Freitag, 18. Juli 2025

Relinquunt Omnia Servare Rem Publicam

Am 18. Juli 1863 greifen die Truppen der Nordstaaten das Fort Wagner an, das ist die zweite Schlacht um das Fort im Hafen von Charleston. Sie wird bis zum 7. September dauern, da hatte die Armee der Südstaaten das Fort geräumt. Bei dem ersten Angriff am Abend des 18. Juli stirbt der Colonel Robert Gould Shaw, der das 54th Massachusetts Infantry Regiment kommandiert. Es sterben im amerikanischen Bürgerkrieg eine Vielzahl von Colonels, aber der Tod von Shaw hat eine besondere Bedeutung. Denn sein Regiment ist eins der ersten im Bürgerkrieg, das nur aus schwarzen Soldaten besteht. 

Es stirbt an diesem Tag nicht nur der Colonel Shaw, es sterben auch viele seiner Soldaten: Two months after marching through Boston, half the regiment was dead, heißt es in Robert Lowells Gedicht For the Union Dead. War es Heldentum? Oder schlichte Unvernunft, ein Regiment von völlig unerfahrenen Soldaten, die kaum eine militärische Grundausbildung erfahren hatten, in diesen Angriff zu führen? War dies ein Vabanquespiel? Die Hoffnung, der Angriff könne gelingen und das Regiment könne berühmt werden? Dies Photo zeigt den Sergeanten William H Carney, der schwer verwundet die Regimentsfahne nach dem Angriff rettet, The old flag never touched the ground, boys. Er wird als einer der ersten farbigen Soldaten die Medal of Honor bekommen.

Robert Gould Shaw kam aus einer sehr reichen Bostoner Familie, die sich für die Abschaffung der Sklaverei engagierte. Seine Familie war mit Harriet Beecher Stowe befreundet, und der junge Robert Gould Shaw hatte Uncle Tom's Cabin mit Begeisterung gelesen. Seine Eltern hatten ihn auf teure Privatschulen in Amerika, der Schweiz und Deutschland geschickt, er war nirgendwo glücklich. Er bestand die Aufnahmeprüfung von Harvard, aber er verließ die Universität ohne Examen. Er geht im April 1861 zur Armee und wird im Mai zum Leutnant befördert. In den nächsten anderthalb Jahren wird er mit seinem Regiment, der 2nd Massachusetts Infantry, in den Schlachten von Winchester, Cedar Mountain und Antietam sein. Er wird zweimal verwundet und wird am Ende des Jahre 1862 zum Captain befördert. 

Der Gouverneur von Massachusetts John Albion Andrew war seit der Emancipation Proclamation dafür eingetreten, dass schwarze Regimenter (mit weißen Offizieren) aufgestellt werden sollten. Und er bot dem Sohn von Francis George Shaw die Stelle als Colonel des 54th Massachusetts Infantry Regiment an. Der fünfundzwanzigjährige Captain zögerte, er glaubte nicht, dass das neue Regiment an der Front eingesetzt würde. Er hatte keine Lust zum Etappendienst. Aber dann nahm er doch an, wurde zuerst zum Major befördert und erhielt dann den Rang eines Colonel, als er das neue Regiment übernahm. Wenn er am 18. Juli 1863 stirbt, wird er in einem Massengrab landen. Shaw’s father wanted no monument / except the ditch, / where his son’s body was thrown / and lost with his 'niggers', heißt es in Lowells Gedicht.

Aber er wird ein Monument erhalten. 1897 hat er in Boston ein Denkmal bekommen, gestaltet von dem Bildhauer Augustus Saint-Gaudens. Es ist eins der ganz wenigen Denkmäler des Bürgerkriegs, auf dem afroamerikanische Soldaten zu sehen sind. Der Spruch auf dem Denkmal Relinquunt Omnia Servare Rem Publicam (der auch der Untertitel von Lowells Gedicht ist) gilt ebenso für sie. Auch wenn sie nie den versprochenen Sold der weißen Soldaten bekommen haben. Auf der Rückseite des Denkmals kann man lesen: The White Officers taking life and honor in their hands cast in their lot with men of a despised race unproven in war and risked death as inciters of servile insurrection if taken prisoners besides encountering all the common perils of camp march and battle. The Black rank and file volunteered when disaster clouded the Union Cause. Served without pay for eighteen months till given that of white troops. Faced threatened enslavement if captured. Were brave in action. Patient under heavy and dangerous labors. And cheerful amid hardships and privations. Together they gave to the Nation and the World undying proof that Americans of African descent possess the pride, courage and devotion of the patriot soldier. One hundred and eighty thousand such Americans enlisted under the Union Flag in MDCCCLXIII-MDCCCLXV.

Booker T. Washington sagte 1897 in seiner Eröffnungsrede: If through me, a humble representative, nearly 10,000,000 of my people might be permitted to send a message to Massachusetts, to the survivors of the Fifty-fourth Regiment, to the committee whose untiring energy has made this memorial possible, to the family who gave their only boy that we might have life more abundantly, that message would be, tell them that the sacrifice was not in vain. Ein anderer Festredner am 31. Mai 1897 war der Philosoph William James (der Bruder von Henry James), der hier seinen einzigen öffentlichen Auftritt hatte. Er war gekommen, weil sein Bruder Garth Wilkinson (Wilkie) James einer der Offiziere des Regiments gewesen war. Der Captain James war bei dem Angriff auf Fort Wagner schwer verletzt worden und war 1883 im Alter von achtunddreißig Jahren gestorben. 

William James sagte in seiner Rede: How soon, indeed, are human things forgotten! As we meet here this morning, the Southern sun is shining on their place of burial, and the waves sparkling and the sea-gulls circling around Fort Wagner’s ancient site. But the great earthworks and their thundering cannon, the commanders and their followers, the wild assault and repulse that for a brief space made night hideous on that far-off evening, have all sunk into the blue gulf of the past, and for the majority of this generation are hardly more than an abstract name, a picture, a tale that is told. Only when some yellow-bleached photograph of a soldier of the ‘sixties comes into our hands…do we realize the concreteness of that by-gone history ... The photographs themselves erelong will fade utterly, and books of history and monuments like this alone will tell the tale.

Das Denkmal ist in das Gedicht For the Union Dead von Robert Lowell gewandert, zu dem ich in dem Post Denkmäler eine deutsche Übersetzung habe. 1980 hat man dem Denkmal auch die Namen der toten Soldaten des 54th Massachusetts Infantry Regiment hinzugefügt. Auf den Gedanken war man 1897 nicht gekommen, obgleich man die Namen kannte und sogar Photographien der Soldaten hatte. Die hätte Augustus Saint-Gaudens benutzen können, aber er tat es nicht. 1989 kam der Film Glory in die Kinos, das Drehbuch stammte von einem Mann, der vorher das Drehbuch von Rambo geschrieben hat. Es ist kein guter Film, es wäre mir lieber, man würde den jungen Colonel mit dem Denkmal von Saint-Gaudens und dem Gedicht von Lowell verbinden und nicht mit diesem Machwerk.

Vor wenigen Jahren ist das Denkmal aufwendig restauriert und in einer National Rededication Ceremony am 1. Juni 2022 neu eingeweiht worden. Der Yale Professor David W. Blight sagte damals: We have a republic today in trouble. We have a democracy in great peril. What are we giving up for the republic? We’ve all lived through recent years and the removal of a number of Confederate monuments. This monument has always been here, for 125 years, saying ‘The Confederacy did not win this war.’ Walk up here. Stand near it. Get inside these faces that Saint-Gaudens captured … Go stand right up there with them. And then back away a little bit and feel the movement of this monument. Feel the movement of the men’s legs. Hear their feet in the pavement as they march. Hear the clanging of some of those rifles behind them as they move forward, forward toward their deaths. This monument tells a story like no other monument about that war. It says African Americans had to die to be counted as people and from that, maybe, just maybe the American Republic could be reinvented, reimagined, and maybe still preserved.

Vielleicht soll man den letzten Satz fett setzen und mit einem Ausrufezeichen versehen. Wenn man bei Google 54th Massachusetts Infantry Regiment und Donald Trump eingibt, kann man kaum auf Ergebnisse hoffen. Der Präsident Trump, der nach eigener Aussage bedeutender als Abraham Lincoln ist, wird nicht wissen, wer der Colonel Robert Gould Shaw war. Ein Ergebnis fand ich allerdings doch. Und das waren Sätze aus der Rede von William James vom 31. Mai 1897: The deadliest enemies of nations are not their foreign foes, they always dwell within their borders. And from these internal enemies civilization is always in need of being saved. The nation blest above all nations is she in whom the civic genius of the people does the saving day by day, by acts without external picturesqueness; by speaking, writing, voting reasonably; by smiting corruption swiftly; by good temper between parties; by the people knowing true men when they see them, and preferring them as leaders to rabid partisans or empty quacks. Derjenige, der das ins Netz gestellt hatte, bezog diese Sätze auf Donald Trump. Das passt schon.

Montag, 14. Juli 2025

Bastille Day

Heute ist der französische →Nationalfeiertag, da wird wieder überall Allons enfants de la Patrie, le jour de gloire est arrivé! gesungen. Und es gibt eine Militärparade auf den Champs-Élysées, so etwas können die Franzosen gut. Donald Trump war am 14. Juli 2017 von der ✺Parade begeistert: It was two hours on the button, and it was military might. We're going to have to try to top it. Das hat er in diesem Jahr an seinem Geburtstag versucht, das Ergebnis war etwas kläglich. Nicht zu vergleichen mit dem, was die Franzosen auf den Champs-Élysées und am Himmel von Paris hinkriegen.

Wir sprechen vom 14. Juli, wenn wir den französischen Nationalfeiertag meinen. Donald Trump und die englischsprachige Welt redet vom Bastille Day. Es gab auch mal einen Film, der Bastille Day hieß. An diesen Action Thriller erinnere ich mich nur, weil da am Anfang die schnuckelige Stéphane Caillard nackt durch Paris läuft. 

Ich war mit sechzehn zum ersten Mal in Frankreich, eine Woche Paris war in dem Abenteuer drin. Ich konnte kaum Französisch, weil ich in der Lateinklasse war. Als mir meine Freundin Renate schrieb Je t'aime beaucoup, musste ich mich erkundigen, was beaucoup heißt. In den 1950er Jahren hatte die Hansestadt Bremen mit der sogenannten Typisierung beschlossen, dass die Bremer Gymnasien als zweite Fremdsprache entweder Latein oder Französisch anboten, nicht beide Fächer. Das hatte etwas mit dem Lehrermangel nach dem Krieg zu tun. Die einzige Ausnahme war mein Gymnasium in Vegesack, das beide Fächer anbot, weil wir soweit weg von Bremen waren. 

Ich hatte Latein genommen, meine Eltern hatten mir die Wahl überlassen. Meine Mutter, die gut Französisch sprach, sagte mir: Nimm Latein, dann fällt Dir Französisch später leicht. Ich glaube immer noch, dass da etwas dran ist. Ich profitierte dann von einer Oberstufenreform, die eine Vorstufe der Saarbrücker Rahmenvereinbarung war. Ich konnte zwischen Französisch, Spanisch oder Russisch wählen. Ich nahm Französisch. Das bedeutete drei Jahre Französisch in einer ganz kleinen Gruppe bei dem Studienrat Bruno Ewald. Als ich 1964 wieder in Frankreich war, diesmal als Soldat, konnte ich mich schon gut mit der französischen Bevölkerung verständigen. Was auch daran lag, dass ich mittlerweile ein Exi geworden war, Camus und Sartre las und alle Chansons kannte, die Juliette Gréco sang.

Der französische Nationalfeiertag und die Marseillaise sind in diesem Blog immer wieder erwähnt worden. Die Marseillaise, die seit 1879 offiziell die französische Nationalhymne ist, erklingt nicht nur am 14. Juli, sie wird auch immer gespielt, wenn der französische Präsident einen Staatsbesuch macht. Bei uns in Deutschland dirigiert jetzt Lisa-Marie Holzschuh das Stabsmusikkorps, das ist eine charmante Neuerung. Ich stelle heute noch einmal etwas ein, das ich vor Jahren mit Liebe geschrieben habe, das aber leider nicht so viele Leser fand:

Dass ich schon einmal an einem 14. Juli in Paris gewesen bin, habe ich vor Jahren in dem Post Straßenphotographie erwähnt. Der französische Nationalfeiertag ist schon häufig in meinem Blog erwähnt worden. Alles andere Französische auch, der Post Abendlied war lange ein Bestseller; und auch der Post über den französischen Existentialismus (von dem es auch eine englische Version gibt) schlug sich zahlenmäßig nicht schlecht. Der Post über Alain Robbe-Grillet ist vor Jahren auf eine französische Kulturseite gewandert. Der Post Fremdenlegion wurde auf einer Seite der Legionäre zur Lektüre empfohlen, was auch viele Leser brachte. Ich habe sowieso sehr viele Leser in Frankreich, in der Leserstatistik der letzten zehn Jahre sind die Franzosen nach Deutschland und den USA auf Platz drei. Es gibt ja auch viel von la douce France in diesem Blog, nicht nur die vielen Posts über französische Filme.

La douce France ist der Titel eines Chansons von ✺Charles Trenet (den kennen Sie schon aus dem Post Que reste-t-il de nos amours) aus dem Jahre 1941, in dem der Sänger den Franzosen etwas wiedergibt, was sie unter der deutschen Besatzung zu verlieren glaubten: ihre nationale Identität. Die Identität eines ländlichen Frankreichs der Vergangenheit (cher pays de mon enfance), wo das Leben noch schön ist:

Douce France
Cher pays de mon enfance
Bercée de tendre insouciance
Je t'ai gardée dans mon cœur
Oui je t'aime
Et je te donne ce poème
Oui je t'aime
Dans la joie ou la douleur


Aber dieses la douce France ist älter, viel älter. Es taucht zuerst im Jahre 1080 im Chanson de Roland, dem Rolandslied auf. Wenn Roland im Sterben liegt, blickt er auf Spanien und auf seine Eroberungen zurück:

Le comte Roland s'étendit dessous un pin.
Vers l'Espagne, il a tourné son visage.
Bien des choses lui reviennent en mémoire,
Tant de terres que le baron conquit,
La douce France, les hommes de son lignage,
Charlemagne, son seigneur qui l'éleva.
Il ne peut s'empêcher de pleurer et de soupirer
.

Charles Trenet nimmt dieses Erinnern (Bien des choses lui reviennent en mémoire) beinahe wörtlich wieder auf, wenn er singt Il revient à ma mémoire des souvenirs familiers. Erinnerung an la douce France bei Roland, dem Paladin von Karl dem Großen, Erinnerung an ein douce France vor der deutschen Besatzung bei Charles Trenet. Das mit dem douce France im Rolandslied weiß ich schon lange, nicht weil ich aus Bremen komme und die Stadt einen Roland hat. Sondern weil ich mich einmal zusammen mit meinem Freund Peter in den Semesterferien durch das altfranzösische Rolandslied gequält habe. Das habe ich schon in dem Post Charlemagne gesagt. Wenn Sie beinahe alles über Roland und Karl den Großen wissen wollen, dann lesen Sie diesen Post.

Die Marseillaise, die am heutigen Tag überall in Frankreich gesungen wird, hat nichts von dem la douce France. Es ist ein Kriegslied, dem Claude Joseph Rouget de Lisle den Titel Chant de guerre pour l’armée du Rhin gegeben hatte. Es war dem Marschall Nikolaus von Luckner gewidmet, dem Oberbefehlshaber der Rheinarmee (unser Seeteufel Graf Luckner, der Telephonbücher zerreißen konnte, ist sein Urenkel gewesen). Es ist ein blutrünstiger Text, der eigentlich nicht mehr in unsere Zeit passt.

Als Nicolas Sarkozy (dessen Frau Carla Bruni Trenets ✺La douce France auf italienisch gesungen hat) im Jahre 2005 anordnen wollte, dass jedes Schulkind in Frankreich die Nationalhymne auswendig lernen sollte, fragte sich der Sänger Graeme Allwright, ob kleine Kinder in der Schule wirklich diesen Text lernen sollten: Je me suis toujours demandé comment les Français peuvent continuer à chanter, comme chant national, un chant de guerre avec des paroles belliqueuses, sanguinaires et racistes. Und er fügte hinzu: Le jour où les politiques décideront de changer les paroles de La Marseillaise, ce sera un grand jour pour la France. Aber dieser jour de gloire ist nicht gekommen, Sarkozy interessierte das alles nicht. Und so schrieb Allwright eine neue, pazifistische ✺Marseillaise:

Pour tous les enfants de la terre
Chantons amour et liberté.
Contre toutes les haines et les guerres
L’étendard d’espoir est levé
L’étendard de justice et de paix.
Rassemblons nos forces, notre courage
Pour vaincre la misère et la peur
Que règnent au fond de nos cœurs
L’amitié la joie et le partage.
La flamme qui nous éclaire,
Traverse les frontières
Partons, partons, amis, solidaires
Marchons vers la lumière.


Es wäre schön, wenn sich dieser Text einmal durchsetzen würde. Eine alternative Marseillaise hat sich ein französischer Präsident allerdings schon einmal anhören müssen. Nicht am 14. Juli, sondern am 10. Mai 2019 im Jardin du Luxembourg bei einer Feierstunde zur Abschaffung der Sklaverei in Frankreich. Da sang die in Nigeria geborene ✺Omo Bello die 1867 von Camille Naudin in New Orleans geschriebene Marseillaise Noire vor Präsident Macron.

Bei YouTube finden sich hunderte von Aufnahmen der Nationalhymne. ✺Mireille Mathieu ist dabei (aber ✺Edith Piaf ist viel besser); und auch ✺Charles De Gaulle, der die Hymne 1945 bei seiner Heimkehr nach Frankreich eigentlich sehr gut singt. Wir haben Aufnahmen von Opernsängern, ✺Kindern, Militärkapellen (auch dem ✺Chor der Roten Armee) und Nationalmannschaften. Die Beatles tauchen mit ✺All you need is love auch manchmal auf. Und immer wieder dazwischen der Filmausschnitt aus ✺Casablanca. Ich habe mich durch ein halbes Hundert von Aufnahmen durchgearbeitet (und dabei meinen neuen kleinen Bluetooth Lautsprecher gestestet), auf der Suche nach der Antwort auf die Frage: Wie soll die Marseillaise gesungen werden? Opernsänger und ✺Opernsängerinnen fallen aus, zuviel Theatralik, zuviel Pathos. Obgleich man ✺Fjodor Schaljapin, der lange in Frankreich lebte, immer anhören kann. ✺Marthe Chenals erstaunliche Aufnahme aus dem Jahre 1915 auch. Serge Gainsbourg mit seiner als skandalös empfundenen ✺Reggae Version und sein Auftritt in ✺Straßbourg sollten auch erwähnt werden.

Ich habe nach langem Suchen eine Version gefunden, die ich sehr schön finde. Ich weiß nicht, wer da die Hymne singt, aber so sollte das Lied gesungen werden, einfach und schlicht und ohne Pathos. Diese Nationalhymne findet sich bei YouTube in einem kleinen, sehr ironischen Video, das ✺Le jour de gloire est arrivé! heißt und seit 2012 im Netz ist. Wir sehen Szenen aus einem alten Spielfilm, wo eine vornehme Dame mit einer Louis Vuitton Tasche mit unsicherem Schritt ein schlossartiges Haus verlässt. Sie beachtet die im Hof liegenden Toten nicht; als sie in der Einfahrt des Hofes stehenbleibt, ihren Mantel lüftet und zu einer Art Striptease ansetzt, erklingt die Nationalhymne. A cappella, nicht strahlend von einem Heldentenor gesungen, sondern eher von einem Chansonnier mit Trauer in der Stimme. Und dazwischen immer wieder Szenen von émeutes und Polizeigewalt, die uns beweisen, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist. Und dass offenbar manche das aux armes, citoyens falsch verstanden haben. Diese Szenen sind zeitlos, Straßenschlachten und Polizeigewalt gibt es in Frankreich immer wieder. Das hört nie auf. Außer bei Corona, da war Ruhe.


Lesen Sie auch: Le jour de gloire est arrivé, 14. Juli, Aufstand, sansculotte, Gesten, Piloten, le jour de gloire, La douce France, Vaterlandsverräter?. Play it again, Sam, Menschenrechte, StrassenphotographieHenri Langlois, Kinderhymne, Ankläger, Doktor Pinel

Sonntag, 13. Juli 2025

La nuit avant le jour


Die neue Pariser Opéra Bastille wurde am 13. Juli 1989 als Auftakt der Feierlichkeiten zum zweihundertsten Jahrestag des Sturms auf die Bastille eröffnet. Es gab nur eine Vorstellung, nur für diese eine Nacht, wirklich eröffnet wird die Oper erst im März 1990. Zu sehen war 1989 eine von Robert Wilson inszenierte zweistündige Operngala mit dem Titel La nuit avant le jour (Die Nacht vor dem Tag) mit Starbesetzung. Teresa Berganza, Barbara Hendricks, Shirley Verrett, Placido Domingo, Alfredo Kraus und viele andere waren in der Nacht vor dem 14. Juli zu hören. Und am Schluss sangen alle die französische Nationalhymne. Ich habe La nuit avant le jour hier für Sie. Und morgen gibt es hier mehr zum 14. Juli.

Freitag, 11. Juli 2025

der Mann in der Bildecke


Da reitet der englische König William auf einem weißen Pferd in der Battle of the Boyne dem Sieg über die katholischen Iren entgegen, die zu dem ehemaligen König James II halten. Rechts unten in der Bildecke stirbt gerade sein Marschall Frederick Duke of Schomberg, General of all His Majesty’s forces. Das war heute vor 335 Jahren. Nach der Schlacht sitzt Wilhelm von Oranien sicher auf dem englischen Thron. Der Sohn von Charles II, der in der Glorious Revolution seinen Thron verloren hatte, flieht nach Frankreich. Das Bild hat der amerikanische Quäker Benjamin West 1778 gemalt, der der Hofmaler von George III war. Das Bild erhebt wahrscheinlich keinen Anspruch auf historische Wirklichkeit.

Bleiben wir einen Augenblick bei dem sterbenden General in der rechten Bildecke. William III, der ihn zum Duke of Schomberg ernannt hatte, war der dritte Monarch, dem er diente. Geboren wurde er als Graf Friedrich von Schönberg 1615 in Heidelberg. Seine Eltern waren früh gestorben, seine englische Großmutter nimmt sich seiner an. Als calvinistischer Adliger studierte er an der Akademie Sedan und der Universität Leiden, sein Großvater Lord Dudley hatte ihm das ermöglicht. Mit achtzehn Jahren trat der junge Graf in das Heer des Prinzen Friedrich Heinrich von Oranien ein. Dann geht er im Dreißigjährigen Krieg zu den Schweden und dient unter Josias Rantzau. 1635 geht er als Comte de Schomberg nach Frankreich. Der Name Schomberg bedeutet in Frankreich etwas, denn zwei aus der Familie, Henri de Schomberg und Charles de Schomberg, waren da Marschälle von Frankreich. Den Titel eines Marschalls wird Friedrich 1675 von Louis XIV auch bekommen. Aber zehn Jahre später hebt Louis das Edikt von Nantes auf, die Hugenotten müssen das Land verlassen. Dank des Edikts von Potsdam gehen viele nach Brandenburg, der Marschall von Frankreich wie auch die Vorfahren von Theodor Fontane.

Der brandenburgische Kurfürst übertrug dem Comte de Schomberg sofort das Generalat über alle Unsere armée und trouppen in allen Unseren Ländern und Provincien, da diente er wieder einem anderen Herrscher. Er kaufte sich in Berlin ein Palais, das schnell zum Zufluchtsort der emigrierten Hugenotten wurde. Aber als seine Frau starb, hielt ihn nichts mehr in Berlin, er trat wieder in die Dienste des Hauses Oranien. Und folgt Wilhelm nach England. Und folgt dann dem neuen König nach Irland. Für das irische Abenteuer hatte er William die 100.000 Pfund geliehen, die er vom Parlament erhalten hatte. Zu vier Prozent Zinsen. Er wird das Geld nicht wiedersehen. Seinem Sohn wird man aber die Zinsen noch auszahlen.

Die Schlacht am Boyne River hat er nicht gewollt, es sei der falsche Ort und der falsche Zeitpunkt, sagt er dem König. Doch der hört nicht auf den 75-jährigen General, der mehr Ahnung vom Krieg hat als er. Wenn Schomberg den Befehl zum Angriff bekommt, sagt er etwas gehässig, er sei es gewohnt zu befehlen und sei nicht gewohnt, Befehle entgegenzunehmen. Aber er reitet durch den Fluss, begleitet von drei Regimentern, die ihre Gewehre über dem Kopf halten müssen. Der Boyne River ist kein flacher Bach. Allons, messieurs, voila vos persecuteurs, ruft er seinen Truppen zu, dann ist er tot. Auf der Vergrößerung der rechten Bildecke des Gemäldes von Benjamin West können wir sehen, wie er aus dem Fluss gehoben wird. Benjamin West hat ihm einen großen Hosenbandorden auf den Mantel gemalt. Ob er den wirklich getragen hat, weiß ich nicht. Der Maler Gilbert Stuart hat behauptet, dass er für Benjamin West bei dem Bild Modell gesessen habe, sowohl für Schomberg als auch für William. Das kann durchaus sein, denn damals war er noch nicht berühmt, er noch Schüler von West.

Schomberg war kein Glücksritter, kein condottiere des 17. Jahrhunderts, er kämpfte für seinen Glauben, darin war er unbeirrt. So berühmt der Feldherr gewesen war, so schnell wurde er vergessen. Er ist in der Saint Patrick's Kathedrale in Dublin begraben, aber es hat bis zum Jahre 1731 gedauert, bis diese Marmorplatte an ihn erinnerte. Jonathan Swift hatte viele Jahre versucht, Schombergs Enkelin, die Countess of Holderness, dazu zu bewegen, Geld für ein repräsentatives Grab zu spenden. Sie beantwortete die Briefe nicht. Und deshalb steht jetzt auf der Grabplatte: Hic infra situm est corpus Frederici Ducis de Schonberg, ad Bubindam occisi, A.D. 1690. Decanus et Capitulum maximopere etiam atque etiam petierunt, ut haeredes Ducis monumentum in memoriam parentis erigendum curarent. Sed postquam per epistolas, per amicos, diu ac saepe orando nil profecere; hunc demum lapidem statuerunt; saltem ut scias, hospes, ubinam terrarum SCHONBERGENSIS cineres delitescunt. Plus potuit fama virtutis apud alienos quam sanguinis proximitas apud suos. A.D. 1731.

Was auf deutsch heißt: Hier unten liegt der Leichnam von Frederick, Herzog von Schomberg. Er starb 1690 in Budin. Der Dekan und das Domkapitel baten die Erben des Herzogs inständig, ein Denkmal zum Gedenken an ihren Vater zu errichten. Doch nachdem weder Briefe noch Freunde noch lange und häufige Gebete etwas bewirkt hatten, errichteten sie schließlich selbst diesen Stein, damit Sie, lieber Gast, wissen, wo auf der Welt die Asche von Schomberg begraben ist. 'Der Ruf der Tugend unter Fremden könnte mächtiger sein als die Nähe des Blutes unter den eigenen.' 1731 n. Chr.

Sic transit gloria mundi.

Dienstag, 8. Juli 2025

Rätsel, schnell gelöst

Warum lesen plötzlich beinahe tausend Leute den sechs Jahre alten Post Ertrinken verboten, fragte ich mich. Die Antwort fand ich schnell, als ich das Fernsehen einschaltete (ja, ich habe wieder TV). Arte sendete gerade diesen schönen französischen Kriminalfilm mit den vielen schönen Frauen: Elisabeth Bourgine, Gabrielle Lazure und Marie Trintignant. Wir brauchen diese drei hübschen Frauen, nicht nur weil François Truffaut gesagt hat Le cinéma c'est de l'art de faire faire de jolies choses à de jolies femmes, sie sind für die Handlung unentbehrlich. Mehr sage ich nicht, falls Sie den Film noch nicht kennen.

Denn Sie können ✺Ertrinken verboten hier noch einige Tage sehen. Und für diejenigen, die immer auf die Autos in Filmen achten, möchte ich sagen, das Philippe Noiret in dem Film einen Rover 3500 V8 MkII fährt. Ich habe hier eine schöne Seite der →Internet Movie Cars Database, mit der man alle Autos in allen Filmen identifizieren kann. Die gibt es bei diesem kleinen Post als Bonus dazu.


Freitag, 4. Juli 2025

Wunderland + Untergrund


In dem deutschen Wikipedia Artikel für den 4. Juli kann man lesen: 1865: Lewis Carrolls Kinderbuch Alice im Wunderland erscheint erstmals im Druck. Steht da, stimmt aber nicht, die Erstausgabe des Macmillan Verlags erschien am 26. November 1865. Wie kommt die Wikipedia auf den 4. Juli 1865? Sie haben da leider etwas verwechselt, so etwas sollte einem Lexikon nicht passieren. Der 4. Juli hat schon eine Bedeutung, aber es ist der 4. Juli des Jahres 1862. Da macht nämlich der Oxforder Professor Charles Lutwidge Dodgson (den wir als Lewis Carroll kennen) eine Bootsfahrt auf der Themse mit den Töchtern seines Kollegen Henry Liddell. Und erzählt ihnen eine phantastische Geschichte, die die zehnjährige Alice Liddell so begeistert, dass sie ihn bittet, die Geschichte aufzuschreiben. Das wird er tun, 
Alice's Adventures in Wonderland wird ein Klassiker der Literatur, der in diesem Jahr seinen 160. Geburtstag feiert. Aber eben nicht am 4. Juli, dem amerikanischen Nationalfeiertag. Wenn Sie zu diesem Tag etwas lesen wollen, dann klicken Sie diesen Post an. Oder lassen Sie es lieber. Das Amerika der Gründerväter hat mit Donald Trumps Amerika nichts mehr zu tun. Der 4. Juli wird für Trump ein schwerer Tag, weil er es in all den Jahren immer noch nicht gelernt hat, die Nationalhymne zu singen.

In der Folge The Soul of Genius der Inspector Lewis Saga hat ein Professor das originale Manuskript von The Hunting of the Snark ersteigert. Als es ihm geliefert wird, nehmen es Inspector Lewis und Sergeant Hathaway entgegen, da der Professor gerade ermordet worden ist. Hathaway, der in Cambridge studiert hat, weiß alles über das Gedicht, Lewis so gut wie nichts. Ich eigentlich auch nicht, aber ich kann Ihnen das Gedicht hier von Jeremy Irons vorgelesen anbieten. Wir können hier sehen, dass das Werk von Lewis Carroll schon in die Populäre Kultur gewandert ist, wo es in Comics, Graphic Novels und Filmen (sogar einem Porno Musical) ein Eigenleben führt. Auch bei Walt Disney ist Alice schon gelandet. Und natürlich in der Popmusik. Und damit fange ich heute mal an:

One pill makes you larger, and one pill makes you small
And the ones that mother gives you, don't do anything at all

Go ask Alice, when she's ten feet tall

And if you go chasing rabbits, and you know you're going to fall
Tell 'em a hookah-smoking caterpillar has given you the call

And call Alice, when she was just small

When the men on the chessboard get up and tell you where to go
And you've just had some kind of mushroom, and your mind is moving low

Go ask Alice, I think she'll know

When logic and proportion have fallen sloppy dead
And the white knight is talking backwards
And the red queen's off with her head
Remember what the dormouse said
Feed your head, feed your head

Erinnern Sie sich noch daran? Ging einem nicht mehr aus dem Kopf, Grace Slick und Jefferson Airplane mit dem White Rabbit. Bis heute nicht vergessen. Es war damals die Zeit der Drogen, die angeblich das Bewusstsein erweiterten. Was zuerst eine Sache für die Dichter gewesen war - ich denke da an Henri Michaux und Aldous Huxley (die mit Meskalin experimentierten) - war jetzt etwas für jedermann. Ich kann da nicht mitreden, ich lehnte dankend jeden angebotenen Joint ab. Pfeifentabak und Whisky reichten mir. Einen kleinen psychedelischen Trip hatte ich aber doch einmal. Mein Hausarzt, ein Freund meiner Eltern, hatte mir Butazolidin wegen einer Sportverletzung verschrieben. Es gab keinen Beipackzettel, die Ärzte behandelten ihre Familien damals untereinander kostenlos. Und meistens mit Warenproben. Ich konnte also nicht lesen, dass man zu diesem Zeug keinen Whisky trinken sollte. Ich sah in der Nacht nur noch rotierende gelbe Kreise, Pizzascheiben des Teufels. Irgendwie fallen mir dazu immer Noel Harrisons The Windmills of Your Mind und Grace Slicks White Rabbit ein.

Ich glaube, dass das Butazolidin heute nur noch bei Pferden verwendet wird, macht aus lahmen Gäulen Rennpferde. Ich habe einmal gelesen, dass Prince Philip es aus dem Pferdestall entwendete, um seine gichtigen Finger damit zu kurieren. Ich weiß nicht, ob er auch Whisky dazu getrunken hat. Meine persönlichen LSD Geschichten sind hier auch schon zu Ende. Bis auf diesen kleinen Zettel, den mir unser witziger amerikanischer Lektor Jack Daugherty einmal vor Jahrzehnten zusteckte. National LSD Day: Mind, how you go! steht darauf, ich habe den Zettel noch immer. Ich nehme an, Jack wollte mich testen, denn der kleine Zettel war in Wirklichkeit ein Gedicht. National LSD Day war der Titel, Mind, how you go! die einzige Gedichtzeile. Man beachte bitte das Komma zwischen mind und how - das war der Gag dieses Einzeilers, den Roger McGough geschrieben hatte. Der Dichter aus Liverpool, der mir einmal ein Buch signierte, ist in diesem Blog mehrfach erwähnt worden, lesen Sie doch einmal die Posts Kathedralen, Pilzköpfe und Delmore Schwartz

Aber kommen wir zurück zu der kleinen Alice: 'Begin at the beginning,' the King said gravely, 'and go on till you come to the end: then stop.' Ich werde beim Ende aufhören, es wird Ihnen nicht gefallen. Und ich habe das One pill makes you larger, and one pill makes you small von Grace Slick nicht vergessen: and she had never forgotten that, if you drink much from a bottle marked "poison," it is almost certain to disagree with you, sooner or later. However, this bottle was not marked " poison" so Alice ventured to taste it and finding it very nice, (it had, in fact, a sort of mixed flavor of cherry-tart, custard, pine-apple, roast turkey, toffy, and hot buttered toast,) she very soon finished it off. "What a curious feeling ! " said Alice, " I must be shutting up like a telescope." And so it was indeed: she was now only ten inches high, and her face brightened up at the thought that she was now the right size for going through the little door into that lovely garden. 

Am 4. Juli 1862 unternahm der Mathematiker und Theologe Charles Lutwidge Dodgson mit seinem Freund, dem Theologen Robinson Duckworth, und drei kleinen Mädchen namens Lorina Charlotte, Alice und Edith Liddell eine Bootspartie auf der Themse. Von Oxford nach Godstow, wenige Kilometer. Der Himmel war bedeckt, aber Jahrezehnte danach erinnerten sich alle an einen golden afternoon. Der Nachmittag war die Geburtsstunde von Alice's Adventures in Wonderland, weil Dodgson anfing, den Gören etwas zu erzählen.

Bootsfahrten mit einem Ruderboot auf Englands Flüssen haben schon allerlei englische Literatur hervorgebracht: Three Men in a Boat von Jerome K. Jerome, The Wind in the Willows von Kenneth Grahame oder Five on a Treasure Island von Enid Blyton. Diese kleine Bootstour der beiden unverheirateten Theologen mit den drei minderjährigen Mädchen bringt uns drei Jahre später (rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft von 1865) das Buch des einen der beiden Ruderer, der sich nun Lewis Carroll nennt. Und die Bootsfahrt auch in einem Gedicht verewigt hat:

A boat beneath a sunny sky,
Lingering onward dreamily
In an evening of July--

Children three that nestle near,
Eager eye and willing ear,
Pleased a simple tale to hear--

Long has paled that sunny sky:
Echoes fade and memories die.
Autumn frosts have slain July.

Still she haunts me, phantomwise,
Alice moving under skies
Never seen by waking eyes.

Children yet, the tale to hear,
Eager eye and willing ear,
Lovingly shall nestle near.

In a Wonderland they lie,
Dreaming as the days go by,
Dreaming as the summers die:

Ever drifting down the stream--
Lingering in the golden gleam--
Life, what is it but a dream?

Wenn Sie genau hinschauen ist es ein Akrostichon, die Anfangsbuchstaben der einzelnen Verse ergeben den Namen Alice Pleasance Liddell. Chief Inspector Morse (der hier einen Post hat) hätte seine Freude an so etwas gehabt. Allerdings finden sich in der gesamten Serie nur zweimal Anspielungen auf Alice in Wonderland, in Cherubim & Seraphim und Driven to Distraction. Bei Inspector Lewis spielt das Werk von Lewis Carroll nicht nur in The Soul of Genius, sondern auch in Allegory of Love, eine größere Rolle.

Die zehnjährige Alice Liddell möchte nach diesem Nachmittag die Geschichte, die Dodgson erzählte, aufgeschrieben haben. Es wird eins der berühmtesten Kinderbücher aller Zeiten. Aber ist es wirklich ein Kinderbuch? Für Lutwidge Dodgson ist es beinahe ein religiöses Buch, so sagt er in seinem VorwortThose for whom a child's mind is a sealed book, and who see no divinity in a child's smile, would read such words in vain: while for any one that has ever loved one true child, no words are needed. 

For he will have known the awe that falls on one in the presence of a spirit fresh from GOD's hands, on whom no shadow of sin, and but the outermost fringe of the shadow of sorrow, has yet fallen: he will have felt the bitter contrast between the haunting selfishness that spoils his best deeds and the life that is but an overflowing love--for I think a child's first attitude to the world is a simple love for all living things: and he will have learned that the best work a man can do is when he works for love's sake only, with no thought of name, or gain, or earthly reward.

Die Zeichnung (oben) von E. Gertrude Thomson mit den drei nackten Mädchen zu seinen Three Sunsets and Other Poems von 1898 hat Dodgson sicher gefallen, zeigt sie doch perfekt dieses verlogene süßliche Kinderbild der Viktorianer. Dodgson schrieb damals an Gertrude Thomson: I confess I do not admire naked boys in pictures. They always seem... to need clothes, whereas one hardly sees why the lovely forms of girls should ever be covered up. Deshalb hat er die Schwester von Alice auch genau so photographiert. Man weiß nicht ganz genau, ob das Photo, das man unlängst in einem französischen Museum fand, wirklich echt ist, aber es spricht vieles dafür. Ah, happy he who owns that tenderest joy, The heart-love of a child! schreibt Carroll in einem GedichtFeed your head.

Darf man ein Kind so photographieren, wie Dodgson das 1858 tut?... watch the way she measures a man with agile studio eyes, with dimpled depravity. Adult emotions of love and grief glissade across the mask of childhood, a childhood that is only skin-deep. It is clever, but it cannot last. Her admirers – middle-aged men and clergymen – respond to her dubious coquetry, to the sight of her well-shaped and desirable little body, packed with enormous vitality, only because the safety curtain of story and dialogue drops between their intelligence and their desire. Das schreibt kein Kommentator dieses lasziven Photos, das schreibt Graham Greene über Shirley Temple.

Diese Filmkritik durfte nicht gedruckt werden (lesen Sie hier mehr dazu), Graham Greene verlässt sicherheitshalber das Land. Der Lord Chief Justice sagt am Ende der Verhandlung: This libel is simply a gross outrage, and I will take to see that suitable attention is directed to it. So etwas darf nicht sein. Shirley Temple als inszeniertes Sexobjekt schon, aber man darf es nicht sagen. Von den viktorianischen Gemälden mit nackten Frauen eines William Etty, den Photographien von Lewis Carroll, der Werbung von Pears Soap (hier im Bild) bis zu Christine Keeler versuchen die Engländer immer einen Schein von Anständigkeit für ihre Schmuddelphantasien zu wahren.

Der Sommer des Jahres 1862 bringt noch ein weiteres literarisches Produkt unseres Oxford Mathematikers hervor, nämlich den Song über Miss Arabella Jones:

'Tis a melancholy song and it will not keep you long,
Tho I specs it will work upon your feelings very strong,
For the agonising moans of Miss Arabella Jones
Were warranted to melt the hearts of any paving stones.
Simon Smith was tall and slim, and she doted upon him,

Die Engländer haben den Nonsens als Literaturgattung etabliert, neben Lewis Carroll ist da noch Edward Lear, der einst der jungen Königin Victoria Zeichenunterricht gegeben hat. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Denn die tiefere Bedeutung hat Alice's Adventures in Wonderland durchaus, hinter beinahe allem steckt eine andere Bedeutung, Wortspiele, Parodien, ein philosophischer Scherz. Das weiß der Sergeant Hathaway, wenn er das Manuskript von The Hunting of the Snark in der Hand hält. Der Inspector Lewis weiß das nicht, der normale Leser meistens auch nicht. Wenn man die Annotated Alice von Martin Gardner (die Alice's Adventures in Wonderland und Through the Looking-Glass mit den originalen Illustrationen von John Tenniel enthält) liest, dann weiß man alles. Da steckt ein halbes Jahrhundert Forschung drin. Man kommt aber bei dem extensiven Nebentext der Fußnoten kaum noch zur Lektüre des Originals. Mind, where you go.

Im Jahre 1921schrieb der englische Schriftsteller J.B. Priestley: Alice in Wonderland and Through the Looking-Glass are, I understand, to be published for the first time in German. When I first learned this important fact, it surprised me for a moment, for I had thought that both these classics had by this time passed into all civilized tongues; but after some little reflection, I soon realized that if they had been popular in Germany, we should have known about it. It is not difficult to imagine what will happen when the Alice books are well known there, for we know what happened to Shakespeare. A cloud of commentators will gather, and a thousand solemn Teutons will sit down to write huge volumes of comment and criticism; they will contrast and compare the characters (there will even be a short chapter on Bill the Lizard), and will offer numerous conflicting interpretations of the jokes. After that, Freud and Jung and their followers will inevitably arrive upon the scene, and they will give us appalling volumes on Sexualtheorie of Alice in Wonderland, on the Assoziationsfähigkeit und Assoziationsstudien of Jabberwocky, on the inner meaning of the conflict between Tweedledum and Tweedledee from the psychoanalytische und psychopathologische points of view. Das wird alles kommen, da kennt Priestley den deutschen faustischen Geist, der alles ergründen will, schon recht gut. Ich mache mir das mit der Rezeption des Werkes einfach und verweise auf das Buch Lewis Carroll - Alice in Wonderland and Through the Looking- Glass von Eberhard Kreutzer. Da steht alles drin, was man wissen will.

Wenn Charles Lutwidge Dodgson am 4. Juli 1862 im Boot die Geschichte von der kleinen Alice erzählt, die sich langweilte - so wie Alice Liddell sich gerade langweilt - dann heißt das nicht, dass er das ganze Buch schon im Kopf hat. Er wird drei Jahre dafür brauchen. Aber das Konzept zu dem Ganzen, das gewinnt er während einer Eisenbahnfahrt nach London. Er wollte die Weltausstellung mit ihrer Wunderwelt besuchen. Er liebte die Eisenbahn. Schon als Elfjähriger hatte er für seine Geschwister ein Eisenbahnspiel ersonnen, das von seinen vielen Geschwistern nach den von ihm festgelegten Regeln gespielt wurde (das Manuskript dazu liegt heute in Harvard). Es ist immer Lutwidge, der die Regeln festlegt, nach denen die Kinder spielen. So beherrscht er sie. Wie er Alice mit seinen Erzählungen beherrschen will - der Zauberer, der Kinder fängt.

Aber, um einen Filmtitel der fünfziger Jahre zu zitieren, sie tanzte nur einen Sommer, da brach der Dean von Christ Church Henry George Liddell die Beziehungen zu Dodgson ab. Hatte er die pädophilen Gelüste seines theologischen Kollegen erraten? Wir werden es nie erfahren, die Erben von Dodgson haben alle Seiten seines Tagebuchs aus dieser Zeit vernichtet. Wir wissen auch, dass Alices Mutter alle Briefe von Dodgson an die kleine Alice beseitigt hat.

I charm in vain; for never again, 
All keenly as my glance I bend, 
Will Memory, goddess coy, 
Embody for my joy 
Departed days, nor let me gaze 
On thee, my fairy friend!


Was immer geschehen ist, die Katze lässt das Mausen nicht. Seit Ende der 1860er Jahre baut er sein Photostudio in seinem College aus, er legt auch Listen seiner Opfer an. Einhundert und sieben Namen stehen darin. Don Giovanni hatte ein wenig mehr: Ma in Ispagna son già mille e tre, aber das waren richtige Frauen, keine Kinder. 1867 macht Dodgson seine erste Nacktaufnahme: Mrs. L. brought Beatrice, and I took a photograph of the two; and several of Beatrice alone, 'sans habilement [sic ]. Beatrice ist Beatrice Hatch, die jetzt sein bevorzugtes Modell wird. Und dann ist da noch ihre Schwester Evelyn, von der er dieses schöne, geschmackvolle Photo macht. 

Bevor Lewis Carroll (hier mit den Kindern seines Freundes George MacDonald) kleine Mädchen photographiert, fragt er die Eltern um Erlaubnis. Mrs Mayhew schreibt ihm, er dürfe ihre drei Töchter photographieren. Aber nicht nackt, nur im Badeanzug. Carroll antwortet: The permission to go as far as bathing drawers is very charming… I can make some charming groups of Ethel and Janet in bathing drawers, though I cannot exaggerate how much better they would look without. Dreitausend Photos soll er gemacht haben, tausend davon sind erhalten. Nicht wenige von ihnen zeigen nackte Mädchen, I cannot exaggerate how much better they would look without. 

An seine kleine Freundin Alice schreibt er, als die heiratet: I have had scores of child-friends since your time: but they have been quite a different thing. Alice nahm 1880 den wohlhabenden Reginald Hargreaves, der ein bedeutender Cricketspieler war, zum Mann. Als ihr drittes Kind geboren wurde (hier Alice Hargreaves mit einer Enkelin), bat sie Dodgson, der Taufpate zu sein. Er lehnte ab. Sie nannte ihren Sohn Caryl, das klingt doch beinahe wie Carroll.

Mabel Amy Burton, die er 1877 als Achtjährige kennenlernte, erinnerte sich As a small child I much disliked strangers, but the personality of this gentleman attracted me and I chatted away with him quite freely. Sie sprach nach seinem Tod von einem irreparable loss in the hearts of many who had been his child-friends. Der irreparable Schaden ist noch größer. Vielleicht sollte man Alice in Wonderland in Malice in Wonderland umbenennen. Auf den Gag war Dodgson selbst auch schon gekommen, so schreibt er 1867 in einem Brief an Agnes Argyle: Dear Miss Dolly, I have a message for you from a friend of mine, Mr. Lewis Carroll, who is a queer sort of creature, rather too fond of talking nonsense. He told me you had once asked him to write another book like one you had read - I forget the name - I think it was about “Malice.” 2015 (da stand der größte Teil dieses Post hier schon einmal) ist nicht nur das Jahr von 150 Jahren Alice, es ist auch das Jahr, in dem dieses Photo vom Reverend Charles Lutwidge Dodgson und der kleinen Alice auftauchte. Muss man noch mehr sagen? Mind, where you go.

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