Montag, 6. Januar 2025

Studienfreunde

Je älter man wird, desto mehr Freunde und Bekannte muss man im Adressbuch streichen. Nun ist gerade der Ahab im Alter von dreiundachtzig Jahren gestorben. Den Namen Ahab hatte er von uns bekommen, weil er an einer Doktorarbeit über Melvilles Kapitän Ahab arbeitete. Er nannte mich nicht Jay, wie mich die Fußballmannschaft des Seminars nannte, er nannte mich Doktor. Weil ich so gelehrt war. In meinem Wohnzimmer ist etwas, was mich jeden Tag an ihn erinnert: selbstgebaute Bücherregale, System Ahab. Spanplatte, fünfzig mal fünfzig, gut verleimt und dann sorgfältig weiß lackiert. Wenn man sie fachgerecht baute, konnte man sie stapeln, bei mir nehmen sie eine ganze Wand ein. Er hat mir auf seinem Dachboden beigebracht, wie man sie ordentlich baute, sein Kistensystem steht schon in dem Post Books Do Furnish a Room

Er konnte nicht nur Bücherkisten bauen, er war ein sehr guter Philologe. Neben dem großen Latinum hatte er noch das Graecum, weil er auch Theologie studierte. Als er die Nazivergangenheit eines Theologieprofessors öffentlich beklagt hatte, schrieb der ihm in einem Brief: Sie sind nie mein Schüler gewesen. Mit Ausrufezeichen. Ich sagte ihm: Ahab, lass Dir diesen Satz einrahmen. Er hatte riesige Mengen von Zettelkästen, in denen er auf DIN A 6 Karten alles über Melville und Moby-Dick sammelte. So etwas tat man in den Tagen vor dem Computer. Meine Zettelkästen aus dem Fach Kunstgeschichte habe ich immer noch. Seine etwas monomanische Beschäftigung mit Kapitän Ahab mündete 1972 in seiner Doktorarbeit Melvilles Ahab und das Problem des Bösen, gesehen im Kontext des Gesamtwerks und im Lichte der Forschung

Doch in seinen Zettelkästen war noch viel, viel mehr gewesen, schließlich hatte er jahrelang die Fernleihe der Universitätsbibliothek damit beschäftigt, ihm alles aus Amerika zu beschaffen, was dort über Melville geschrieben worden war. Und so konnte er 1974 in der renommierten Reihe Wege der Forschung der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft den Band Herman Melville präsentieren, in dem auf 540 Seiten alles Wichtige stand, was die Forschung damals über Melville wusste. Da stand neben seinem Namen Hartmut Krüger noch der Name Paul G. Buchloh auf dem Buch, aber außer dem Namen hatte der Professor für dieses Buch nichts beigetragen. Das war für uns damals in den 68er Tagen immer so, wir fingen als Ghostwriter an.

Wir waren Studienfreunde, aber wir konnten unterschiedlicher nicht sein. Ich war beim Heer gewesen, er bei der Luftwaffe. Ich war in der Fußballmannschaft des Seminars, er trieb keinen Sport. Ich war auf jeder Demo, er war da selten zu sehen. Ich hatte immer kleine Liebesaffären (die Sie aus diesem Blog schon kennen), er lebte weitgehend als Junggeselle. Aber uns einte, dass wir Pfeife rauchten und Kunden von Trennt waren. Und dass wir diese unbedingte Liebe zur Literatur hatten. Und nach neuen Wegen der Interpretation suchten. Man muss die Interpretation von Texten auf eine philosophische Basis stellen, sagte Ahab im Colloquium und warf das schicksalsschwere Wort Hermeneutik in den Raum. Das erschütterte den Professor, der in den Semesterferien Das Kapital von Karl Marx gelesen hatte, um gegen die revoltierenden Studenten gewappnet zu sein. Nun auch noch Hermeneutik? Aber er war aufgeschlossen gegenüber allem Neuen, erst Marshall McLuhan, jetzt Hermeneutik. Er holte sich den Theologieprofessor Heinrich Kraft mit ins Boot, der ein besserer Philologe war als er, und machte ein Wochenendseminar fernab von der Uni. 

Während Ahab noch mit Heinrich Kraft und Peter Freese diskutierte, wanderten Georg und ich über den zugefrorenen und verschneiten Mözener See. Georg trug trotz der Kälte nur ein englisches Tweedjackett über seinem Rollkragenpullover, er ist ein halber Engländer, die sind zäh. Wir redeten über Gott und die Welt. Die Tagung war sicher auf einem hohen philosophischen und theologischen Niveau, aber unser Spaziergang in der Kälte angesichts der erhabenen weißgestrichenen Natur bleibt mir unvergesslich. Man brauchte solche Sachen, um der hochgeistigen Atmosphäre zu entkommen. In der Nacht zuvor hatten wir unter der Leitung von Noli Köhnke alle Strophen von Lily the Pink in den Duschräumen gesungen. Auch das musste sein, nur Hermeneutik geht nicht.

Ahab hatte irgendwann seine Zurückhaltung gegenüber dem weiblichen Geschlecht aufgegeben, war sich aber nicht sicher, ob das mit seiner neuesten Zufallsbekanntschaft etwas werden würde. Er fing eine lange Diskussion mit mir darüber an, in langen Diskussionen war er gut. Das haben Theologen gelernt. Ich hörte mir das eine Stunde mehr oder weniger schweigend an. Stand dann auf und sagte: Ich bin kein Fachmann, die Gudrun hat mich gerade verlassen und ist mit einem Typ nach Mexiko. Aber wenn Du diese hübsche und nette Frau nicht behältst, bist Du total bescheuert. Etwas Besseres bekommt Du in Deinem Leben wahrscheinlich nicht. Er hat auf mich gehört, es wurde eine glückliche Ehe.

Er war Lehrer geworden wie beinahe alle meine Studienfreunde. Der Noli aus unserer Clique, mit dem Ahab und ich diesen furchtbaren österreichischen Stroh Rum tranken, wurde noch Direktor eines Gymnasiums. Die Gila, mit der ich in einer ganz anderen lebenslustigeren Clique zusammen war, auch. Ahab hatte sich in seinem Heimatort eine kleine heruntergekommene Villa gekauft und die in jahrzehntelanger Arbeit liebevoll restauriert. Er hat sie vor Jahren verkauft und zog in ein Haus auf dem Barockgut Lebrade. Wahrscheinlich, um den Pferden näher zu sein. Er rief mich an, weil er wusste, dass ich alles über die englische Herrenmode weiß, um mich nach der korrekten Kleidung beim Fahrsport zu fragen. Trage das, was Prince Philip trägt, sagte ich ihm, dann machst Du keinen Fehler. Der Philip war ja im Alter auch dem Kutschensport verfallen. 

Auf seiner Todesanzeige in der Zeitung steht das schöne Wort von Augustinus: Du hast uns zu dir geschaffen, Herr, und unser Herz ist unruhig, bis es ruht in dir. Seine Familie hätte ja auch ein Zitat aus Melvilles Moby-Dick nehmen können. So etwas wie I know not all that may be coming, but be it what it will, I'll go to it laughing.

Samstag, 4. Januar 2025

das Thomas Mann Jahr


Kaum ist das Caspar David Friedrich Jahr zuende, da haben wir ein Thomas Mann Jahr. Sagt uns die Thomas Mann Gesellschaft. Die haben für das Ereignis extra eine Seite eingerichtet. Jubiläen und kein Ende: Jedes Jahr gibt es Geburts- und Todestage bedeutender Menschen der Geschichte zu begehen. Was feiern wir da eigentlich? Geht uns der 6. Juni 1875, an dem Thomas Mann geboren wurde, heute noch etwas an? fragt sich Marie Schmidt in der Süddeutschen. Die Antwort auf diese Frage erfahren wir leider nicht, da müssten wir die Süddeutsche schon abonnieren. Muss man Thomas Mann neu entdecken? Es ist doch schon alles gesagt, die Sekundärliteratur zu seinem Werk ist kilometerlang. Die Bibliographie Fifty Years of Thomas Mann Studies enthielt 1955 schon 217 Seiten. Zu seinem hundertsten Geburtstag soll die Zahl der Publikationen angeblich schon auf 20.000 Titel angewachsen zu sein.

Wir wissen beinahe alles über Manns Leben. Nicht nur weil Heinrich Breloer den dreiteiligen Film ✺Die Manns – Ein Jahrhundertroman (ich habe hier den ersten Teil für Sie) gedreht hat, nein, es gibt genügend Biographien. Arthur Eloesser schrieb 1925 die erste zum fünfzigsten Geburtstag des Schriftstellers, Klaus Harpprecht schrieb siebzig Jahre später eine Monsterbiographie von 2.253 Seiten. Dazu hat der NDR im selben Jahr eine ✺Doku gesendet. Zu dem Zeitpunkt gab es schon die zweiteilige Biographie von Peter de Mendelssohn Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann (zum hundertsten Geburtstag Thomas Manns 1975) und Jahre der Schwebe (nach dem Tod von de Mendelsohn 1992).

Niemand von uns weiß, wie, in welchem Rang er vor der Nachwelt stehen, vor der Zeit bestehen wird. Wenn ich einen Wunsch für den Nachruhm meines Werkes habe, so ist es der, man möge davon sagen, daß es lebensfreundlich ist, obwohl es vom Tode weiß, hat Thomas Mann an seinem fünfzigsten Geburtstag gesagt. Da hatte er gerade den Zauberberg veröffentlicht, er wusste, was er geschrieben hatte. Der Drang nach eigener Größe war in seinen Stil gewandert. Den Nobelpreis, der für seinen Nachruhm sorgt, wird er vier Jahre später erhalten. 

Geht uns der 6. Juni 1875, an dem Thomas Mann geboren wurde, heute noch etwas an? Noch einmal diese Frage. Meine Antwort ist, dass ich es nicht weiß. Im Caspar David Friedrich Jubiläumsjahr habe ich zehn Mal über den Maler geschrieben, über Thomas Mann werde ich in diesem Jahr bestimmt nichts schreiben. Ich habe fünf Biographien über ihn gelesen, aber er bleibt mir fremd. Es fällt mir schwer, ein Werk von Thomas Mann zum zweiten Mal zu lesen. Das ist bei Theodor Fontane, von dem der junge Lübecker so viel gelernt hat, ganz anders. Den kann ich immer wieder lesen. Das manierierte Werk von Thomas Mann, das immer bedeutender sein will, als es ist, überpudert mit ein wenig Ironie, brauche ich nicht unbedingt. Zugegeben, ich habe große Teile des Zauberberg noch einmal gelesen, als ich Magic Mountain schrieb. Aber man liest Thomas Mann beim zweiten Mal nicht mehr mit dem Vergnügen, das man beim Wiederlesen von Proust oder Joseph Conrad empfindet. Oder Tolstoi. Weil ich ja jetzt Krieg und Frieden zum dritten Mal lese.


Der Zweitausendeins Verlag schrieb vor Tagen in einer Merkmail (ein sonderbares Wort): In zwei Tagen beginnt das Thomas Mann-Jahr 2025, und es gibt wohl kaum eine gelungenere Einstimmung, als sich gemeinsam mit anderen Literaturbegeisterten eine der großen Verfilmungen von Werken des Zauberers anzuschauen. Die neu zusammengestellte Box Thomas Mann Jahrhundert-Edition bietet auf 19 DVDs das perfekte Angebot dafür. Die 'Buddenbrooks' sind mit gleich zwei Verfilmungen vertreten, natürlich 'Der Zauberberg', 'Doktor Faustus' und 'Felix Krull', aber auch Verfilmungen von Novellen wie 'Wälsungenblut' und 'Unordnung und frühes Leid'. Als Neuerscheinung frisch bei uns eingetroffen. Das Ganze kostet im Jubeljahr statt 149,99 € nur noch 89,99 €. 

Als ich noch an der Uni war, habe ich mich längere Zeit mit dem Problem der Literaturverfilmung beschäftigt. Sie könnten dazu jetzt den Post The Go-Between lesen, der ist nicht original für diesen Blog geschrieben; der stand schon mal in einem Buch, in dem es um dieses Thema ging. Die Anpreisung des Zweitausendeins Verlags, es gibt wohl kaum eine gelungenere Einstimmung, als sich gemeinsam mit anderen Literaturbegeisterten eine der großen Verfilmungen von Werken des Zauberers anzuschauen, würde ich als Literaturwissenschaftler (der ich einmal war) und als Filmkritiker (der ich immer noch bin) nicht unterschreiben. Das Photo hier stammt aus der ersten Buddenbrooks Verfilmung aus dem Jahre 1923. Sie hat Thomas Mann nicht gefallen: strohdummes und sentimentales Kino-Drama hat er sie genannt. Wenn Sie diesen Film einmal sehen wollen, dann klicken Sie ✺hier den über hundert Jahre alten Film an.

Wenn dies ein strohdummes und sentimentales Kino-Drama ist, dann ist vieles von dem perfekten Angebot der 19 DVD Cassette nicht viel besser. ✺Wälsungenblut (hier ein Filmphoto) fiele mir als erstes ein. Der Spiegel schrieb damals dazu: Aus zwei Novellen des Nobelpreis-Dichters und Dekadenz-Spezialisten Thomas Mann destillierte der Cheferotiker des deutschen Kinos, Rolf Thiele, die Story für den 1,2-Millionen-Film. Die Zwillinge Siegmund und Sieglinde (Michael Maien und Elena Nathanael), in mehr als geschwisterlicher Zuneigung und Zärtlichkeit einander zugetan, imitieren auf einem großen Eisbärfell den Inzest, den sie in Wagners 'Walküre' mit angesehen hatten

Das Beste, das man mit der neu zusammengestellte Box Thomas Mann Jahrhundert-Edition machen kann, ist, sie nicht zu kaufen.Verzichten Sie auf deutsche Stars der Nachriegszeit wie Dieter Borsche, Ruth Leuwerik, Horst Buchholz, Liselotte Pulver, Lil Dagover, Werner Hinz, Hansjörg Felmy und Nadja Tiller. Kaufen Sie sich eine DVD von Luchino Viscontis Verfilmung von Tod in Venedig, oder sehen Sie den Film ✺hier an.

Thomas Mann liebte das Kino: Ich besuche sehr häufig Filmhäuser und werde des musikalisch gewürzten Schauvergnügens stundenlang nicht müde. Vor vierzig Jahren hat mir Fritz Güttinger erzählt, dass Kafka im Kino geweint hat, und dass Thomas Mann Bambi zweimal gesehen hat. Mit großer Rührung. Damals hatte Güttinger gerade die beiden Bände Der Stummfilm im Zitat der Zeit und Kein Tag ohne Kino für das Deutsche Filmmuseums fertiggestellt. Aus den beiden Bänden habe ich hier eine kleine Zitatsammlung.


In Lübeck wird es am 6. Juni 2025 einen Festakt geben. Bei mir gibt es im Thomas Mann Jahr gar nichts mehr zu ihm. Nur noch eine Auflistung der Posts, in denen er erwähnt wird: Magic Mountain, Gerhart Hauptmann, Fickfackerei, Dichtermode, Ralph Lauren Purple Label, Etikettenschwindel, Ungarn, Nidden, Friedenspfeife, Blauer Dunst, Wiesengrund, Rönnebeck, Manfred Hausmann, Frauen und Zigarren, Zauberberg, Joseph Conrad, Inseln und Badewannen, Segelboote, Lenbach, Rudolf Lorenzen, Theodor Storm, Søren Aabye Kierkegaard, Grand Hotel, Ernst Penzoldt, Wellen, Joachim Maass, Rudolf Sühnel und Eschi