Je älter man wird, desto mehr Freunde und Bekannte muss man im Adressbuch streichen. Nun ist gerade der Ahab im Alter von dreiundachtzig Jahren gestorben. Den Namen Ahab hatte er von uns bekommen, weil er an einer Doktorarbeit über Melvilles Kapitän Ahab arbeitete. Er nannte mich nicht Jay, wie mich die Fußballmannschaft des Seminars nannte, er nannte mich Doktor. Weil ich so gelehrt war. In meinem Wohnzimmer ist etwas, was mich jeden Tag an ihn erinnert: selbstgebaute Bücherregale, System Ahab. Spanplatte, fünfzig mal fünfzig, gut verleimt und dann sorgfältig weiß lackiert. Wenn man sie fachgerecht baute, konnte man sie stapeln, bei mir nehmen sie eine ganze Wand ein. Er hat mir auf seinem Dachboden beigebracht, wie man sie ordentlich baute, sein Kistensystem steht schon in dem Post Books Do Furnish a Room.
Er konnte nicht nur Bücherkisten bauen, er war ein sehr guter Philologe. Neben dem großen Latinum hatte er noch das Graecum, weil er auch Theologie studierte. Als er die Nazivergangenheit eines Theologieprofessors öffentlich beklagt hatte, schrieb der ihm in einem Brief: Sie sind nie mein Schüler gewesen. Mit Ausrufezeichen. Ich sagte ihm: Ahab, lass Dir diesen Satz einrahmen. Er hatte riesige Mengen von Zettelkästen, in denen er auf DIN A 6 Karten alles über Melville und Moby-Dick sammelte. So etwas tat man in den Tagen vor dem Computer. Meine Zettelkästen aus dem Fach Kunstgeschichte habe ich immer noch. Seine etwas monomanische Beschäftigung mit Kapitän Ahab mündete 1972 in seiner Doktorarbeit Melvilles Ahab und das Problem des Bösen, gesehen im Kontext des Gesamtwerks und im Lichte der Forschung.
Doch in seinen Zettelkästen war noch viel, viel mehr gewesen, schließlich hatte er jahrelang die Fernleihe der Universitätsbibliothek damit beschäftigt, ihm alles aus Amerika zu beschaffen, was dort über Melville geschrieben worden war. Und so konnte er 1974 in der renommierten Reihe Wege der Forschung der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft den Band Herman Melville präsentieren, in dem auf 540 Seiten alles Wichtige stand, was die Forschung damals über Melville wusste. Da stand neben seinem Namen Hartmut Krüger noch der Name Paul G. Buchloh auf dem Buch, aber außer dem Namen hatte der Professor für dieses Buch nichts beigetragen. Das war für uns damals in den 68er Tagen immer so, wir fingen als Ghostwriter an.
Wir waren Studienfreunde, aber wir konnten unterschiedlicher nicht sein. Ich war beim Heer gewesen, er bei der Luftwaffe. Ich war in der Fußballmannschaft des Seminars, er trieb keinen Sport. Ich war auf jeder Demo, er war da selten zu sehen. Ich hatte immer kleine Liebesaffären (die Sie aus diesem Blog schon kennen), er lebte weitgehend als Junggeselle. Aber uns einte, dass wir Pfeife rauchten und Kunden von Trennt waren. Und dass wir diese unbedingte Liebe zur Literatur hatten. Und nach neuen Wegen der Interpretation suchten. Man muss die Interpretation von Texten auf eine philosophische Basis stellen, sagte Ahab im Colloquium und warf das schicksalsschwere Wort Hermeneutik in den Raum. Das erschütterte den Professor, der in den Semesterferien Das Kapital von Karl Marx gelesen hatte, um gegen die revoltierenden Studenten gewappnet zu sein. Nun auch noch Hermeneutik? Aber er war aufgeschlossen gegenüber allem Neuen, erst Marshall McLuhan, jetzt Hermeneutik. Er holte sich den Theologieprofessor Heinrich Kraft mit ins Boot, der ein besserer Philologe war als er, und machte ein Wochenendseminar fernab von der Uni.
Während Ahab noch mit Heinrich Kraft und Peter Freese diskutierte, wanderten Georg und ich über den zugefrorenen und verschneiten Mözener See. Georg trug trotz der Kälte nur ein englisches Tweedjackett über seinem Rollkragenpullover, er ist ein halber Engländer, die sind zäh. Wir redeten über Gott und die Welt. Die Tagung war sicher auf einem hohen philosophischen und theologischen Niveau, aber unser Spaziergang in der Kälte angesichts der erhabenen weißgestrichenen Natur bleibt mir unvergesslich. Man brauchte solche Sachen, um der hochgeistigen Atmosphäre zu entkommen. In der Nacht zuvor hatten wir unter der Leitung von Noli Köhnke alle Strophen von ✺Lily the Pink in den Duschräumen gesungen. Auch das musste sein, nur Hermeneutik geht nicht.
Ahab hatte irgendwann seine Zurückhaltung gegenüber dem weiblichen Geschlecht aufgegeben, war sich aber nicht sicher, ob das mit seiner neuesten Zufallsbekanntschaft etwas werden würde. Er fing eine lange Diskussion mit mir darüber an, in langen Diskussionen war er gut. Das haben Theologen gelernt. Ich hörte mir das eine Stunde mehr oder weniger schweigend an. Stand dann auf und sagte: Ich bin kein Fachmann, die Gudrun hat mich gerade verlassen und ist mit einem Typ nach Mexiko. Aber wenn Du diese hübsche und nette Frau nicht behältst, bist Du total bescheuert. Etwas Besseres bekommt Du in Deinem Leben wahrscheinlich nicht. Er hat auf mich gehört, es wurde eine glückliche Ehe.
Er war Lehrer geworden wie beinahe alle meine Studienfreunde. Der Noli aus unserer Clique, mit dem Ahab und ich diesen furchtbaren österreichischen Stroh Rum tranken, wurde noch Direktor eines Gymnasiums. Die Gila, mit der ich in einer ganz anderen lebenslustigeren Clique zusammen war, auch. Ahab hatte sich in seinem Heimatort eine kleine heruntergekommene Villa gekauft und die in jahrzehntelanger Arbeit liebevoll restauriert. Er hat sie vor Jahren verkauft und zog in ein Haus auf dem Barockgut Lebrade. Wahrscheinlich, um den Pferden näher zu sein. Er rief mich an, weil er wusste, dass ich alles über die englische Herrenmode weiß, um mich nach der korrekten Kleidung beim Fahrsport zu fragen. Trage das, was Prince Philip trägt, sagte ich ihm, dann machst Du keinen Fehler. Der Philip war ja im Alter auch dem Kutschensport verfallen.
Auf seiner Todesanzeige in der Zeitung steht das schöne Wort von Augustinus: Du hast uns zu dir geschaffen, Herr, und unser Herz ist unruhig, bis es ruht in dir. Seine Familie hätte ja auch ein Zitat aus Melvilles Moby-Dick nehmen können. So etwas wie I know not all that may be coming, but be it what it will, I'll go to it laughing.