Dienstag, 7. Oktober 2025

Sommerurlaub, Atomphysiker, Motorräder und Goethes 'Faust'


Als ich bei Wikipedia las, dass der dänische Atomphysiker Niels Bohr heute vor hundertvierzig Jahren geboren wurde, fiel mir zuerst sein Auto ein. Ich gab bei Google Niels Bohr und Autos ein, und die Künstliche Intelligenz sagte mir: Die Anfrage 'Niels Bohr Autos' ist mehrdeutig, kann sich aber auf den Physik-Nobelpreisträger Niels Bohr beziehen, dessen Namen eine Straße trägt, oder auf einen Vorfall mit Autos in Lübeck im Niels-Bohr-Ring. Niels Bohr ist bekannt für das Bohrsche Atommodell, nicht für Autos. Das war nicht das, was ich suchte. Ich weiß inzwischen, dass man Googles AI überhaupt nie benutzen sollte, aber die Einträge sind meistens hochkomisch.

Den Namen des Nobelpreisträgers Niels Bohr hörte ich zum ersten Mal vor fünfundsechzig Jahren, und das hatte etwas mit seinem Auto und seinen Fahrkünsten zu tun. Wir springen mal eben ins Dänemark des Jahres 1960, in eine unendliche Sommergeschichte. Auf dem Campingplatz von Grenaa hatte ich gerade die hübsche Schwedin Gunilla (natürlich blond) kennengelernt, die den ganzen Sommer lang nicht von meiner Seite wich. Genau genommen waren es nur drei Wochen, aber wenn man jung und verliebt ist, dauert alles viel länger. Wir schrieben uns noch jahrelang Liebesbriefe. Ich habe ihretwegen sogar ein Langenscheidt Lexikon und ein Buch Schwedisch für Anfänger gekauft. Zur Not konnte ich jag alskar dig sagen. Aber sie konnte sehr gut Englisch, das half ihr bei ihrem Job als Lektorin bei Bonniers. Englisch wird die Sprache sein, in der wir noch ein Jahrzehnt lang die geheimsten Gedanken und Sehnsüchte der Post zwischen Bremen und Stockholm anvertrauen. Je weiter man voneinander entfernt ist, desto größer wird die Vertrautheit. Was mag aus ihr geworden sein? Ist sie diese Gunilla, die den schwedischen Filmregisseur Pelle Berglund geheiratet hat? Auf dem einzigen Photo im Internet sieht sie ihr sehr, sehr ähnlich.

Unsere Nachbarn auf dem Campingplatz waren ein Ehepaar mit drei Söhnen (und zwei Collies), die aus Odense kamen. Er war dort Organist und las im Urlaub am liebsten immer die Romanen mit die Mörders darinne. Sie hatten einen grünen Buckel-Saab, der neben ihrem Zelt stand. Das war das Modell 92 aus den frühen fünfziger Jahren. Damals wusste ich noch nicht so viel über blonde Frauen mit Sommersprossen, kannte aber alle Automodelle Europas. Und dieser grüne Saab (der dunkler war als dieser) spielt eine Hauptrolle in meiner Niels Bohr Geschichte, die mir der Organist (der ein bisschen aussah wie Piet Klocke) erzählt hat.

Unser rothaariger Organist war mit seinem Saab in Kopenhagen gewesen. Er ist da sehr vorsichtig gefahren, weil er aus der Provinz kam und Kopenhagen eine Großstadt ist. Obgleich da in den fünfziger Jahren noch nicht so viel los war. Meine Mutter hatte mal mit unserem blauen Opel ein Rencontre mit einer Kopenhagener Straßenbahn (die hatte natürlich schuld), hat den Schaden aber sofort ausbügeln lassen. Die Sache wäre unentdeckt geblieben, bis mein Vater fragte: Seit wann haben wir eigentlich einen General Motors Sticker hinten auf der Heckscheibe? Da kam die Sache raus.

Ich schweife ab. Ich fange noch mal an. Also, unser rothaariger Organist fährt mit seinem Saab ganz vorsichtig durch Kopenhagen, als ihm aus einer Straße, aus der gar kein Auto kommen kann, weil es eine Einbahnstraße ist, ein amerikanischer Straßenkreuzer vor den Wagen schießt. Ein kleiner Crash ist unvermeidlich. Als er wutentbrannt auf den Fahrer zustürzt, sieht er, dass er Niels Bohr vor sich hat, dem das schrecklich peinlich war. Aber Herr Bohr, das macht doch gar nichts, sagt er, es ist doch gar nichts passiert, das ist doch nicht der Rede wert. Dann haben sich die beiden die Hände geschüttelt und sind weitergefahren. Er hat den Kotflügel nie reparieren lassen, nur einmal überlackiert. Die Beule, die Niels Bohr da reingefahren hatte, war im Sommer 1960 immer noch da. Und war für den Organisten Ebbe X. natürlich immer ein Anlass, diese kleine Geschichte zu erzählen.

Viele Jahre ist Niels Bohr wie hier mit dem Fahrrad zu seinem Institut gekommen, weil ja jeder in Kopenhagen Fahrrad fährt. Über den Niels Bohr auf dem Fahrrad gibt es keine Anekdoten, aber über den Autofahrer Niels Bohr gibt es sehr viele Geschichten. Sein Freund Abraham Pais hat über ihn gesagt: Einstein never owned or drove a car; Bohr did. As I know from experience, his driving could on occasion be a bit scary. Und er erzählt uns in Niels Bohr’s Times, in Physics, Philosophy, and Polity die Geschichte, wie er Niels Bohr in seinem Sommerhaus Lynghuset in Tisvilde besuchte, das sich Bohr 1924 von dem Geld des Nobelpreises gekauft hatte: 

And then the time came to return to Copenhagen. We went by car. It was an act of faith to sit in an automobile driven by Bohr. On that occasion he complained that he felt too hot and actually let go of the wheel to take off his jacket. Mrs. Bohr’s rapid intervention saved the situation. Und Niels Blaedel schildert uns in seiner Biographie Harmony and Unity: The Life of Niels Bohr, dass der Atomphysiker beim Autofahren große Schwierigkeiten mit dem Beachten von roten Ampeln hatte. Im Alter wird er sich bei größeren Reisen von einem Chauffeur namens Jørgensen in seinem großen Lincoln fahren lassen.

Noch gefährlicher als hinterm Lenkrad ist Niels Bohr auf dem Motorrad. Googles KI sagt uns zwar: Es gibt keine bekannte Verbindung zwischen dem Physiker Niels Bohr und einem Motorrad. Aber hier können wir ihn mit seiner Frau Margrethe auf einem Photo aus dem Jahre 1931 sehen, das im Garten von seinem Sommerhaus Lynghuset gemacht wurde. Das Motorrad gehörte seinem Freund George Gamow, Niels Bohr musste es unbedingt ausprobieren. Die Born to be Wild Fahrt wird schnell enden. Gamows zweite Frau Barbara Perkins Gamow hat die Geschichte in einem Gedicht festgehalten, das sich in Ruth Moores Buch Niels Bohr: The Man, His Science, and the World They Changed findet: 

... that handsome, hearty British Lord
We knew as Ernest Rutherford.
New Zealand farmer's son by birth,
He never lost the touch of earth;
His booming voice and jolly roar
Could penetrate the thickest door,
But if to anger he inclined
You should have heard him speak his mind
In living language of the land
That anyone could understand!

One day George Gamow, as his guest,
By Rutherford was so addressed
At tea in honour of Niels Bohr
(Of whom you may have heard before).
The men talked golf, and cricket too;
The ladies gushed, as ladies do,
About a blouse, a sash, a shawl -

And Bohr grew weary of it all.
'Gamow,' he said, 'I see below
Your motorcycle. Will you show
Me how it works? Come on, let's run!
This party isn't any fun.'
So to the motorcycle Bohr,
With Gamow running after, tore.

Gamow explained the this and that
And Bohr, who on the saddle sat,
Took off to skim along the Backs,
A threat to humans, beasts and hacks,
But though he started full and strong
He didn't sit it out for long.
No less than fifty yards ahead
He killed the nervous engine dead
And, turning wildly as he slowed,
Stopped traffic up and down Queen's Road.

While Gamow, rushing to the fore,
Was doing what he could for Bohr
Who should like Jove himself appear
But Rutherford. In Gamow's ear
He thundered: 'Gamow! If once more
You give that buggy to Niels Bohr
To snarl up traffic with, or wreck,
I swear I'll break your bloody neck!'

Barbara Perkins Gamow wird in dem Wikipedia Artikel irrtümlich als Autorin des Theaterstücks Faust: Eine Historie angegeben, aber sie hat nur die Übersetzung jenes Stückes geliefert, das sich in George Gamows Buch Thirty Years that Shook Physics findet. Der Autor, der wunderbaren Persiflage war wohl zum größten Teil der spätere Nobelpreisträger Max Delbrück, Karikaturen steuerte George Gamov bei. Das Theaterstück wurde im Niels Bohr Institut (das hier auch auf dem Bild zu sehen ist) im April 1932 aufgeführt. Paul Ehrenfest spielte den Dr Faustus, Wolfgang Pauli war Mephistopheles und Niels Bohr war Gott. Max Delbrück, der sich in Kopenhagen schnell mit Gamow angefreundet hatte, gab den Conferencier. In Deutschland wurde 1932 eine Goethe Jahrhundertfeier zelebriert, in Kopenhagen führt die Crème de la Crème der europäischen Physiker (drei Nobelpreisträger sind auf der Bühne) Goethes Werk als Wissenschaftssatire auf. Gino Segre hat darüber das Buch Faust in Copenhagen geschrieben, von dem Sie hier die Einleitung lesen können. Und das Original von Faust: Eine Historie habe ich natürlich auch für Sie. Und Googles AI merkt sich jetzt mal den Satz It was an act of faith to sit in an automobile driven by Bohr, wenn jemand nach Niels Bohr und Autos fragt.

Freitag, 3. Oktober 2025

der dritte Oktober


In der ersten Oktoberwoche 1961 war ich in Berlin. Ich war achtzehn und wollte Don Giovanni in der neuen Oper sehen, eine Karte hatte ich schon. Da war die Mauer schon ziemlich weit gediehen, in der Woche nach dem Beginn des Mauerbaus war das noch nicht so, da war ich auch in Berlin gewesen. Mehr als 150 Kilometer Mauer werden nicht an einem Tag gebaut. Da wechselten noch überall Menschen von Ost nach West und West nach Ost an den Bauarbeitern vorbei. Sparten auch nicht mit launigen Kommentaren. Es waren noch schöne Sommertage, aber es war eine seltsame Stimmung in der Stadt. Der Satz Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten wurde natürlich ständig in Gesprächen zitiert, fiel aber bei dem Überreichtum an Ulbricht Witzen in Berlin nicht weiter auf. Der Busfahrer auf der obligatorischen Stadtrundfahrt konnte auch welche erzählen. An einer Stelle sagte er über sein Mikrophon, dass wir hier nicht weiterfahren könnten, weil hier alles abgesperrt sei. Billy Wilder drehe hier einen Film. Es war aber nichts von Billy Wilder zu sehen, und von einem Film aus Berlin habe ich damals auch nichts gehört. Ich hielt es für eine Geschichte, die Berliner Busfahrer den Jugendlichen aus der Provinz erzählen, weil die alles glauben. Aber ich muss dem Mann Abbitte tun. Billy Wilder drehte da wirklich einen Film. Der Bau der Mauer hatte Wilder völlig die Dreharbeiten zu Eins, Zwei, Drei versaut. Das Brandenburger Tor musste als Kulisse in Geiselgasteig nachgebaut werden.

Als wir sie schleiften, 
ahnten wir nicht, 
wie hoch sie ist in uns
Wir hatten uns gewöhnt 
an ihren horizont
Und an die windstille
In ihrem schatten 
warfen alle keinen schatten
Nun stehen wir entblößt 
jeder entschuldigung

Früher hatten wir den 17. Juni als Nationalfeiertag, weil am 17. Juni 1953 in Bitterfeld (wo der Dreck vom Himmel fällt) 50.000 Demonstranten freie Wahlen forderten. An anderen Orten waren es noch mehr, die von der Freiheit träumten. Jetzt ist unser Feiertag der 3. Oktober. Das hat seinen Grund. Weil Sabine Bergmann-Pohl am 23. August 1990 in der Volkskammer das Abstimmungsergebnis bekanntgab: 

Die Volkskammer erklärt den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit der Wirkung vom 3. Oktober 1990. Das liegt Ihnen in der Drucksache Nr. 201 vor. Abgegeben wurden 363 Stimmen. Davon ist keine ungültige Stimme abgegeben worden. Mit Ja haben 294 Abgeordnete gestimmt. Mit Nein haben 62 Abgeordnete gestimmt, und sieben Abgeordnete haben sich der Stimme enthalten. Meine Damen und Herren, ich glaube, das ist ein wirklich historisches Ereignis. Wir haben uns die Entscheidung alle sicher nicht leicht gemacht, aber wir haben sie heute in Verantwortung vor den Bürgern der DDR in der Folge ihres Wählerwillens getroffen. Ich danke allen, die dieses Ergebnis im Konsens über Parteigrenzen hinweg ermöglicht haben.

Ich stelle heute etwas ein, das schon in meinem ersten Jahr als Blogger am 3. Oktober hier stand, als wir zwanzig Jahre Einheit feiern konnten. Damals war Angela Merkel noch Kanzlerin, heute scheint sie trotz ihrer 736-seitigen Memoiren beinahe vergessen zu sein. Wir vergessen alles zu schnell. Aber manches bleibt im Gedächtnis, wie Reiner Kunzes Gedicht die mauer (zum 3. oktober 1990) da oben. Mein Text zum dritten Oktober, den ich immer noch mag, ist in den folgenden Jahren leicht verändert worden. Und länger geworden. Auch heute. Es kann nicht schaden, ihn noch einmal hierher zu stellen. 

Als ich nach der Bundestagswahl 2017 den Post Unser Land schrieb, hatte ich nicht daran gedacht, dass eine Woche später der Nationalfeiertag sein würde. Vielleicht hätte ich dann für Herrn Gauland noch den ein oder anderen Satz übrig gehabt. Ein halbes Jahrhundert nach Adolf von Thadden hatten wir wieder eine rechtsradikale Partei im Parlament. Vielleicht ist das auch ganz gut: indem wir über die AfD diskutieren, diskutieren wir über unser Selbstverständnis, unsere Demokratie. Die Zeitungen versichern uns, dass unser Land zerrissen sei. Wirklich? Die Kanzlerin tut das, was sie immer tut: schweigen und die Raute machen. Ist das genug? Anita Ekberg konnte das mit der Raute besser. Es könnte bei uns etwas mehr sein:

Nein, das gemeine Beste, 
Des eignen Wohlergehens nur einzig sichre Feste 
Erweckt in mir den Trieb; Trieb, den der Himmel ehrt, 
Wenn seines Eifers Glut der Bosheit Spreu verzehrt. 
Die angestorbne Pflicht, das Vaterland zu schützen, 
Der Freiheit Gott zu sein; der Unschuld Recht zu stützen, 
Ist der geheiligte, mit Blut gelegte Grund
Worauf das Wohl des Staats und unserer Väter stund. 

Den lasset uns vereint mit unserm Blut verteidgen.

Gut, es ist ein wenig veraltet, was Justus Möser da in seinem Theaterstück Arminius schreibt, aber es hat auch mit unserer Nation zu tun.

Die Deutschen von heute kommen aus zwei verschiedenen Erfahrungsbereichen; sie gleichen Kindern einer Familie, die getrennt in verschiedenen Umwelten aufwuchsen und auf die eine andere Art von Erziehung eingewirkt hat. Denn der Eiserne Vorhang der 50er-Jahre, der in den 60ern in Deutschland zu einer Betonmauer wurde und erst nach 28 Jahren gewaltlos beseitigt werden konnte, trennte nicht nur Militärblöcke, Wirtschaftsgefüge und Ideologien, sondern auch Lebensgefühle, die nicht so schnell wie die Mauer zu beseitigen sind, schreibt Günter de Bruyn. Mit dem Lebensgefühl hat er sicherlich recht. Ich bin in einer amerikanischen Besatzungszone aufgewachsen, ich habe ein anderes Lebensgefühl als jemand aus den Kriegsjahrgängen, der in der sowjetischen Besatzungszone aufwuchs. Es hat ja lange gedauert, dass man im Westen nicht mehr von der SBZ redete und wahrnahm, dass es einen Staat namens DDR gab. Uns trennt noch vieles, aber wir haben jetzt eine gemeinsame Nationalhymne. Allerdings nicht diese:

Auferstanden aus Ruinen
Und der Zukunft zugewandt,
Laß uns dir zum Guten dienen,
Deutschland, einig Vaterland.
Alte Not gilt es zu zwingen,
Und wir zwingen sie vereint,
Denn es muß uns doch gelingen,
Daß die Sonne schön wie nie
Über Deutschland scheint.

Glück und Frieden sei beschieden
Deutschland, unserm Vaterland.
Alle Welt sehnt sich nach Frieden,
Reicht den Völkern eure Hand.
Wenn wir brüderlich uns einen,
Schlagen wir des Volkes Feind!
Laßt das Licht des Friedens scheinen,
Daß nie eine Mutter mehr
Ihren Sohn beweint.

Laßt uns pflügen, laßt uns bauen,
Lernt und schafft wie nie zuvor,
Und der eignen Kraft vertrauend,
Steigt ein frei Geschlecht empor.
Deutsche Jugend, bestes Streben
Unsres Volks in dir vereint,
Wirst du Deutschlands neues Leben,
Und die Sonne schön wie nie
Über Deutschland scheint. 

Das hätten wir ja als Nationalhymne nehmen können, vom neuen Deutschland. Warum eigentlich nicht? Kann man ja auch zu der Melodie von Gott erhalte Franz den Kaiser singen, braucht man nicht unbedingt (wie Hans Albers in Wasser für Canitoga) zur Melodie von Goodbye Johnny zu singen. Wir haben in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg etwas länger gebraucht, bis wir überhaupt eine Nationalhymne bekamen. Es war Konrad Adenauer sehr peinlich, in Amerika mit Heidewitzka, Herr Kapitän begrüßt zu werden. Oder in seiner engeren Heimat mit Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien. Wir können ja glücklich sein, dass uns nach 1945 diese Hymne erspart blieb:

Land der Väter und der Erben,
uns im Leben und im Sterben
Haus und Herberg, Trost und Pfand,
sei den Toten zum Gedächtnis,
den Lebend'gen zum Vermächtnis,
freudig vor der Welt bekannt,
Land des Glaubens, deutsches Land.

Der Aufruf Macht das Tor auf des Bundestages von 1958 war im Jahre 1989 endlich erhört worden, als Wahnsinn das Wort der Stunde wurde. Das Wort Willkommenskultur gab es noch nicht im Repertoire der Presse, dies war jetzt Wahnsinn. Sind wir jetzt alle glücklich? Wo sind die blühenden Landschaften? Gibt es ein einheitliches Lohnniveau in Deutschland? Hat das alles angefangen mit dem Gedicht, das der fünfundzwanzigjährige Günther Sattler im September 1989 auf ein Flugblatt schreibt?

was für ein leben?
wo die wahrheit zur lüge wird, 
wo der falsche das zepter führt.

was für ein leben?
wo die freiheit tot geboren,
wo schon scheint alles verloren.

was für ein leben?
wo alte männer regieren,
wo noch menschen an grenzen krepieren.

was für ein leben?
wo die angst den alltag bestimmt, 
wo das ende kein ende nimmt.

was für ein leben?
wo man seinen nachbarn nicht mehr traut, 
wo man nicht mehr aufeinander baut.

was für ein leben?
wo man nicht sein kann, der man ist, 
wo man so schnell vergißt.

was für ein leben?
wo träume sterben,
wo es nichts mehr gibt zum vererben, 
außer scherben

was für ein leben?
wo es für wenige alles gibt,
wo der kleine, keinen ausweg sieht.

was für ein leben?
wo liebe nicht existiert, 
wo man langsam erfriert.

WAS FÜR EIN LEBEN? FÜHREN WIR????
ABER LEBEN MUß MAN DOCH UND ZWAR HIER!!

Dieses und zwar hier fand sich auch in dem Aufruf Für unser Land, den Christa Wolf geschrieben hatte: Entweder können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, mit allen unseren Kräften und in Zusammenarbeit mit denjenigen Staaten und Interessengruppen, die dazu bereit sind, in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind. 
           Oder wir müssen dulden, daß, veranlaßt durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflußreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik Deutschland vereinnahmt wird.
           Laßt uns den ersten Weg gehen. Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind
.

Hofften Christa Wolf und die Unterzeichner des Aufrufs wirklich, dass die DDR noch zu retten war? Es kam eine Revolution ohne Blut. Das Beste an unserer Vereinigung ist, dass kein Blut floss, hat Wolf Biermann gesagt. Niemand ist an die Laterne gehängt oder vor ein Peloton gestellt worden. Erich Mielke ist verurteilt worden. Wegen eines Mordes im Jahre 1931, für nix anderes. Schalck-Golodkowski hat ein Jahr bekommen, aber auf Bewährung. Lebte danach in Rottach-Egern. Ausgerechnet da. Kaum waren wir ein Land, kaum waren die ersten verurteilt, gab es schon die ersten Rufe nach einer Amnestie. Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat, hat Bärbel Bohley gesagt. Aber für die Juristen ist alles gut, wie man hier lesen kann. Und das Wort vom Unrechtstaat hört man auch nicht mehr, seit uns die Linguistin Gesine Lötzsch erklärt hat, dass das ein propagandistischer Kampfbegriff gewesen sei.

Eine Woche nach dem Fall der Mauer bin ich einmal durch das Land gefahren, das heute nur noch Mäck-Pomm heißt (dabei ist das E in Mecklenburg ein langes Dehnungs-E). Ich konnte die Fahrt, das flache Land im sonnigen Herbst mit den wunderbaren alten Alleen, genießen. Mein Bruder saß am Steuer seines nagelneuen Autos. Das auch etwas mit dem Fall der Mauer zu tun hatte. 

Den Wagen davor hatte er bei einem örtlichen Händler gekauft, Werksvertretung der Automarke. Alles war gut. Bis eines Tages die Kripo in seiner Praxis stand. Beinahe alle Autos, die der Händler verkauft hatte, hatten mehr oder weniger gefälschte Papiere, Kilometerstand des Tachos und Nachweis für Inspektionen waren manipuliert. Der Händler war flüchtig. Er war in die DDR geflohen. Vier Wochen vor dem Fall der Mauer. Der Autohändler war wahrscheinlich einer der wenigen Menschen in Deutschland, der über die deutsche Wiedervereinigung nicht glücklich war. Mein Bruder lernte Mecklenburg-Vorpommern dann später noch genauer kennen, weil der Prozess gegen den kriminellen Autohändler in Schwerin stattfand.

Kurz vor der Grenze überfiel mich bei unserer Fahrt, wie bei jedem Grenzübertritt in den Jahrzehnten zuvor, der übliche Schiss. Aber da war nichts mehr mit Kontrolle. Kein Satzbeginn mit Gänsefleisch mehr (Gänsefleisch mal den Kofferraum aufmachen?). Keine im Busch lauernden Vopo Wartburgs mehr, wo man doch mit willkürlichen Strafmandaten so schöne Devisen einnehmen konnte. Ich habe meine Strafmandate aufbewahrt, sie sind ein historisches Zeugnis. Die durch die DDR donnernden Laster aus Skandinavien wurden nie aufgeschrieben, die brachten Devisen. Ich traute dem Frieden noch nicht so recht, aber als ich in Schwerin sah, dass Jugendliche aus einem Trabbi heraus vorbeifahrenden Vopos den Mittelfinger zeigten, da wusste ich, dass eine neue Zeit angebrochen war. Das ist die Symbolik der Freiheit. Und an zerbröckelnden Mauern hing jetzt auch schon westliche Reklame. Das erste Billboard, das ich in der Noch-DDR sah, bedeckte die Wand eines zerbröckelnden Hauses. Es war von einer Zigarettenfirma, auf dem Plakat stand nur: WEST. Ich fand das eine schöne Symbolik. Ich ärgere mich noch immer, dass ich meinen Photoapparat nicht mitgenommen hatte.

Noch bevor die Mauer fiel, hatte Coca Cola den Weg in die DDR gefunden, wurde tatsächlich für zwei Mark fünfzig (Ost) in Läden gesehen. Eine Studentin von mir, die in den Semesterferien bei Coca Cola jobbte, schenkte mir damals einen Coca Cola Sticker und prophezeite mir, der wäre eines Tages sehr viel wert. Der rote Anstecker zeigte das geeinte Deutschland, mit dem Schriftzug Coca Cola in der Mitte. So, als ob Coca Cola Deutschland geeint hätte. Coca Cola und Kommunismus haben die gleiche symbolische Farbe. Ich weiß nicht, was der kleine Anstecker heute wert ist. Ich habe ihn aber immer noch. Ich stecke ihn jedes Jahr am 3. Oktober an.

Das WEST Plakat an der abbröckelnden Mauer und der rote Cola Sticker stehen als Symbole für das, was jetzt kam: Kommerz. Abwickeln, Umrubeln, Plattmachen. Eine Lehrstunde in angewandtem Kapitalismus. Es gab damals einen Krimi aus der Reihe Schwarz-Rot-Gold, in dem der Hamburger Zollfahnder Zaluskowski mit seiner Mannschaft jetzt in Berlin sitzt, und lauter Kriminelle dabei sind, an dem ✺Umrubeln zu verdienen. Da hat es Dieter Meichsner (dem der NDR und wir alle viel zu verdanken haben) uns mal wieder bewiesen, dass man Fernsehkrimis mit politischer Aufklärung verbinden kann.

Der erste Tatort, den die ARD 1970 sendete, hieß Taxi nach Leipzig. Er hatte gezeigt, dass man beide Deutschlands in einem Fernsehkrimi unterbringen konnte. Nach der Wiedervereinigung bekamen wir auf dem Bildschirm viele neue Kommissare, die das deutsch-deutsche Verbrechen bekämpften. Die ganz alten Kommissare gab es auch noch, weil in der Nacht die alten DDR Polizeiruf 110 Folgen des DFF wieder aufgelegt wurden. Die Kommissare Kurt Böwe und Uwe Steimle aus Schwerin waren mir immer die liebsten. Aber leider ist Kurt Böwe, den viele noch aus Konrad Wolfs Der nackte Mann auf dem Sportplatz kannten, inzwischen tot. Und dem Uwe Steimle hat die ARD gekündigt. Die Hauptkommissare Ehrlicher (Peter Sodann) und Kain (Bernd Michael Lade) hat man auch in Rente geschickt. Ich bin immer noch der Meinung, dass Peter Sodann ein besserer Bundespräsident als Horst Köhler gewesen wäre.

Was war das vor fünfunddreißig Jahren für eine Chance, gemeinsam einen neuen Anfang zu wagen! Aber dazu hätte es anderer Leute bedurft. Obgleich es ja nie an Idealisten gefehlt hat. Ich habe Freunde, die hier hochdotierte Positionen aufgegeben haben, um da drüben bei dem Neuaufbau zu helfen. Ärzte, die ihre Professur ruhen ließen, um drüben eine Klinik aufzubauen. Das ist etwas anderes als jene, die mit der Buschprämie dahin gelockt wurden. Oder die freiberuflichen Juristen, die sich mit der notariellen Beglaubigung von Land- und Immobilienverkäufen eine goldene Nase verdienten. Aber für den dicken Kohl konnte das, woran er keinen Anteil gehabt hatte, jetzt nicht schnell genug gehen, Kanzler der Einheit wollte er sein. Sein Buch Ich wollte Deutschlands Einheit habe ich kurz nach seinem Erscheinen  im Grabbelkasten eines Antiquariats gesehen, koste (nagelneu und ungelesen) zwei Euro. Ich habe es aber nicht gekauft. Bei Amazon bekommt man es heute schon für 1,19 Euro.

Wir hätten ja von den Bürgerrechtlern lernen können und von der ganzen Intelligenz der Opposition. Wir hätten ja Jens Reich (hier mit Bärbel Bohley im Oktober 1989) zum Bundespräsidenten machen können. Wenn man bedenkt, was seit den griechischen Philosophen alles über die kluge Staatsführung gesagt worden ist. Und was gab es? Keine Konzeption, nur Gemauschel, und die so genannte Treuhand und tausenderlei Skandale, von denen die Leuna Affäre nur einer von vielen ist. Was Leuna bedeutet, weiß ich seit ich klein bin. Weil ich einen Verwandten hatte, der eine Flakeinheit kommandierte, die Deutschlands Chemieindustrie beschützen sollte. Inzwischen haben wir eine Bundeskanzlerin und hatten einen Bundespräsidenten aus der DDR, aber wir können uns noch entsinnen, dass die Kanzlerin alles versucht hat, damit Gauck nicht Bundespräsident wurde. Was hätte sie wohl getan, wenn Peter Sodann Präsident geworden wäre?

Als die DDR Bürger dann in riesigen Zahlen kamen, weil es ein Begrüßungsgeld gab, und als ihre Rennpappen mit dem bläulichen Auspuffgas die Straßen verstopften, als die Geschäfte hier auch am Sonntag offen hatten, damit das Begrüßungsgeld gleich in ihre Kassen kam, da hatte man das Gefühl: jetzt kommt eine neue Zeit. War aber letztlich auch nur Kommerz. Ich habe dem hellblauen Trabbi, der neben mir auf dem Parkplatz stand, einen Zehnmarkschein unter den Scheibenwischer geklebt. Wochen später standen die Russen in der Einkaufsstraße und vertickten Russenuhren, alles nur Komandirskie, die Sowjetarmee bestand offenbar nur aus Kommandeuren. Und wenige Wochen später wurden sie von Leuten abgelöst, die jetzt geschnitzte geflügelte Jahresendfiguren verkauften. Der Ausverkauf des Ostens hatte begonnen. In Berlin sollen sogar Kalaschnikows auf dem Flohmarkt verkauft worden sein.

Das Gute mit der Einheit ist, dass ich Onkel Karl leicht erreichen kann. Der war zum Entsetzen der Berliner Verwandtschaft seinem Lehrer, dem Bildhauer Gustav Seitz, 1951 von Berlin-West nach Berlin-Ost gefolgt. Vor einem halben Jahrhundert habe ich meine Freundinnen bei Berlinbesuchen immer zur Stalinallee geschleppt und großspurig behauptet, dass all die Skulpturen mit den Helden der Arbeit von meinem Onkel Karl seien. Was nicht ganz stimmte, machte aber so um 1960 auf junge Frauen großen Eindruck. Einige der Figuren waren von ihm, aber von diesen heroischen Jugendsünden war er eigentlich schon lange weg, wie seine Schwimmerin aus dem Jahre 1952 da links beweist. Und sein Maxim Gorki sieht ganz, ganz anders aus, als der in Moskau.

Und wenig später hat er in Berlin sogar für die Bremer Stadtmusikanten gesorgt, das war wohl ein bildhauerischer Gruß an die Bremer Verwandtschaft. Das Photo von 1967 zeigt, dass eine Freiplastik auch von praktischem Nutzen sein kann. Haben wir sonst noch etwas aus der Kultur zu vermelden? Außer dem Roman Der Turm? Die Welt war der Meinung, Tellkamp habe wahrscheinlich den Roman des Jahrzehnts geschrieben. Den ultimativen Roman über die DDR, diese lächerliche sowjetische Satrapie auf deutschem Boden. Aber ist das Ganze wirklich Literatur? Es kann sich kaum mit Werner Bräunig messen. Die Neuausgabe von Bräunigs Rummelplatz und seinen Erzählungen Gewöhnliche Leute muss man unbedingt begrüßen.

Es hatte ja immer eine Literatur gegeben, von der wir im Westens wenig erfuhren. Dichter, die so etwas schrieben: will ich also die Poesie der Straßenbahn erleben, gehe ich zwischen den Gärten der Großstadt umher. Und da möchte ich meinen: Die Großstadt gebe in der Ferne ein Konzert, wo in den Kurven Straßenbahnen Geige spielten. Doch stehe ich an der Ecke und warte auf die 46, ist es wieder Lärm und Alltag und stört. […] Betrachte ich den von der Straßenbahn gewonnenen Eindruck als Feier, wenn er mir gegenüber im Hintergrund, und als Alltag, wenn er mir gegenüber im Vordergrund ertönt, entsteht […] die Feier im Alltag, das heißt dann soviel wie: Vergiß vor lauter Sorgen des Alltags die kleinen das Herz erquickenden Dinge nicht. Sei ein Künstler des Lebens und freue dich mit, etwa wenn der Dackel mit der Zeitung im Maul angeschwanzwedelt kommt und die kurz bevorstehende Ankunft des Herrn im Anzug ankündigt. 

Man hat Uwe Greßmann einen poète maudit gennannt, er passte nicht ins SED Parteibild. Er war sein halbes Leben lang krank und ist früh gestorben. Dass ich überhaupt wusste, wer Greßmann war, verdankte ich meinem Onkel Karl, der hat dem toten Dichter nämlich die Totenmaske abgenommen. Einen kleinen Eindruck von der DDR Subkultur habe ich gewonnen, als ich zwischen Abitur und Bundeswehr noch einige Wochen Zeit hatte, und mein Freund Uwe mich zu einer Tagung im Jugendhof Steinkimmen schleppte. Da war Hannes Meyer Leiter, der hatte vorher unser Jugendheim Alt-Aumund geleitet. Ich landete in einem Seminar über DDR Lyrik und Protestsongs. Ich habe leider all meine Unterlagen verloren, aber einige Zeilen eines wunderbaren Liedes aus dem Cassettenrecorder habe ich nie vergessen. Das wurde von einer jungen Frau im frechrotzigen Stil vorgetragen, und es hatte immer wieder den Refrain: Denn sie wollt' ja immer einen von der Universität. Wenn's geht. Wenn's geht.

Dass viel, viel Geld in die Museen geflossen ist, war natürlich zu begrüßen. Und sicherlich ist die Semperoper ein Schmuckstück, vor allem als Bierreklame, deshalb hat sie ja auch schon den inoffiziellen Namen Radeberger Arena. Was bleibet aber, stiften die Dichter. Also jetzt einmal von Bräunigs Roman Rummelplatz abgesehen. Und auch davon abgesehen, dass der von mir sehr geschätzte Günter de Bruyn Theodor Fontane immer ähnlicher und von Buch zu Buch besser wird. Und die Fontane Ausgabe, die der Grand Old Man der Fontaneforschung Gotthard Erler einst begonnen hatte, schreitet voran. Erler ist jetzt zweiundneunzig, hat gerade seine geliebte Frau Therese verloren, aber er arbeitet immer noch an der großen Sache.

Günter de Bruyns Buch Deutsche Zustände, zehn Jahre nach 1989 veröffentlicht, ist immer noch der Lektüre wert. Was auch etwas mit den schönen Photos von Barbara Klemm zu tun hat, die mit ihrer Ruhe und Ausgewogenheit hervorragend zum Ton des Buches passen. Nicht zuletzt die Duotone Druckqualität der Photos und das ruhige Layout des Buches tragen zum sinnlichen Vergnügen der Lektüre bei. Dies war ein Jahrzehnt nach dem Fall der Mauer ein Buch, das ein anderes Deutschland jenseits des peinlichen politischen Tagesgeschäfts und der bunten Versprechungen der Werbewelt zeigte.

Ein anderes Bild von einer kommoden Diktatur zeigte uns auch Günter Grass' Roman Ein weites Feld. Den ich übrigens für seinen besten Roman halte. Ich bin kein Fan von Günter Grass, irgendjemand hatte mir diesen voluminösen Pappband in die Hand gedrückt und gesagt: Lies mal! Auf dem Cover stand: Unverkäufliches Leseexemplar... Bitte keine Rezensionen vor dem 28. August 1995. Ich las, es war ein wunderbares Leseerlebnis. Als ich die Geschichte von Fonty Wuttke (hinter dem vielleicht der Verlagschef des Aufbau Verlags Gotthard Erler steckt) las, wurde mir plötzlich klar, dass ich durch das Leben gekommen war, ohne je Fontanes Vor dem Sturm gelesen zu haben. Ein Versäumnis! Als ich mit dem Fontane fertig war, beschloss ich, dass ich jetzt eigentlich auch das tun könnte, wozu mich Friedrich Hübner jahrzehntelang drängte, nämlich endlich Tolstois Krieg und Frieden zu lesen.

Ein weites Feld bietet ein Panorama der deutschen Geschichte. Und das wenige Jahre nach der Wende, da kann man nur sagen: Respekt. Der Filmemacher Edgar Reitz brauchte etwas länger. Mit Heimat 3: Chronik einer Zeitenwende hat Edgar Reitz sein ✺Heimat Projekt abgeschlossen und Wende und Wiedervereinigung auch nach Schabbach kommen lassen: Das ist natürlich schon für mich ein tiefgreifendes Erlebnis zu sagen 'dieses ist der letzte Teil von Heimat', also als berufliche Aufgabe. Und ich habe doch immerhin na bald 25 Jahre mit diesem Projekt verbracht, sodass dieses Projekt selbst eine Art Heimat bildet. Und das zu beenden, das ist nicht schmerzlos. Der Stoff geht mir nicht aus, und Geschichten erzählen unter dem Dach eines großen erzählerischen Werkes das Heimat heißt, das könnte ich ewig fortsetzen so lange ich gesund bin und arbeiten kann. Aber mit deutschen Fernsehsendern mich um das Budget zu streiten, und jede Silbe im Drehbuch rechtfertigen zu müssen, das will ich nicht noch einmal, das ist klar. Deswegen ist es Abschied von Schabbach

Sieben Jahre lang Gezerre mit der ARD wegen der Finanzierung für etwas, was der Abschluss des größten filmischen Meisterwerks über ein halbes Jahrhundert Bundesrepublik ist. Aber für einen Pausenclown wie Harald Schmidt, dafür hatten sie Geld bei der ARD. Das ist unser Problem, wieder nix wie Kommerz. Die Intendanten der Rundfunkanstalten haben Gehälter, von denen Bundespräsidenten nur träumen können, und was wird produziert? Dieser erschütternde Degeto-Quark, aber kein Geld für Heimat 3. Am Ende von Heimat 3 kommen Handwerker aus der ehemaligen DDR und bauen das Günderode Haus wieder auf, und Salome Kammer singt Eichendorffs Aus der Heimat hinter den Blitzen rot. Ein Gedicht, das mit dem Verlust der Heimat zu tun hat.

als das haus einstürzte vor dessen 
baufälligkeit sie gewarnt worden waren 
seit langem & mehrfach & immer vergeblich

klammerten sich einige von ihnen 
noch im fallen an einzelne balken 
& lobten die pläne der architekten

rühmten auch das fundament in dessen 
sich rasch verbreiternden rissen 
sie am ende verschwanden

& priesen noch aus der tiefe
das schützende dach dessen trümmer
sie schließlich erschlugen

Das Gedicht von Yaak Karsunke musste mal eben zitiert werden. Denn die Dichter hatten auf beiden Seiten der Grenze etwas zu der deutschen Befindlichkeit sagen. Der berühmte Germanist Karl Otto Conrady, der 2020 im Alter von vierundneunzig Jahren gestorben ist, hatte zwei Jahre nach seiner Emeritierung bei Suhrkamp ein interessantes Buch herausgebracht. Von einem Land und vom andern: Gedichte zur deutschen Wende 1989/1990 heißt es. Man kann es noch antiquarisch preiswert finden. Die Germanistik hat inzwischen ein neues, eigentlich schreckliches, Wort: Wendeliteratur. Es ist viel aufzuarbeiten, nicht nur von der Germanistik. Ich hätte hier für Sie zum Anklicken den sehr interessanten Artikel Die deutsche Wiedervereinigung - gespiegelt in der Lyrik der Professorin Young-Ae Xhon.

Mein Buch der Einheit fiel mir (wie die besten Bücher, die ich gelesen habe) in einem Grabbelkasten in die Hand. Noch auf der Straße im Passantengewühl fing ich an zu lesen. Das Buch heißt Letzten Sommer in Deutschland: Eine romantische Reise. Und ich nehme mal an, dass die Autorin Irina Liebmann mit ihren Büchern nicht auf sechs Millionen verkaufte Exemplare kommt wie Ildikó von Kürthy. Oder Inga Lindström, Charlotte Link und wie sie alle heißen. Obgleich es wirklich schön wäre, wenn sechs Millionen Deutsche Irina Liebmanns Buch lesen würden. Ein sentimental journey durch Deutschland, Ost und West, wechselnd zwischen Prosa und prose poem. Von der Wasserwelt in Lebus bis zum Rhein, hoch poetisch und hoch komisch. Dies ist ein Buch, das uns unsere hässliche Wirklichkeit vergessen lassen kann - obgleich die immer auch im Buch ist. Ich bin dem Zufall dankbar, dass ich das Buch 2010 passend zum zwanzigsten Jahrestag der Einheit gefunden hatte. Und ich bin Irina Liebmanndie vor drei Jahren den Uwe Johnson Preis bekam, ja sowas von dankbar, dass sie dieses Buch geschrieben hat.


Sie könnten auch noch lesen: Unser Land, Schicksalstag, Mauer, Mauern, Bauarbeiten, German German Overalls, God Save the King, Vaterlandsstolz, 3. Oktober 2019, 17. Juni, zwei Opern in Berlin

Dienstag, 30. September 2025

Sendeschluss


Heute vor fünfunddreißig Jahren gab es in England bei British Satellite Broadcasting eine neue Sitcom, von der allerdings nur die erste Folge gesendet wurde. Die anderen sieben Folgen kamen nie auf die Bildschirme. Die Sitcom sollte eine Parodie auf die amerikanischen Sitcoms der fünfziger Jahre sein. Die BBC hätte sich so etwas nie ausgedacht, aber BSV Galaxy war ein Privatsender, da gelten die Regeln des guten Geschmacks nicht. Zwei Jahre nach der ersten und einzigen Sendung wurde die Sitcom in dem Buch Zap!: A Brief History of Television als perhaps the world's most tasteless situation comedy bezeichnet. Sie können hier auf dem Bild zwei der Personen der bizarren Sitcom mit dem Namen Heil Honey I'm Home! sehen: Adolf Hitler und Eva Braun. Die anderen Personen sind die jüdischen Nachbarn Arny und Rosa Goldenstein und Neville Chamberlain, der zu Besuch kommt. 

Eine Sitcom mit Adolf Hitler als Hauptdarsteller ist sicherlich problematisch, das Board of Deputies of British Jews reagierte auf die Sendung mit den Sätzen: We are against any trivialisation of the Second World War, Hitler or the Holocaust, and this certainly trivialises those things. It’s very distasteful. Aber wegen der Proteste wurde die Serie nicht aus dem Programm genommen. Auf der Seite der BBC kann man lesen, dass BSB gerade von Rupert Murdochs British Sky Broadcasting gekauft worden war. Und Murdoch wollte amerikanische Serien. So haben wir nur diese einzige Folge, auf der Seite von Curious British Telly gibt es noch das Skript für eine andere Folge. Aber YouTube hat Heil Honey I'm Home! für uns aufbewahrt (das Internet Archive auch). Ich weiß nicht, ob man sich das wirklich ansehen muss, Monty Pythons Mr. Hitler ist viel witziger.

Samstag, 27. September 2025

beautiful


In seinem Werk A Philosophical Inquiry into the Origins of Our Ideas of The Sublime and Beautiful hat Edmund Burke 1757 versucht, die Begriffe sublime und beautiful zu definieren. Sein Buch hatte großen Einfluß auf Immanuel Kant, und es ist vielleicht auch für den Beginn der Romantik verantwortlich. Das stand hier schon 2010 in dem Post Ästhetik. William Wordsworth hat Burkes Werk gekannt, und er hat selbst etwas zum Thema Sublime and Beautiful geschrieben. Die Schönheit ist bei Dichtern gut aufgehoben. In seinem Gedicht Composed Upon Westminster Bridge, September 3, 1802 schreibt Wordsworth:

Earth has not anything to show more fair:
Dull would he be of soul who could pass by
A sight so touching in its majesty;
This City now doth, like a garment, wear
The beauty of the morning; silent, bare,
Ships, towers, domes, theatres, and temples lie
Open unto the fields, and to the sky;
All bright and glittering in the smokeless air.
Never did sun more beautifully steep
In his first splendour, valley, rock, or hill;
Ne'er saw I, never felt, a calm so deep!
The river glideth at his own sweet will:
Dear God! the very houses seem asleep;
And all that mighty heart is lying still!

Ein Gedicht über die Schönheit eines Augenblicks. Das Gedicht ist hier schon in dem Post Touristen erwähnt worden, weil die Wirklichkeit Londons im Jahre 1802 vielleicht nicht so schön war wie das Gedicht. Die Dichter der Romantik entdecken jetzt, und da ist Wordsworth mit seinen Daffodils immer ein schönes Beispiel, die Natur und die Schönheit der Natur. Und die Wörter beauty und beautiful häufen sich in ihren Gedichten, a thing of beauty is a joy forever

Nicht nur die englischen Dichter entdecken die Schönheit der Natur. Ich zitiere einmal den Anfang des Gedichts The Prairies von dem Amerikaner William Cullen Bryant:

These are the gardens of the Desert, these
The unshorn fields, boundless and beautiful,
For which the speech of England has no name--
The Prairies. I behold them for the first,
And my heart swells, while the dilated sight
Takes in the encircling vastness. Lo! they stretch
In airy undulations, far away,
As if the ocean, in his gentlest swell,
Stood still, with all his rounded billows fixed,
And motionless for ever.--Motionless?--
No--they are all unchained again. The clouds
Sweep over with their shadows, and, beneath,
The surface rolls and fluctuates to the eye;

Am Ende des 19. Jahrhunderts schreibt Katharine Lee Bates das patriotische Lied America the Beautiful:

O beautiful for spacious skies,
For amber waves of grain,
For purple mountain majesties
Above the fruited plain!
America! America!
God shed His grace on thee
And crown thy good with brotherhood
From sea to shining sea!

Es ist ein Gedicht, das zu einer heimlichen Nationalhymne wird, bevor der Kongress 1931 beschliesst, dass The Star-Spangled Banner die Nationalhymne sein soll. Das Lied wird heute immer noch gesungen, und viele Sänger haben es gesungen. Auch Frankieboy Sinatra hatte es im Programm. Die peinlichste Version ist von dem republikanischen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney, das habe ich schon in dem Post I hear America Singing erwähnt.

Ich bin auf das Wort beautiful gekommen, weil es, seit Donald Trump in unseren Leben ist, eine Inflation des Wortes (ähnlich wie bei dem Wort awesome) gibt. Sein neues Steuergesetz wurde als One Big Beautiful Bill Act vorgestellt. Ich glaube, die Amerikaner werden noch merken, dass die Gedichtszeile von John Keats a thing of beauty is a joy forever auf dieses Gesetz nicht zutrifft. Das beautiful scheint ein Lieblingswort von Donald Trump zu sein, in seiner Rede vor den Vereinten Nationen gebraucht er das Wort zwölfmal. Alles wird bei Trump beautiful, sogar die Zölle: I always say 'tariffs' is the most beautiful word to me in the dictionary. Because tariffs are going to make us rich as hell. It's going to bring our country's businesses back that left us. Und natürlich sind die USA bei ihm immer beautiful: We need to bring back religion to America, we want to bring God back into our beautiful USA like never before. Die Schönheit des Landes liegt ihm am Herzen, deshalb hat er vor vier Wochen einen Erlass herausgegeben, der Making federal architecture beautiful again heißt.

Ich bin nicht der einzige, dem die übermäßige Verwendung des Wortes beautiful durch Donald Trump aufgefallen ist. Auf der Seite Quora beantworteten die Leser die Frage Why does Trump use the adjective "beautiful" so much? damit, dass Donald Trump ein nur sehr begrenztes Vokabular des Englischen besitzt. Sprachwissenschaftler versichern uns, dass er den Wortschatz eines neunjährigen Kindes hat. Er liebt Wörter, die nicht mehr als zwei Silben haben. Linguisten würden das einen restringierten Code nennen. Verglichen mit anderen Präsidenten landet Trump beim Flesch-Kincaid Grade Level Test auf dem letzten Platz. Er kann wahrscheinlich nicht einmal richtig lesen, viele seiner (inzwischen gefeuerten) Mitarbeiter haben gesagt, dass er ein funktionaler Analphabet ist. Als er bei einer Veranstaltung des Kongresses im Jahre 2017 zusammen mit Senatoren und ehemaligen Präsidenten eine Seite aus der Declaration of Independence vorlesen sollte, hatte der Mann, der sich in biblischer Sprache als der Auserwählte (I am the chosen one) bezeichnet hat, große Schwierigkeiten: It’s very hard to get through that whole thing without a stumble. It’s like a different language, right?

Im Magazin Politico können wir lesen: In 2017, for example, in the span of one month, at different public appearances, he described 35 separate things and people as “beautiful.” In his hands, “beautiful” is an amazingly adaptable adjective, wielded as both a compliment — and an insult. Take last month’s live-streamed interview with Elon Musk, when Trump had this to say about his Democratic opponent, Vice President Kamala Harris: “She’s a beautiful woman, so we’ll leave it at that.” Wenn Sie dort weiterlesen, können Sie alles finden, was Donald Trump als beautiful bezeichnet. Wenn Sie es etwas einfacher haben wollen, dann schauen Sie sich dieses Video an. Man muss die zweieinhalb Minuten einmal gesehen haben, dann weiß man, dass das Wort beautiful nichts, aber auch gar nichts, mehr bedeutet.

Was bleibet aber, stiften die Dichter, sagt Hölderlin. Und bei den Dichtern wird beautiful bleiben. Von Donald Trump wird wenig bleiben, er kann reden, was er will.

Samstag, 20. September 2025

Krieg und Frieden: Verfilmungen

Als ich den Post Borodino schrieb, habe ich Teile von Tolstois Krieg und Frieden noch einmal gelesen. Danach habe ich den Schuber der zweibändigen dtv-Ausgabe mit Tesa verklebt, er hatte in den letzten drei Jahren doch etwas gelitten. Es war ein Fehler, die Paperback Ausgabe zu kaufen, aber ich musste ja unbedingt die preisgünstigste Übersetzung von Barbara Conrad haben. Der zweite Band war bei der Lektüre mehr beansprucht worden als der erste, das liegt daran, dass da noch hundert Seiten Nachwort, Verzeichnis der historischen Akteure, Personen des Romans und Anmerkungen drin sind. So etwas lese ich immer zuerst, das ist eine déformation professionnelle. Mit der Übersetzung von Barbara Conrad liegt seit 2011 wohl die beste deutsche Übersetzung des Romans vor. Die schlechteste möchte ich an dieser Stelle nicht unterschlagen. Die hat den Untertitel Aus dem Russischen übertragen und zeitgemäß bearbeitet und hat eine Länge von 752 Seiten. In der Übersetzung von Barbara Conrad hat der Roman 2.228 Seiten. Die Frau, die dieses zeitgemäß bearbeitete Machwerk auf dem Gewissen hat, heißt Hertha Lorenz. In dem Post Anna Karenina: Übersetzungen (der schon mehr als 5.000 Leser hat) wird einiges über ihre Übersetzungen gesagt.

Ein oben und unten der Qualität findet sich auch bei den Verfilmungen von Tolstois Roman, die es seit über hundert Jahren gegeben hat. Hier können wir Napoleon Bonaparte sehen, der gerade mit einer Generalstabskarte plant, Russland zu überfallen. Das Bild stammt aus Wladimir Gardins Film Война и мир aus dem Jahre 1915. 

Von diesem Pionier des russischen Kinos gibt es eine Vielzahl von Filmen und Filmchen im Internet zu sehen, leider sind seine Filme Anna Karenina und Krieg und Frieden nicht dabei. Wir wissen aber, dass Pierre Besuchow im Jahre 1915 so ausgesehen hat wie der bebrillte Herr links. Wenn Sie einmal sehen wollen, was dieser Regisseur künstlerisch alles konnte, empfehle ich Ihnen den Film Ein Gespenst geht um in Europa. Hat nichts mit Karl Marx zu tun.

Die nächste Verfilmung von Krieg und Frieden kam 1956 aus Hollywood. Es war die Geschichte von einem Mädchen, das einen Typ liebt und einen dritten heiratet, wie  Daniel Pennac das so schön in seinem Buch Comme Un Roman gesagt hat. Ein glamouröses Starvehikel für drei Schauspieler. Ein Muss für Fans von Audrey Hepburn (und Anita Ekberg), viel mehr auch nicht. Wenn Sie noch einmal in den Film hineinschauen möchten, ich habe Krieg und Frieden hier in ganzer Länge. Hollis Alpert schrieb im Saturday Review in seiner Rezension Tolstoy in VistaVision: it is only intermittently interesting and that aside from making a sort of pictorial sour-mash of the original work it is not particularly good movie-making.

Die dritte Verfilmung kam zehn Jahre später, ein →Monumentalfilm in vier Teilen, der insgesamt 432 Minuten lang war. Und vielleicht der teuerste Film aller Zeiten war. Geld spielte bei den Dreharbeiten keine Rolle, der russische Staat wollte Hollywood nicht dieses Thema überlassen. Ein überwältigend einzigartiger Film. Das größte Epos aller Zeiten. Etwas Vergleichbares werdet ihr nie wieder sehen, schrieb der Filmkritiker Roger Ebert. In der Welt konnte man 1968 lesen: Akribische Detailfreudigkeit, die malerische Behandlung und farbige Delikatesse eines sorgfältigen abgestuften Kolorits, die ruhige Schönheit großflächiger Landschaftsaufnahmen, die exzellente Kameraführung, die zuweilen mit einer optischen Kühnheit operiert, wie man sie bisher noch nie in Filmen dieses Genres gesehen hatte. Aber der Film brauchte lange, um wirklich bekannt zu werden. Die Mosfilm besaß nicht Hollywoods Vertriebssystem, um außerhalb des Ostblocks einen Film erfolgreich in die Kinos zu bringen. Selbst wenn der Film einen Oscar als bester ausländischer Film bekommen hatte. Aber in der DDR fand Krieg und Frieden 2.225.649 Zuschauer.

Der Film, der in jahrelanger ✺Arbeit entstanden war (der dritte und der vierte Teil des Films hatten erst 1967 Premiere), blieb im Westen erst einmal ein Geheimtip für Cinéasten. Das änderte sich aber, als er im westdeutschen Fernsehen gesendet wurde und zwei verschiedene Versionen des Films als DVDs auf den Markt kamen. 2006 erschien bei einer Firma namens Icestorm Entertainment der Film in der DEFA Synchronisation, aber ohne russische Originaltonspur. Die gab es erst 2021 bei der überarbeiteten Version der Firma Bildstörung.

Der Regisseur Sergei Bondartschuk, der selbst die Rolle des Pierre Besuchow übernahm, hatte keine Audrey Hepburn. Seine Natascha hieß Lyudmila Savelyeva, sie kam vom Sankt Petersburger Ballett und hatte noch nie vor der Kamera gestanden. Und doch war sie im Film überzeugend. Und sie konnte natürlich gut tanzen, dafür widmete ihr Bondartschuk eine große Szene. Sie können das alles überprüfen, ich habe den ganzen Film hier in vier Teilen in HD-Qualität.

Eine Division russischer Soldaten wirkte als Komparsen mit und spielte französische und russische Soldaten. Beinahe zweitausend Textilfabriken nähten Kostüme und Uniformen. Da sich die Uniformen der russischen Armee zwischen der Schlacht von Austerlitz und der Schlacht von Borodino geändert hatten, mussten manche Komparsen (das betraf vor allem die Offiziere) zweimal eingekleidet werden. Bei den Dreharbeiten zur Schlacht von Borodino hatte Bondartschuk seinen ersten Herzanfall und musste wiederbelebt werden. Auch den zweiten Herzanfall während der Dreharbeiten überlebte er und drehte vier Jahre später Waterloo. Mit einem Staraufgebot, aber ohne die künstlerische Brillanz und der optischen Kühnheit von Krieg und Frieden. Wenn es in diesem Film wirklich gute Kameraeinstellungen gab, dann waren das Wiederholungen aus Война и мир.

Bondartschuk hat das Drehbuch zu Krieg und Frieden selbst geschrieben. Und obwohl er beinahe sieben Stunden zur Verfügung hat, streicht er viel von Tolstois Text. Manches fordert im Roman geradezu heraus, gestrichen zu werden: die langen Passagen, die von Pierre Besuchows Karriere bei den Freimaurern erzählen, fielen als erstes dem Rotstift zum Opfer. Ich habe sie zwar knurrend gelesen, hätte sie aber schon beim Lesen gerne gestrichen. Auf irgendetwas muss man immer verzichten, es gibt bei Literaturverfilmungen keine 1:1 Kopien.

1972 kam Tolstois Roman →Krieg und Frieden als 20-teiliger Fernsehfilm von der BBC. Das Drehbuch schrieb →Jack Pulman, der für die BBC schon die Drehbücher für I, Claudius, The Portrait of a Lady, Jane Eyre, Crime and Punishment und David Copperfield geschrieben hatte. Man muss ihm lassen, dass er wirklich etwas von seinem Handwerk verstand, das war nicht bei allen Drehbuchautoren von Krieg und Frieden Verfilmungen der Fall. Anthony Hopkins spielte den Pierre Besuchow und Morag Hood war Natascha. Ich kann mich noch gut an den Film erinnern, denn ich habe beinahe alle Episoden im Fernsehen gesehen, da ARD und die Dritten Programme die Folgen sendeten. Es war für mich allerdings ein Schwarzweißfilm, da ich keinen Farbfernseher besaß. 

Und obgleich ich den Roman immer noch nicht gelesen hatte, ahnte ich damals, dass dies eine der textgetreuesten Literaturverfilmungen war. Der Filmwissenschaftler James Monaco bezeichnete die BBC Serie in seinem Buch How to Read a Film summarisch als easily the best adaption of that classic in any medium. Und er sagt das am Anfang seines Buches noch etwas genauer: Of all the screen versions of 'War and Peace', for example, the most successful seems to me to have been the BBC's twenty-part serialization of the early 1970s; not necessarily because the acting or direction was better than the two- or six-hour film versions (although that is arguable), but only the serial could reproduce the essential quality of the saga - duration. 

Nach beinahe einem halben Jahrhundert sind jetzt alle Teile der BBC Serie im Netz zu sehen (seit 2005 gibt es die Serie als DVD). Wenn Sie den ersten Teil hier anklicken, bekommen Sie die ersten vier Episoden. Und auf der Seite können Sie auch noch die Links zu den Episoden fünf bis zwanzig anklicken. Die Fernsehserie hält sich ziemlich genau an den Roman. Wenn man Ende, vor dem Epilog (ab 2:00:00), der Zar den knienden Kutusow aufhebt, ihn auf die Wangen küsst und ihm den Georgsorden verleiht, dann steht das etwas anders im Buch: Am anderen Tage fand beim Feldmarschall ein Diner und Ball statt, an welchem der Kaiser teilnahm. Kutusow erhielt den Georgenorden erster Klasse, und der Kaiser erwies ihm hohe Ehren, aber alle wußten, daß der Kaiser mit dem Feldmarschall unzufrieden war. Als Kutusow auf dem Ball nach alter Gewohnheit aus der Zeit Katharinas beim Eintritt des Kaisers in den großen Saal ihm die eroberten Fahnen zu Füßen legen ließ, verfinsterte sich die Miene des Kaisers, und einige hörten seine Bemerkung: 'Alter Komödiant!' 

Das sagt er im Film nicht, aber in der nächsten Szene wird das überdeutlich ins Bild gebracht, was im Roman steht: Die Unzufriedenheit des Kaisers mit Kutusow stieg in Wilna besonders deshalb, weil Kutusow die Bedeutung des bevorstehenden Feldzugs nicht begreifen konnte oder wollte. Als der Kaiser am folgenden Morgen den um ihn versammelten Offizieren sagte: »Sie haben nicht nur Rußland, sondern auch Europa gerettet«, begriffen alle, daß der Krieg noch nicht zu Ende sei. Nur Kutusow wollte das nicht begreifen und sprach offen seine Meinung aus, der neue Krieg könne Rußland keinen Vorteil bringen und seinen Ruhm nicht erhöhen. Er versuchte, dem Kaiser die Unmöglichkeit zu beweisen, neue Truppen auszuheben, und sprach von dem schweren Druck, der auf dem Volk laste, von der Möglichkeit eines Mißerfolgs und so weiter. Um den Alten zu schonen, übernahm der Kaiser selbst den Oberbefehl. Einige Veränderungen fanden im Generalstab statt.

Die 400-minütige Fernsehfassung des ZDF, die ich schon in dem Post Krieg und Frieden erwähnte, lasse ich lieber weg. Der Spiegel wusste damals zu sagen: Sie [die Schauspieler] alle aber können nicht überspielen, dass Tolstois Gefühlswirren vor historischem Hintergrund im wohltemperierten Euro-TV-Format doch ab und an nach Rosamunde Pilcher aussehen ... Wer die ganze dramatische Wucht des ausladenden Epos ermessen und in die viel beschworene Seele 'des heiligen Mütterchens Russland' blicken will, der muss wohl weiter auf die monumentale Kinoversion von Sergej Bondartschuk zurückgreifen – oder eben den Roman zur Hand nehmen. Der Film kostet bei Amazon als DVD 4,76€, der Preis sagt schon viel über die Qualität.

Aus irgendeinem unerfindlichen Grund muss Krieg und Frieden immer wieder neu verfilmt werden. Die neueste Fernsehversion kam 2016 von der BBC in Zusammenarbeit mit The Weinstein Company. Dazu könnte man strange bedfellows sagen, denn diese Gesellschaft gehörte niemand anderem als Harvey Weinstein. Der Drehbuchautor Andrew Davies hatte vorher die Drehbücher für zwei Bridget Jones Filme und die schlechteste Version von The Three Musketeers geschrieben. Es wird immer Leute geben, die sagen, dass man an der Vorlage kein einziges Wort verändern dürfe. Ich glaube aber: Wenn Tolstoi meine Fassung lesen könnte, dann würde er sagen, dass man das sogar noch kürzer hätte machen können, hat Davies gesagt. Ich glaube, dass Tolstoi etwas ganz anderes gesagt hätte. 

Mehr Frieden als Krieg betitelte die Süddeutsche ihre Besprechung der sechsteiligen Serie, die in ihrer Länge an Bondartschuks Film herankam. Aber künstlerisch und filmisch nicht das zu bieten hatte, was Bondartschuk mit optischer Kühnheit bot. Oder etwas, was Karen Schachnasarow mit seiner Version von ✺Anna Karenina 2017 mit Elizaveta Boyarskaya als Anna Karenina zeigte. Sie können hier die erste Folge der ersten Staffel von War and Peace sehen (alle anderen Folgen sind auch bei Dailymotion), immer wieder unterbrochen durch Werbespots. Das fällt nicht weiter auf, weil der Film auch die Ästhetik des Werbespots und der Soap Opera hat. Bei Amazon bekommt man das Ganze für 13 Euro ohne Werbespots. I’m hoping viewers will fall in love with War & Peace in the same way that I did, hat der Drehbuchautor in einem Interview gesagt. Dort kann man auch lesen: Occasionally I have written one or two things that Tolstoy forgot to write

Das Ganze wirkt manchmal wie eine Jane Austen Verfilmung, was wohl kein Zufall ist, denn mit Pride and Prejudice hatte Davies 1995 den größten Erfolg seiner Karriere. Ich habe mir einige Folgen angesehen und weiß jetzt, dass Pierre Besuchow aussieht wie Harry Potter, und Natascha vorher Disneys Cinderella war. Und dass Chief Superintendent Jean Innocent aus der Lewis Saga jetzt die intrigante Fürstin Anna Mikhaylovna Drubetskaya ist. Aber vierhundert Minuten von dem Film, der sicherlich auch zeitgemäß bearbeitet ist, könnte ich mir nicht antun. Dann lieber den Westernhelden Henry Fonda als Pierre Besuchow und die Rehaugen von Audrey Hepburn.