Freitag, 28. Februar 2025

Relax, Baby, bloß keinen Stress


Am 28. Februar 1533 wurde Michel Eyquem auf dem Schloss Montaigne geboren. Er hat dieses de Montaigne seinem Familiennamen Eyquem hinzugefügt und dazu gesagt: Quel remede? c'est le lieu de ma naissance, et de la plus part de mes ancestres: ils y ont mis leur affection et leur nom. Das steht in dem Essay Über die Eitelkeit. Montaigne weiß aber, dass es nicht ganz stimmt, dass all seine Vorfahren hier geboren wurden. Sein Urgroßvater Ramon Eyquem, Fisch- und Weinhändler aus Bordeaux, hatte das Anwesen gekauft. Sein Vater war der erste Seigneur de Montaigne, der hier wohnte. Man spricht das Wort heute mit dem kleinen i aus, zu Montaignes Zeit war es noch ein schlichtes Montagne, wie Dalida das singt. Michel de Montaigne war schon häufig in diesem Blog, schon dreimal an seinem Geburtstag, dem 28. Februar. Das sind die Posts Montaigne, Michel de Montaigne und Fremde Federn. Und in über vierzig anderen Posts wird er erwähnt.

Die Übersetzung der Essais durch Hans Stilett ist dort auch schon gerühmt worden. Ein Literaturkritiker namens Harald Schmidt, den wir heute nicht mehr so häufig im Fernsehen sehen, schrieb dazu 1998 im Focus: Unsereins hat das Buch zum Beispiel gekauft, weil es so geil aussieht und sich so toll anfühlt, und plötzlich fängt man an drin rumzulesen und findet amtliche Äußerungen zu wirklich jedem Thema. Nach den ersten Lesestunden (…) lässt sich Montaigne schon mal für alle zukünftigen Fans so weit vereinfachen: ‚Relax, Baby, Deine Zeit ist begrenzt, bloß keinen Stress, shit happens.‘ Irgendwie beruhigend, weil schon um 1580 erkannt.

Die Frage, die ich mir in diesen Tagen stellte, da Donald Trump Amerika demontiert, war: Hat uns Montaigne in der Zeit von Donald Trump noch etwas zu sagen? Bei LinkedIn fand ich unter der Überschrift Donald Trump should read Montaigne die Sätze: An ethical reflection and way of thinking involves the ability to take the distance from our own standards, laws and prejudices. It allows us to evaluate fairly the facts and our vision of the world with some distance and self-irony. It is an attitude that Montaigne, French writer and philosopher, perfectly incarnated and explained in his work. His way of living and thinking leads at the opposite of all forms of chauvinism and fanaticism. Maybe we should send Montaigne’s complete works to Donal Trump as “food for thoughts”??

Es hat wohl keinen Sinn, Trump die Werke Montaignes zuzuschicken. Er kann wahrscheinlich nicht einmal richtig lesen. Viele seiner inzwischen gefeuerten Mitarbeiter haben gesagt, dass er ein funktionaler Analphabet ist. Sprachwissenschaftler versichern uns, dass er den Wortschatz eines neunjährigen Kindes hat. Er liebt Wörter, die nicht mehr als zwei Silben haben. Als er bei einer Veranstaltung des Kongresses im Jahre 2017 zusammen mit Senatoren und ehemaligen Präsidenten eine Seite aus der Declaration of Independence vorlesen sollte, hatte der Mann, der sich in biblischer Sprache als der Auserwählte (I am the chosen one) bezeichnet hat, große Schwierigkeiten: It’s very hard to get through that whole thing without a stumble. It’s like a different language, right?

Ich fand in den Weiten des Internets zum Thema Montaigne-Trump noch etwas Interessanteres als die Sätze bei LinkedIn. Und das war der Artikel →Montaigne in the Age of Trump von dem Amerikaner David Gessner in dem Magazin Ecotone. Gessner hatte das Experiment gemacht, mit der Lektüre von Montaigne gegen Trump zu leben. Der Harvard Absolvent Gessner, Schriftsteller und Literaturprofessor, schreibt über die Natur, und er hat viel darüber zu sagen. Nach Thoreau, Wallace Stegner und Edward Abbey ist er der vielleicht einer der wichtigsten amerikanischen Schriftsteller, der über die Natur schreibt (Sie können dazu mehr in diesem →Interview lesen). Edward Abbey wird hier schon in den Posts Somewhere West of Laramie und Spätwestern erwähnt (der erste Post hat über 12.000 Leser, der zweite die Hälfte davon). 

Auf die Frage eines Journalisten Did any other particular writer(s) inspire you? Who are your influences? antwortete Gessner: Well, I think if you look at what I call my literary family tree, you can see where certain things in my work came from. The most obvious influence is Thoreau. Not long ago I went to Walden Pond with my then six-year-old daughter and my wife, who pointed at where Thoreau’s cabin had been and said, “That’s where the house of the man who ruined daddy’s life was.” In other words, I think she was saying that Thoreau sent me in the direction of nature, nature writing, and non-conformity. Thoreau ist für mich ein schlechter Gewährsmann für den Umgang mit der Natur. Bei aller Verherrlichung des Buches Walden muss man auch sagen, dass Thoreau einmal leichtfertig einen Wald angezündet und nicht bei den Löscharbeiten geholfen hat. Mir ist da James Fenimore Cooper lieber, der in The Pioneers sehr viel über den Beginn der Vernichtung der amerikanischen Natur zu sagen hat. Die letzte der Wandertauben, die er 1823 in seinem Roman beschreibt, ist 1914 im Zoo von Cincinnati gestorben.

Gessner hatte sich aus Montaignes Werk die Sätze Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten, ganz für uns, ganz ungestört, um aus dieser Abgeschiedenheit  unseren wichtigsten Zufluchtsort zu machen, unsere wahre Freistatt. Hier gilt es, den alltäglichen Umgang mit uns selbst zu pflegen ... indem wir mit uns Zwiesprache halten genommen. Die Sätze stehen in dem Kapitel Über die Einsamkeit. Im Original des Kapitels De la Solitude (das schon in The cure for loneliness is solitude erwähnt wird), heißt das Hinterstübchen arriereboutique. Das fand ich ein witziges Wort, als ich das zum ersten Mal las. Im ersten Amtsjahr von Donald Trump sucht Gessner immer wieder Zuflucht in seiner Hütte in der Marsch am Hewletts Creek in North Carolina, wo er seine alte Paperback Ausgabe der The Complete Essays of Montaigne in der Übersetzung von Donald Frame wieder und wieder liest (ich habe hier für Sie Donald Frames Montaigne Übersetzung im Volltext, falls Sie das lesen wollen). Die Hütte in der Marsch ist jetzt Gessners arriereboutique, draußen ist Donald Trump. Was der mit der Umwelt macht, das wissen wir, das können wir in einem langen Wikipedia Artikel nachlesen.

Wenn Montaigne über die Ruhe und die Gelassenheit schreibt, dann ist er in seiner arriereboutique, seinem Turmzimmer mit den tausend Büchern. Wo man in lateinischer Sprache lesen konnte: Im Jahre des Heils 1571, im 38. Lebensjahr, am 28. Februar, seinem Geburtstag, hat sich Michel de Montaigne, schon lange müde des Dienstes bei Gericht und in öffentlichen Ämtern, in voller Manneskraft in den Schoß der gelehrten Jungfrauen zurückgezogen, um in Ruhe und aller Sorgen ledig, wenn es das Schicksal ihm vergönnt, den kleinen Rest seines schon zum großen Teil verflossenen Lebens zu vollenden; er hat diese Stätte, diesen teuren von seinen Ahnen ererbten Zufluchtsort, seiner Freiheit, seiner Ruhe und seiner Muße geweiht.

Sarah Bakewelles schöne Montaigne Biographie, die schon in dem Post Montaigne en allemand gewürdigt wird, endet mit den Sätzen: The twenty-first century has everything to gain from a Montaignean sense of life, and, in its most troubled moments so far, it has been sorely in need of a Montaignean politics. It could use his sense of moderation, his love of sociability and courtesy, his suspension of judgement, and his subtle understanding of the psychological mechanisms involved in confrontation and conflict.

Montaigne wird nicht für immer in der arriereboutique bleiben, in die er sich am 28. Februar 1571 begeben hat. Neun Jahre später hat er den ersten und den zweiten Band der Essais fertig und begibt sich auf eine Reise nach Deutschland und Italien. Worüber er sein Tagebuch einer Baderreise schreiben wird. Es gibt die Badereise seit 2013 in einer neuen Übersetzung von Hans Stilett. Ich besitze die alte Übersetzung von Otto Flake aus dem Jahre 1908, die von Irma Bühler 1963 durchgesehen wurde, weil es inzwischen eine Montaigne Gesamtausgabe gab, die Flake 1908 noch nicht kannte. Als Montaigne in sein kleines Schloss zurückkommt, findet er dort einen Brief des Königs, der ihn unterwegs hätte erreichen sollen: Herr von Montaigne! Da ich Sie für Ihre höchste Treue und Ergebenheit in meinem Dienste hoch schätze, habe ich mit großer Freude vernommen, dass man Sie zum mayor meiner Stadt Bordeaux gewählt hat, und ich habe dieser Wahl mit um so größerer Freude zugestimmt, als sie ohne Ränkespiel und trotz Ihrer langen Abwesenheit getroffen wurde. Aus diesem Grund befehlige ich Ihnen und fordere Sie hiermit ausdrücklich auf, nach Erhalt des Briefes sofort und unverzüglich zurückzukehren, Ihrer Pflicht nachzukommen und Ihr Amt anzutreten. Das Gegenteil würde ich mit großem Missfallen zur Kenntnis nehmen. Gebe Gott, dass Sie verehrter Herr von Montaigne, bei guter Gesundheit sind. Heinrich.

Nun ist er Bürgermeister von Bordeaux, er wird noch ein zweites Mal gewählt werden. Aber er hat seine Freistatt in seinem Schloss, die sechzig Kilometer kann der gute Reiter Montaigne im Schlaf reiten. Und er weiß auch: Der Bürgermeister von Bordeaux und Montaigne, das waren immer zwei – klar und säuberlich voneinander geschieden. Sein Leben war nicht immer ruhig, er lebt in der Zeit der Religionskriege: Ich lebe in einer Zeit, in der, wie es in wilden Bürgerkriegen nun einmal ist, Beispiele kaum glaublicher Grausamkeit sich häufen. Fälle, die schlimmer sind als die furchtbarsten Berichte aus der Antike, sind heute etwas Alltägliches. Trotzdem habe ich mich durchaus nicht damit abgefunden. Ehe ich es gesehen habe, habe ich mir gar nicht denken können, daß Menschen so barbarisch sein sollten, aus bloßer Mordlust einen Mitmenschen zu töten, ihm Glieder abzuhacken, mit allem Scharfsinn unbekannte Qualen und neue Todesarten auszudenken, und zwar nicht etwa aus Haß oder Profitgier, sondern nur zu dem Zweck, sich an dem Schauspiel eines Menschen in Todesnot zu weiden, an seinen Schmerzensgesten und an seinem Stöhnen und Schreien. Das ist doch offenbar die Höhe der Grausamkeit, daß ein Mensch seinen Mitmenschen tötet nicht aus Zorn, nicht aus Angst, nur weil er ihn sterben sehen will. Der Mensch hat, fürchte ich, von der Natur selbst etwas wie einen Instinkt zur Unmenschlichkeit mitbekommen. 

Als Bürgermeister von Bordeaux war Montaigne bemüht, zwischen Reformierten und Katholiken zu vermitteln. Ralph Waldo Emerson, der ein begeisterter Montaigne Leser war, hat geschrieben: In the civil wars of the League, which converted every house into a fort, Montaigne kept his gates open, and his house without defense. All parties freely came and went, his courage and honor being universally esteemed. Es wird Montaigne gelingen, die Stadt Bordeaux aus dem Krieg herauszuhalten. 1564 hat er vier Tage lang den zukünftigen König Heinrich von Navarra zu Gast. Der darf im Bett des Hausherrn schlafen und die beiden Herren gehen zusammen zur Hirschjagd. Während des Hugenottenkrieges versucht Montaigne zwischen Heinrich von Navarra und Heinrich III zu vermitteln. Beide werden ihn zum gentilhomme ordinaire de la Chambre du Roi ernennen. Beide halten ihn für einen ehrlichen Mann. Über Donald Trump würde das niemand sagen.

Zur Zeit Montaignes gibt es kein Internet und keine sozialen Medien. Es gibt Bücher, Briefe und Flugblätter. Durchziehende Händler, Wanderprediger, Pilger, Wandertruppen von Schauspielern und Spielleuten verbreiten Neuigkeiten, Nachrichten, Gerüchte, Halbwahrheiten und Falschmeldungen. Fake News gibt es nicht erst seit Donald Trump, die gibt es schon im Mittelalter. Der Satz auf dem Schild des Bremer Rolands vryheit do ik ju openbar / d’ karl vnd mēnich vorst vorwar / desser stede ghegheuen hat / des danket god’ is mī radt ist auch Fake News; die Reichsfreiheit hat Bremen nicht durch Karl den Großen bekommen. 

Montaigne hält zum Thema der Lüge für uns das Bonmot bereit: Die Lüge ist ein Winkelgang, von dem man durch eine Hintertreppe zur Wahrheit gelangen kann. Aber er sagt es auch schärfer: Das Lügen ist tatsächlich ein verfluchtes Laster: nur durch das Wort werden wir zum Menschen, nur durch das Wort stehen wir miteinander in Verbindung. Wenn wir uns bewußt würden, was für eine scheußliche und ernste Sache das Lügen ist, würden wir mit Feuer und Schwert dagegen vorgehen, mit mehr Recht als gegen andere Untaten. Montaigne mißtraut den Rhetorikern die alles schönreden können.

Und damit können wir jetzt wieder auf Donald Trump zurückkommen. Dessen Einfluss mit all seinen Lügen kann auch David Gessner in seiner arriereboutique nicht entkommen: Wenn ich dann das genaue Gegenteil dieses Gefühls erleben möchte, kann ich die 'Essays' schließen, die Hütte verlassen, über den Rasen zum Haus gehen und die Nachrichten im Kabelfernsehen einschalten, um zu sehen, was unser Präsident so treibt. Trumps Gabe, so scheint es mir, ist eine Art Aufdringlichkeit, die Fähigkeit, sich an unseren Abwehrmechanismen vorbei in unsere Psyche vorzuarbeiten. Wenn Montaigne einen abgeschiedenen Ort, einen privaten Ort schafft, dann besteht Trumps große Fähigkeit darin, in diesen privaten Ort einzubrechen, ihn zu plündern und ihn so öffentlich zu machen. Was er schafft, oder vielmehr, was wir uns selbst geschaffen haben, indem wir ihn hereingelassen haben, ist ein fast ständiger Zustand des Unbehagens. Wenn man sagen kann, dass ängstliche Gedanken neugierig sind, dann ist er ein menschliches Brecheisen. Und nach einer Weile wollen wir, dass er neugierig ist. Wir haben uns daran gewöhnt, wir sind süchtig danach. Tatsächlich ist Trump eine fast perfekte Verkörperung der Art und Weise, wie wir heute kommunizieren – seines gewählten Mediums Twitter natürlich, aber auch aller sozialen Medien und E-Mails und SMS und des Rests. Denken Sie daran, wie wir früher einmal am Tag Post bekamen, oder besser noch, wie wir als Kinder im Ferienlager Post bekamen, die Aufregung, die Vorfreude. Heute bekommen wir jede Minute, jede Sekunde Post, so scheint es, und leben in einem verrückten Zustand am Rande der Erwartung. 

So ist es auch mit unserem täglichen, stündlichen Trump-Fixation. Es kann nicht noch ungeheuerlicher werden, sagen wir uns, noch ärgerlicher, noch bizarrer. Und doch wird es das. Aber seltsamerweise hungern wir danach, nicht unähnlich unserem Hunger nach sozialen Medien und E-Mails selbst. Wir wollen mehr, wir brauchen mehr, unsere Gedanken sind immer woanders. Die Worte „Eilmeldungen“ laufen am unteren Rand unserer Gedankenbildschirme. Wir wollen unbedingt wissen, was er jetzt getan hat, was es Neues gibt. In deprimierenden Momenten bei der Arbeit google ich „Trump-News“ und gehe dann zu den Tools und füge „Letzte Stunde“ hinzu. Während Montaigne mich in die Gedankenwelt von Jahrhunderten versetzt, denke ich hier an Minuten, sogar Sekunden. Es bleibt keine Zeit zum Grübeln, Lesen, Verarbeiten, gründlichen Nachdenken.

Das ist nun ein bisschen lang geworden (ich habe es Google Translate übersetzen lassen), aber es beschreibt perfekt die conditio humana, in der wir uns mit dem Überangebot von Nachrichten von Donald Trump befinden. Es gibt nur einen Ausweg: niemals mehr die Namen Trump und Musk bei Google eingeben, niemals etwas auf X lesen, immer Montaigne lesen. Und natürlich diesen Blog lesen. 

Dienstag, 25. Februar 2025

ganz kurz


Das wird heute mal ganz kurz, ein Geburtstagsgruß für die englische Sängerin Elkie Brooks. Der Post ist so kurz, weil es hier schon lange den Post Elkie Brooks gibt. In den Posts Radio und Manfred Sexauer wird sie auch erwähnt. Jetzt, wo sie achtzig geworden ist, will sie mit dem Singen aufhören. Das Bild hier ist ein Ausschnitt von dem Plakat The Long Farewell Tour, die am Ende des Monats beginnt. Dass sie noch singen kann, das können Sie hier ein Stunde lang sehen. Das war im letzten Jahr ihr Auftritt beim Shrewsbury Folk Festival. Und das Happy Birthday für die Queen of British Blues will ich natürlich nicht vergessen.

Samstag, 22. Februar 2025

eine Woche kein Fernsehen

Sagen wir mal so: ich habe nichts Wichtiges verpasst. Mein digitales Empfangsgerät der Firma Technisat hatte sein Leben ausgehaucht. Der alte Metz Fernseher, den Freunde und Bekannte als Museumsstück bezeichnen, war immer noch heil. Ich dachte mir, dass die Firma, bei der ich beinahe ein halbes Jahrhundert Kunde bin, mir am nächsten Tag einen neuen Technisat bringen würde. Aber nichts da, sie hatten zu viel zu tun. Seit dem 7. Januar 2025 waren die Fernsehprogramme der ARD ausschließlich in HD Qualität verfügbar, und viele Kunden hatten keinen HD Fernseher. So alt mein Metz Röhrengerät ist, HD kann er schon. Als ich den Fernseher kaufte, war er mal state of the art. Ich musste eine Woche warten, bis bei mir jemand mit einem neuen Receiver auftauchte. Nachrichten und Sportschau konnte ich auf dem Computer sehen. Mein Fernseher zeigte mir, da der DVD Player auch gut funktionierte, dann eine Woche lang die besten englischen Krimiserien. Ich fing mit Inspector Lewis an, ging dann zu Chief Inspector Morse und Foyle's War über. Endeavour kam als letztes, weil die Serie nicht so gut wie die anderen ist. Aber unter den drei oder vier DVDs einer Folge gibt es meistens eine gute. Es war ein Fehler von ITV, den Hauptdarsteller Regie führen zu lassen. Lediglich der ✺Pilotfilm ist wirklich überzeugend. Der hat hier mit Prequel auch schon einen Post.


Ich hatte die Filme natürlich alle schon gesehen, aber eine Woche mit englischen Krimis im Originalton, das war schon eine schöne Sache. Besser als all das, was das deutsche Fernsehen jeden Abend an Krimis bereithält. Und mit den guten englischen Serien tut sich das deutsche Fernsehen schwer. Barnaby gibt es jede Woche, aber die Serie (die auch Angela Merkel guckte) lohnt sich nur, solange John Nettles den Chief Inspector Barnaby spielte. Den Chief Inspector Morse haben wir auf dieser Seite der Mauer nicht kennengelernt, in der DDR ist die Serie 1989 allerdings mit zwei Staffeln unter dem Titel Inspektor Morse, Mordkommission Oxford gelaufen. Dazu schreibt jemand im Internet: Hier in Deutschland werden sowohl das Prequel (Der junge Inspektor Morse) als auch das Quasi-Sequel (Lewis) alle paar Monate gezeigt. Nur das Original enthält man uns hartnäckig vor. Das ist doch absurd. Es ist ein Satz, den man ganz fett setzen sollte. Mit Ausrufezeichen. Eine Serie, die in der ganzen Welt zu sehen war, nur hier nicht. Im Jahr 2000 war die Serie auf Platz 42 der 100 Greatest British Television Programmes des  British Film Institute. Und 2018 nannten die Leser der Radio Times sie the greatest British crime drama of all time.

Das war mit der Serie Foyle's War ähnlich. Zwanzig Jahre, nachdem die Serie in England auf den Bildschirmen erschien, kaufte die ARD die erste Staffel auf. Und das war's dann auch. Man degradierte den Detective Chief Superintendent Foyle zum Inspektor, weil wir uns etwas anderes als einen Kommissar und einen Inspektor nicht vorstellen können. Die acht Staffeln der Serie waren hervorragend, das sind sie nach zwanzig Jahren immer noch. Und damit Sie einen kleinen Eindruck von der Serie bekommen, habe ich heute den ersten Film der ersten Staffel für Sie. Er heißt The German Woman und spielt im Sommer 1940. Sie können bei YouTube Teil 1 und Teil 2 in deutscher Sprache (mit deutschen Untertiteln) sehen. Ist bestimmt bessr als die Krimisendungen heute Abend.

Englische Krimiserien sind bei mir gut aufgehoben. 2010 schrieb ich in dem Post Englische KrimiserienDer Film 'The Blue Lamp' und die daraus resultierende Serie 'Dixon of Dock Green' sind der Schwanengesang in der Verherrlichung des britischen Bobby, die englischen Polizeiserien der sechziger Jahre werden ein realistischeres Bild der englischen Polizei zeigen. Auf langlebige Serien wie Z-CarsSoftly, Softly und die kurzlebige Serie Gideon's Way werde ich in einem anderen Post irgendwann mal eingehen, das wird sonst heute zu lang. Und wenn mich die Energie zum Schreiben nicht verlässt, gibt es dann noch einen dritten Teil über die Inspektoren Morse, Lewis und Barnaby. 

Gut, der letzte Satz stimmt, die Posts sind geschrieben. Aber Z-Cars, Softly, SoftlyThe Sweeney und  Gideon's Way haben leider bisher keinen Post bekommen. Ich habe die alle noch im Kopf, weil der WDR die vor Jahrzehnten mal gezeigt hat. Ich bin damit aufgewachsen. Auch mit Terence Rigby als PC Snow mit seinem Schäferhund. Ich war überrascht, die Verkörperung des guten englischen Polizisten Jahre später in Get Carter als Gangster wiederzusehen.

Englische Krimiserien sind bei mir gut aufgehoben. Das wissen Sie, denn manche der Posts über Morse, Lewis, Barnaby und die anderen police officers haben mehr als fünftausend Leser gefunden. Wo ich die Zahl fünftausend erwähne, sollte ich anmerken, dass ich vorgestern 5.797 Leser hatte. Wahrscheinlich nur, weil ich ein paar Tage nichts geschrieben hatte. Noch mehr zu englischen Krimiserien in den Posts: Englische Krimiserien, Endeavour, Kreuzworträtsel, Inspector Lewis, Inspector Barnaby und die Mode, Foyle's War, Invasion, Inspector Foyle, Inspector Gently, Inspector Foyle, Michael Innes, Janker, Variationen und die Schimanski Jacke.

Sonntag, 16. Februar 2025

Bremen wes bedächtig


Man schnappt Sprüche und Sätze auf, wenn man jung ist. Und behält sie fürs Leben. Was'n in Bremen so sacht un wo ein fein auf hören muß. Der Satz könnte von mir sein, ist aber schon ein Buchtitel. Ich meine jetzt nicht Sätze wie Ischa Freimaak oder Roland mit de spitze Knee, seg mal, deit di dat nich weh? Ich meine Bedeutungsschweres wie Buten un binnen, Wagen un Winnen und diesen Satz, der mit Bremen wes bedächtig anfängt. Den Roland, der hier schon den kulturhistorischen Post Charlemagne hat, lassen wir jetzt mal weg. Beim Freimarkt bekommt der regelmässig ein Lebkuchenherz mit Ischa Freimaak verpasst. Den Satz Buten un binnen, Wagen un Winnen hat der Bürgermeister Otto Gildemeister gedichtet, das steht seit 1899 auf einer Tafel am Schütting, dem Sitz der Kaufmannschaft.

Aber was bedeutet dieser Satz Bremen wes bedechtich, lat nich mer in, du seist ihrer mechtich? Wen soll man nicht in die Stadt lassen? Sind das Zuzugsrechte? Ausländer raus? Der Satz ist alt, ganz alt. Wir müssen einige Jahrhunderte zurückgehen, um ihn zu verstehen. Zurück ins 16. Jahrhundert. Der Satz hat etwas mit Holland zu tun, das 1526 der größte Handelspartner Bremens ist. Aber aus Holland kommen nicht nur Waren in die Hansestadt, aus Holland kommt auch Heinrich von Zütphen, der die Reformation nach Bremen bringt. Nachdem er auf der Durchreise in Bremen eine Predigt gehalten hat, lädt man ihn ein, in Bremen zu bleiben. Man weiß nicht mehr, was er predigte, aber man kennt das Datum: es war der 9. November 1522. Wieder einmal so ein Schicksalstag dieser 9. November. Zütphen zieht nach einiger Zeit weiter und wird in Holstein ermordet. Aber die Reformation ist da und mit ihr die Glaubenskämpfe zwischen Lutheranern und Reformierten, die sich gegenseitig aus der Stadt vertreiben wollen. Es ist wieder ein Holländer namens Albert Rizäus Hardenberg, der Domprediger wird und den Rat spalten wird. Einen Bildersturm haben wir auch gehabt, dafür wird Christoph Pezel sorgen. Der ehemalige Direktor des Focke Museums und Bremer Landesdenkmalpfleger Werner Kloos führt das Kunstbanausentum der Bremer auf den Bildersturm von Pezel zurück: Die Verarmung des bremischen Kunstbesitzes rührt aus jener Zeit, jedoch auch eine gewisse allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber den Werten künstlerischer Aussage.  Zu diesem Thema steht schon viel in dem Post Bremer Klausel. Es ist ein religiöser Kampf, der erbittert geführt wird, Bremen wird deshalb auch aus der Hanse ausgeschlossen. Die Formen, die der Kampf in Münster annahm, wo man die Leichen der Wiedertäufer Jan van Leiden, Bernd Knipperdolling und Bernd Krechting am Turm von St. Lamberti aufhängte, hat er in Bremen aber nicht angenommen.

Der Satz, dass Bremen bedächtig sein soll, steht auf einem Wappenstein aus dem Jahre 1562, den der Bremer Bürgermeister Daniel von Büren, der in Wittenberg bei Martin Luther und Philipp Melanchthon studiert hatte, am Herdentor hat setzen lassen. Es ist ein fremdenfeindlicher Stein.1562 haben die Reformierten gesiegt. Diese Stein sagt auf gehässige Weise den Lutheranern Tschüss. Ein großer Teil der lutherischen Ratsmitglieder, fünf Pfarrer und drei Bürgermeister verließen die Stadt, vermoegende und ansehenliche luide. Durch die diplomatischen Bemühungen von Bürens kommen die vertriebenen Lutheraner 1568 nach Bremen zurück. Sie werden siebzig Jahre später den Dom (dank Friedrich von Dänemark) als Pfarrkirche erhalten, der Rest von Bremen gehört den Reformierten. Bremens Bürgermeister Johan Smidt, hat sich, als er mit Boehlendorff nach Italien reiste, noch schnell in der Schweiz calvinistisch ordinieren lassen. Smidt ist im 19. Jahrhundert immer noch da, wo man im 16. Jahrhundert war. Er hasst die Lutheraner und die Juden und wird es noch schaffen, bis zum Jahre 1830 der lutherischen Domgemeinde den Status einer Gemeinde (inklusive ihres Vermögens und Grundbesitzes) vorzuenthalten. 

Meinen Heimatort Vegesack betraf das alles nicht. Zum dreihundertsten Jahrestag der Reformation am 31. Oktober 1817 schlossen sich da Reformierte und Lutheraner nach preußischem Vorbild zu einer Gemeinde zusammen: ein Gott, ein Christus, eine Gemeinde steht über der Tür der klassizistischen Kirche. Aber das war kein Vorbild für den Rest Bremens, 1840 und 1845 gab es wieder einen Kirchenstreit. Das, was zur Zeit von Daniel von Büren begonnen hatte, dieser Streit zwischen Reformierten und Lutheranern, geht durch Jahrhunderte weiter. Niemand ist dabei bedächtig. Bei der Gründung der Bundesrepublik wird man deshalb die Bremer Klausel ins Grundgesetz schreiben, damit es einen bekenntnisfreien Religionsunterricht geben kann. 

Der Wappenstein mit dem Bremen wes ghedechtich  late neict mer in dv beist öhrer mechtich anno domini 1562 ist heute im Focke Museum zu sehen. Repliken davon sind an einigen Bremer Schulen angebracht. Es gibt beim Bremer Weser Kurier auf der Seite WK Geschichte eine interessante Seite zu dem Wappenstein. Das war früher der Blog Bremen History, der leider eingegangen ist, aber jetzt beim Weser Kurier eine neue Heimat gefunden hat.

Lesen Sie auch: Bremer Klausel, Reformationstag, Glasfenster, Pastoren

Mittwoch, 12. Februar 2025

Chronometer

Die Observatorien von Neuchâtel, Genf und Kew, die seit dem 18. Jahrhundert bestanden, haben neben dem Beobachten von Sternen auch Uhren getestet. Spätestens als John Harrison dem Board of Longitude die erste genaue Uhr der Welt lieferte (die Larcum Kendall nachbaute), wussten sie, dass sie in der Zukunft nicht nur Sterne beobachten würden. England brauchte genau gehende Marinechronometer, um die Seeherrschaft zu gewinnen. Das Britannia rule the waves verdankt England seinen Uhrmachern. Zuerst kamen nur Taschenuhren zur Prüfung, die als Marinechronometer bei der Flotte Einsatz fanden. Die hatten noch keine Ankerhemmung, die die Uhren heute haben, die hatten eine Chronometerhemmung. Wie diese Hemmung funktioniert, können Sie hier im Modell sehen. Nach den Uhren mit Chronometerhemmung kamen die sogenannten Halb-Chronometer. Das waren Uhren mit Schweizer Ankerhemmung und einer sehr großen Kompensationsunruhe, die in verschiedenen Lagen feingestellt waren. Der Begriff half-chronometer taucht in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf.

In Deutschland wurden die Marinechronometer bei der 1874 gegründeten Deutschen Seewarte in Hamburg geprüft. Hier lieferten die Chronometermacher aus →Hamburg, →Glashütte und →Kiel ihre Uhren zur Prüfung an. Was die Firmen für die Prüfung einreichten, sah häufig nicht wie eine normale Uhr aus. Dies ist ein Movado Marinechronometer, der 1927 die höchste Genauigkeit erreichte. Werte, die meine beiden Movados nie erreichen werden, weder die 28-steinige Kingmatic noch der goldene alte Movado Celestograph.

Die Prüfung für Armbanduhren war für die Sternwarten lange Zeit kein Thema. Zwar ließen seit den 1920er Jahren immer wieder einzelne Hersteller, wie zum Beispiel Rolex, Einzelstücke und kleine Mengen von Uhren zu Werbezwecken testen, aber die umkämpften jährlichen Genauigkeitswettbewerbe in Neuchâtel begannen erst 1945. Zu diesen Wettbewerben reichten die Firmen nur kleine Zahlen von Uhren ein, häufig immer wieder dasselbe Werk. Max Studer, der Regleur und Technische Direktor von Patek, hat diese Uhren einmal als hochgezüchtete Formel 1 Renner bezeichnet. Das war die große Zeit von Omega mit ihrem Omega 30 T2 und Zenith mit dem Kaliber 135, die belegten immer die ersten Plätze. Rolex war da nie zu sehen, Hans Wilsdorf war beleidigt und stieg aus den Wettbewerben aus. Sagte, dass er nur noch in Kew prüfen lassen würde. Solche in Kew geprüfte Uhren hat es zwar gegeben, aber es waren in den meisten Fällen Einzelstücke.

Die Wettbewerbe in Neuchâtel fanden 1968, kaum dass sie bgonnen hatten, ein Ende, niemand weiß so Recht warum. Es wurde geargwöhnt, dass die Schweiz befürchtete, dass Seiko, die ab 1963 an den Wettbewerben teilnahmen, die ersten Plätze einnehmen würde. 1965 hatten drei Seiko Werke den Titel Chronometer bekommen, es reichte nur für den 114. Rang. Allerdings konnte Daini Seikosha einen sechsten Platz in der Gesamtwertung aller Hersteller erringen. 1966 qualifizierten sich 32 Seiko Werke, von denen das beste auf Rang neun kam. Daini Seikosha belegte in der Herstellerwertung den dritten Platz. Ein Jahr später waren Daini Seikosha und Suwa Seikosha mit ihren Uhren auf den Plätzen zwei und drei. Dass sich die Schweiz jetzt vor den Japanern fürchtete, was nur berechtigt. Aber wahrscheinlich lag der Abbruch an einem anderen Grund. Und das waren die Quarzuhren, die man zugelassen hatte, die natürlich jeden mechanischen Chronometer schlagen würden. Einen solchen Wettbewerb führen zu wollen, hieße Äpfel mit Birnen zu vergleichen.
 
Die Japaner reisten nicht ab, sie glaubten an das per aspera ad astra. Und wechselten von Neuchâtel nach Genf, wo immer noch Chronometerwettbewerbe stattfanden. Die eigentlich nur für in Genf ansässige Firmen vorgesehen waren. Die kleine Sternwarte auf dem Rücken der Omega Constellation zeigt die Genfer Sternwarte, weil Omega damals eine Niederlassung in Genf hatte. Deshalb konnten sie auch eine Modell Geneve herausbringen. Wie Seiko es geschafft hat, in Genf zugelassen zu werden, weiß ich nicht. Aber der Wechsel von Neuchâtel nach Genf war eine gute Entscheidung, denn die Uhrmacherin Kyoko Nakayama wurde für das Werk, das sie einreguliert hatte, ausgezeichnet. Sie war die erste Frau, die an einem Schweizer Observatorium eine solche Auszeichnung erhalten hatte. Es war bisher eine Männerwelt gewesen, in der Regleure wie Alfred Jaccard (Omega), Ephrem Jobin (Zenith) und André Zibach  (Patek) einen Starstatus hatten. Nun sind auch Frauen dabei. Das japanische Arbeitsministerium verlieh Kyoko Nakayama 1971 den Titel Great Craftsperson in the Present World. Ihre Firma schenkte ihr eine Grand Seiko 62GS. Das fünfeckige Kaliber R-67 Uhrwerk, das sie 1968 einreguliert hatte, und all ihre Werkzeuge, mit denen sie gearbeitet hatte, sind heute im Seiko Museum zu besichtigen.

1968 war auch ein gutes Jahr für Daini Seikosha, die ihr neu entwickeltes Handaufzugswerk Kaliber 4500 (ein Verwandter des Kalibers 54 der Cronos) nach Genf brachten. Zwar erreichte ein Drittel der Uhren nicht die Bedingungen, aber der Rest bekam ein Zertifikat. Die Uhren wurden in Japan in Goldgehäuse eingeschalt und hatten Astronomical Chronometer Officially Certified auf dem Zifferblatt. Astronomisch war auch ihr Preis, die Uhren kosteten ein Mehrfaches einer Grand Seiko. Das Wort astronomisch stand deshalb auf der Uhr, weil Neuchâtel damals den Namen Observatoire Astronomique et Chronometrique de Neuchâtel führte. Die Uhren, die die Chronometernorm verfehlten, waren allerdings in Japan in hauseigenen Tests genau gegangen. Was war passiert? Wahrscheinlich hatten sich auf der langen Flugreise die Unruhspiralen magnetisiert, dieses Risiko bestand sogar bei Nivarox Spiralen immer. Bei den neuen Nivachron Spiralen soll eine Magnetisierung ausgeschlossen sein. 

In dem Konkurrenzkampf der Seiko Töchter hatte jetzt Daini Seikosha die Nase vorn. Das begann mit der King Seiko 44-9990, die viele Sammler heute für die schönste und beste Seiko halten. Daini nahm dieses Werk als Basis und erhöhte die Zahl der Halbschwingungen der Unruhe auf 36.000. Normalerweise haben Schnellschwinger eine ganz kleine Unruhe, aber Daini behielt die Größe der Unruhe des Kalibers 44 bei und setzte stattdessen auf eine enorm starke Feder. Fachleute empfehlen dem Sammler daher, die Uhr nicht ganz aufzuziehen. Bei Schnellschwingern, die mit einem speziellen Öl versehen sind, besteht immer die Gefahr, dass die Federkraft Zacken aus den Zahnrädern heraushaut.

Daini Seikosha baute dieses Werk von 1968 bis 1974, es war das letzte Handaufzugswerk der Firma. Es war auch das letzte Werk der Firma, das von Hand gebaut worden war, danach kam die Automatisierung der Herstellung. Das Werk fand sich nicht nur in der King Seiko, sondern auch in der Grand Seiko 45GS. Das Werk gab es in verschiedenen Qualitätsstufen, manche hatten Chronometer oder VFA (Very Fine Adjusted) auf dem Zifferblatt. Da, wo Chronometer draufsteht, ist nach fünfzig Jahren auch noch Chronometer drin. Meine 45KS, die hier schon im Januar auftaucht, würde heute noch so ein Bulletin de Marche bekommen.

Ich sah die Uhr bei kleinanzeigen, wo sich manchmal interessante Uhren finden. Der Preis für die wirklich seltene Uhr war fair, aber ich wollte sie nicht kaufen. Ich schrieb aber den Verkäufer an und gab ihm die Adresse meines Uhrenblogs, in dem schon viele Seikos waren. Der Blog gefiel ihm, und wir kamen ins Gespräch. Ich wollte den Seiko Chronometer immer noch nicht kaufen, er war teurer als mein Zenith Chronometer oder der Eterna Chronometer. Ich hatte mir eine Obergrenze gesetzt, und ich wollte ja auch keine Uhren mehr kaufen. Der nette Verkäufer sah mein Dilemma. Und er machte etwas Erstaunliches, er setzte den Preis, der eigentlich schon viel zu niedrig für diese Seiko in einem erstklassigen Zustand war, noch einmal herunter.

Den Preis hätte er niemand anderem gemacht, aber nachdem er sich durch den halben Uhrenblog gelesen und auch SILVAE nicht ausgelassen hatte, wusste er, dass sie Uhr in guten Händen war. Das mit den guten Händen sagen sie bei dem blöden Horst Lichter auch immer, und wir wissen, dass es eine Lügenfloskel ist. Nirgends wird über Uhren so gelogen und soviel Unsinn erzählt wie bei Lichter. Die 45KS hat natürlich noch ein Goldplättchen auf dem Boden, manche von den späteren 45KS haben das nicht mehr. Die Uhr ist jetzt an einem hellgrünen Krokoband von Cornelius Kaufmann, das habe ich mal billig vor Jahrzehnten von einem Händler bekommen. Bei dem Preis, den ich damals für eine Handvoll Bänder der Premium Kollektion (Swiss Made) bezahlt habe, vermute ich immer noch, dass die von einem Lastwagen gefallen waren. Ich bin dem Marcel dankbar, dass ich diese Uhr gekriegt habe, die es außerhalb Japans kaum geben wird. Er ist schon ein klein wenig traurig, dass er die Uhr verkauft hat, aber es tröstet ihn, dass sie jetzt wirklich in guten Händen ist. 

Samstag, 8. Februar 2025

Schwarz-Weiß-Film


Vor hundertzwanzig Jahren war Thomas Dixon, Jr. in Amerika ein berühmter Mann. Er war der bekannteste Baptistenprediger des amerikanischen Südens, und auch im Norden bewunderte man seine rhetorische Begabung: He can whirl words and ideas at an audience as few men can ... He spoke on the 'New America' before an audience that nearly filled the opera house. The people held their breath and listened, they clapped their hands, they laughed and sometimes some of them cried a little, and when the lecturer ... after a magnificent close, bowed himself off the platform, they felt wronged that they had paid fifty cents apiece to hear so short an address; then they looked at their watches to find that they had been listening two hours. Heute kennt ihn, wie man umgangssprachlich so schön sagt, kein Schwein mehr. Und diejenigen, die mit dem Namen etwas anfangen können, haben nur Spott und Verachtung für den Rassisten aus dem Süden übrig.

Als ihm die Wake Forest University einen Ehrendoktortitel verleihen wollte, hat er das abgelehnt und stattdessen einen Freund aus seinen Studientagen an der Johns Hopkins Universität vorgeschlagen. Den Namen Woodrow Wilson hatte damals noch niemand gehört. Dem wird Dixon später auch seinen Roman The Southener widmen: dedicated to our first southern-born President since Lincoln, my friend and collegemate Woodrow Wilson. Es ist für ihn wichtig, dass Wilson aus dem Süden kommt, denn Thomas Dixon ist auf der Welt, um die Ehre des Südens zu retten. Die Ehre des Süden basiert nach Mark Twain auf exzessiver Lektüre von Sir Walter Scott. Für Dixon ist die Ideologie des Lost Cause zur Religion geworden. Wir sollten vielleicht noch erwähnen, dass sein Vater Sklavenhalter und Ku Klux Klan Mitglied war.

Als er noch Prediger war, hatte er einmal Uncle Tom's Cabin auf einer Bühne gesehen. Für ihn war das eine Beleidigung des Südens: Finally, when the performance was over, he rose with tears in his eyes and vowed bitterly that he would someday tell the 'true story' of the South. Die einzig wahre Geschichte des amerikanischen Südens steht nach Meinung von Dixon, der im vorletzten Jahr des Bürgerkrieges geboren wurde, in seiner Trilogie von Romanen. Die The Leopard's SpotsThe Clansman und The Traitor heißen. Amazon bietet die drei Romane heute als The Reconstruction Trilogy an, das klingt unverfänglich. Der Titel von The Leopard's Spots bezieht sich auf Jeremiah 13:23: Can the Ethiopian change his skin, or the leopard his spots? then may ye also do good, that are accustomed to do evil. Und für Dixon bedeutet das - und das ist die Botschaft des Baptistenpredigers und seine true story of the South - dass alle Schwarzen Untermenschen sind: .. no amount of education of any kind, industrial, classical or religious, can make a Negro a white man or bridge the chasm of centuries which separate him from the white man in the evolution of human nature.

Wir lassen solch rassistischen Aussagen einmal unkommentiert, sie würden wahrscheinlich auch noch heute in manchen Teilen Amerikas auf Zustimmung stoßen. Ich bleibe mal einen Augenblick bei dem Romanautor Dixon. Der gar kein wirklicher Romanautor sein will, das Schreiben von Romanen ist für ihn nur ein Vehikel, um seine Botschaft ans Volk zu bringen. I have made no effort to write literature. I had no ambitions to shine as a literary gymnast. My sole purpose in writing was to reach and influence the minds of millions. I had a message and I wrote it as vividly and simply as I could. Millionen von Amerikanern werden Dixon lesen, The Clansman kann man heute noch kaufen oder hier beim Project Gutenberg (die auch noch andere Werke von Dixon gespeichert haben) lesen. Nicht, dass es sich lohnen würde, das zu tun. Viele von den Bestsellern dieser Zeit sind heute zu Recht vergessen. Owen Wisters The Virginian, der Teddy Roosevelt gewidmet war, hat überlebt. Edith Whartons The House of Mirth auch. Wie eben erstaunlicherweise auch The Clansman, das Dixon seinem Onkel gewidmet hatte: My Uncle, Colonel Leroy Mcafee Grand Titan of the Invisible Empire Ku Klux Klan.

Ich hätte darauf verzichten können, Thomas Dixon aus seiner literarischen Gruft hervorzuholen, wenn nicht heute vor einhundertzehn Jahren der Film The Birth of a Nation von David Wark Griffith in Los Angeles vor 2.500 Zuschauern aufgeführt worden wäre. Der Film sollte zuerst The Clansman heißen, weil Dixons Roman die Basis für den Film war. Der, so ideologisch katastrophal wie er ist, eines der größten Filmkunstwerke des 20. Jahrhunderts ist. He achieved what no other known man has achieved. To watch his work is like being witness to the beginning of melody, or the first conscious use of the lever or the wheel; the emergence, coordination and first eloquence of language; the birth of an art: and to realize that this is all the work of one man, hat James Agee nach dem Tod von Griffith 1948 in The Nation geschrieben. 1992 entschied die Library of Congress, dass der Film culturally, historically, or aesthetically significant sei und nahm ihn in die National Film Registry auf. 

Der dreistündige Film war der erste Blockbuster Hollywoods und der erste Film, der im Weißen Haus gezeigt wurde. Für den Präsidenten Woodrow Wilson (dem sein Freund Thomas Dixon diese Aufführung vermittelt hatte) war es like writing history with lightning. Es ist aber etwas umstritten, ob er das wirklich gesagt hat. Für einen Teenie aus Atlanta namens Margaret Mitchell war der Film die Keimzelle für ihren Roman Gone with the Wind. Der Film wurde umgehend in einzelnen Bundesstaaten der USA verboten. Und der Regisseur David Wark Griffith nahm sich die Proteste so zu Herzen, dass er sofort den Film Intolerance drehte. 

Der Regisseur David Wark Griffith kam wie Thomas Dixon aus dem Süden, sein Vater war Colonel in der Südstaatenarmee gewesen, ein paar Sklaven hatte die Familie auch gehabt. Griffith konnte sich noch an einige erinnern. Aber die Familie ist arm, der Ex-Colonel ist ein Säufer. Die Familie Griffith ist das, was man bösartig als poor white trash bezeichnet. Teile von dem, was ideologisch im Kopf von Dixon vorging, wird Griffith auch im Kopf gehabt haben. Also, diese Sache mit dem lost cause des Südens. Den Bestseller der Südstaaten When Knighthood Was in Flower hatte Griffith auch schon in einem Kurzfilm verarbeitet. Dass er mit The Birth of a Nation, den er in vier Monaten gedreht hatte, Ärger haben würde, wusste Griffith. Verschiedene Versionen des Films zeigten am Anfang eine Tafel mit diesem Text: A plea for the Art of the Motion Picture: We do not fear censorship, for we have no wish to offend with improprieties or obscenities, but we do demand, as a right, the liberty to show the dark side of wrong, that we may illuminate the bright side of virtue—the same liberty that is conceded to the art of the written word—that art to which we owe the Bible and the works of Shakespeare and if in this work we have conveyed to the mind the ravages of war to the end that war may be held in abhorrence, this effort will not have been in vain.

Der Literaturkritiker Leslie A. Fiedler hat in seinem Buch The Inadvertent Epic (1979) Thomas Dixon in einen größeren Zusammenhang gestellt. Für Fiedler sind die Romane Dixons Teil eines nationalen Epos: understood as a single work, composed over more than a century, in many media, and by many hands, these constitute a hitherto unperceived Popular Epic. Die anderen Bestandteile dieses synthetischen Epos sind neben Dixons Romanen und Griffith' Film, Harriet Beecher Stowes Uncle Tom's Cabin, Margaret Mitchell Gone with the Wind und Alex Haleys Roots und die gleichnamige Fernsehserie. Dieser originelle Gedanke ist von Fiedler in den prestigeträchtigen Massey Lectures vorgetragen worden, und Fiedler zeigt sich hier als the wild man of American literary criticism wieder einmal von seiner besten Seite. Ich habe Thomas Dixon gelesen, ich würde es kein zweites Mal tun. Den Film von Griffith (der auf DVD erreichbar ist) würde ich mir aber jederzeit wieder ansehen. Schauen Sie sich hier einmal den Film an, das ist aufregendes Kino, wenn man bedenkt, dass The Birth of a Nation hundertzehn Jahre alt ist. In dem Film ist alles drin, die Schlacht von Gettysburg, die Kapitulation von General Lee und die Ermordung von Präsident Lincoln. Und die bösartigen Schwarzen sind alle schwarz angemalte weiße Schauspieler.

Woodrow Wilson, der erste amerikanische Präsident, der The Birth of a Nation im Weißen Haus sah, äußerte sich sein Leben lang rassistisch über Schwarze. Als Präsident von Princeton sorgte er dafür, dass kein farbiger Student einen Studienplatz bekam. Als Präsident der USA sorgte er dafür, dass kein Farbiger einen Spitzenjob in der Verwaltung erhielt. Rassentrennung und die Verbreitung des Mythos vom lost cause waren das größte Ziel des ersten Präsidenten aus den Südstaaten seit dem Bürgerkrieg. In seinem Buch A History of the American People fand er großes Verständnis für den Ku Klux Klan: The white men of the South were aroused by the mere instinct of self-preservation to rid themselves, by fair means or foul, of the intolerable burden of governments sustained by the votes of ignorant negroes and conducted in the interest of adventurers; (…) Every country-side wished to have its own Ku Klux, founded in secrecy and mystery like the mother ‘Den’ at Pulaski, until at last there had sprung into existence a great Ku Klux Klan, an ‘Invisible Empire of the South’, bound together in loose organization to protect the southern country from some of the ugliest hazards of a time of revolution. Solche Zitate sind als Bildtafeln in den Film hineingewandert. Das sind natürlich Sätze, die Griffith gefallen haben, der über seinen Film sagte: ... the Civil War was fought fifty years ago. But the real nation has only existed in the last fifteen or twenty years . . . The birth of a nation began . . . with the Ku Klux Klan, and we have shown that. Auf jeden Fall. Der Ku Klux Klan, den man schon vergessen glaubte, bekam nach dem Film neue Konjunktur. Der Rassenhass auch.

A Hundred Years Later, 'The Birth of a Nation' Hasn’t Gone Away betitelte 2015 die Historikerin Allyson Hobbs ihren kurzen Artikel im New Yorker. Nein, der Film geht nicht weg. Da kann man mit Lady Macbeth ausrufen: Out, damned spot! Out, I say! Was Allyson Hobbs nicht im Traum eingefallen wäre, ist die Tatsache, dass Donald Trump, gerade wenige Monate im Amt, den Film am Osterfest 2017 vor dem Weißen Haus gezeigt hat. Und dazu gesagt hat: It is a great film about our great country. It’s a great way to celebrate our Christian heritage. Was der erste Satz mit dem zweiten zu tun hat, weiß ich wirklich nicht. Über den rassistischen  Präsidenten, der diesen Film 1915 im Weißen Haus zu sehen bekam, sagte Trump: Wilson was a winner, and when he was president America was winning. And I’m a winner too, so now that I’m president we will win again too. Bigly. Und über den rassistischen Inhalt des Films hatte Trump auch etwas zu sagen: I am the least racist person there is. Nobody respects minorities more than me. Wer würde ihm widersprechen?