er wird Jahrzehnte später diesem Mann mit dem Buch Karl von der Küste: Erinnerungen an den Kieler Kiez (1960-1976) mit Hauern, Huren, Hafenloddels ein Denkmal setzen. Die farbenprächtige Milieustudie ist nicht Rousseaus Les Confessions, das Buch erhebt keinen Anspruch auf literarische Qualitäten, es ist kraus und quer erzählt. Aber es bringt einem das Kiel der Nachkriegszeit zurück, wo sich nicht nur Lateinschüler, sondern auch Universitätsprofessoren auf dem Kiez einfanden.

Mein Freund Keith Ronald Kernspecht ist vor einigen Tagen im Alter von neunundsiebzig Jahren gestorben. Er war von Anfang an in meinem Blog, da ich immer wieder mal über eins seiner Autos oder eine seiner Uhren (aber nie über seine Sammlung von 50er Jahre Mickey Mouse Uhren) schreiben musste. In dem Post Traumwagen war er vor zehn Jahren mit diesem schönen Capalbio Maremma Jackett zu sehen. Zum letzten Mal war er vor drei Monaten in diesem Blog. Da stand hier in dem Post Autogeschichten ein kleines Stückchen aus meiner nie veröffentlichten Autobiographie Bremensien. Das hatte er mit Vergnügen gelesen, und er konnte sich noch genau an diesen Sommertag erinnern. Weil das auch der erste Tag war, an dem er mit seinem neuen Jaguar E Type unterwegs war. Ich stelle das heute noch einmal ein:

Ich hatte ihn längere Zeit nicht gesehen, er war nicht mehr hier oben im Norden, er war unten bei Heidelberg gewesen, wo er im Schloss Langenzell ein Wing Tsun Schulungszentrum aufgebaut hatte. Aber an diesem schönen Sommertag saßen wir wieder einmal in der Mitte der Dänischen Strasse zusammen. Ich sagte ihm, dass das eine schöne alte Bubble Back Rolex sei, die er da am Arm hätte. Er sagte mir, dass meine IWC auch toll sei. Neben ihm stand eine Neuerwerbung, ein silbergrauer 3,8 Liter Jaguar E Type. Wenn er die Hand ausstreckte, hätte er ihn streicheln können, so eine Bewegung wie ein Italiener einer Frau mit der Hand über den Po fährt. Keith hatte auch eine Wohnung in Italien, wo er er auch Lehrgänge gab, vielleicht hatte er diese Handbewegung da gesehen. Man darf überhaupt nicht mit einem Auto in die Dänische Straße fahren, und man darf es auch nicht in der Mitte der Straße abstellen, damit man es von einem Stuhl des Lokals Lüneburg aus tätscheln kann. Aber um solche Dinge kümmert sich Keith nicht. Wir redeten über alte Zeiten, schliesslich hatte Keith ja auch mal Englisch studiert und war mal Lehrbeauftragter für Wirtschaftsenglisch am Englischen Seminar gewesen. Und hatte in der 68er Tagen seinem Professor auf dessen Bitten hin die Grundkünste der Selbstverteidigung beigebracht, ich sehe die beiden KungFu Helden immer noch auf dem grünen Rasen kämpfen. Wir waren bei unserem Treffen nostalgiemäßig mitten in den alten Tagen, und ich bei der zweiten Tasse Tee, da wurden wir von einer eleganten Dame angesprochen, die zuvor an einem Nachbartisch gesessen hatte. Sie sagte, dass sie nicht hätte umhin können, unserer Unterhaltung ein wenig zuzuhören. Und ob das Englische Seminar, von dem wir geredet hätten, das Englische Seminar der Universität hier in Kiel sei? Und ob es da einen Professor namens Bö. gäbe? Nachdem ich das bejaht hatte und gleichzeitig rekapitulierte, ob ich in der letzten halben Stunde irgendwelche abfälligen Bemerkungen über Bö. gemacht hatte, hörte ich von ihr Erstaunliches. Sie hatte bei Bö. studiert, bevor er nach Kiel kam, er hatte ihr angeboten, bei ihm Assistentin zu werden. Aber sie hatte das abgelehnt, weil sie ihn für den langweiligsten und dümmsten Menschen unter allen ihr bekannten Anglistikprofessoren hielt. Und sie hätte das nie bereut. Und dann sagte sie zu Keith Schönes Auto und zu mir Das ist wirklich eine tolle IWC, die Sie am Arm haben. Setzte ihren Sommerhut auf und entschwebte zur Fähre nach Norwegen. Stilvoller Abgang. Keith guckte ihr verwundert nach und wollte wissen, wer Bö. sei. Lass uns nicht über den reden, der ist genau so doof, wie die Frau das eben gesagt hat. Lass uns über Autos reden.  

Wenn Sie Keith mit seinem Jaguar E Type durch Kiel fahren sehen wollen, dann klicken Sie hier